Thorsten Kleinschmidt, 13. April 2021
Kooperation oder Konflikt? Recht oder Macht? Dialog oder Druck? Zu welchen Mitteln soll deutsche Außenpolitik greifen, um welche Ziele anzustreben? Mit Zielen deutscher Außenpolitik haben wir uns schon beschäftigt („Mittellage“ – „Mittelmacht“ – „europäische Macht“). Anschließend haben wir ganz allgemein das Spannungsverhältnis zwischen Kooperationsidealen und Konfliktrealitäten zu beleuchten versucht („Recht des Stärkeren oder Stärke des Rechts?“ – „Hauptpunkte auf die Schnelle“). Was noch fehlt, ist die Schlussfolgerung, wie sich deutsche Außenpolitik denn nun zwischen Kooperation und Konflikt orientieren soll.
Dass eine Politik, die sich an den Grundsätzen „Viel Feind‘, viel Ehr“ oder „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“ orientiert, für Deutschland nicht taugt, ist nach zwei Weltkriegen unbestritten. Weder Wohlfahrt noch Humanität lassen sich herbeibomben, nicht einmal Sicherheit. Dieselben Weltkriege haben aber genauso gezeigt, dass eine schafsgeduldige Freundlichkeitspolitik kaum besser ist; wenn man es nämlich mit Regierungen zu tun hat, die einem aggressiven Machtkult huldigen. Jenseits aller Wolfs- und Schafsstrategien könnten wir es mit den folgenden zehn Orientierungsmarken versuchen.
- Deutschland sollte eine internationale Rechtsordnung anstreben, die auf das Prinzip friedlicher Zusammenarbeit in über- und zwischenstaatlichen Organisationen und Verhandlungsforen ausgerichtet ist.
Eine solche globale Kooperationsordnung folgt dem Gang der Weltvernunft und entspricht den Interessen eines Landes wie Deutschland, das als hochglobalisierte Handelsnation auf einem unruhigen Kontinent für internationale Krisen sehr anfällig ist, gleichzeitig aber nur über begrenzte eigene Machtressourcen verfügt. Sie entspricht auch unseren politischen Traditionen und Instinkten: Mit komplizierten föderalen oder konföderalen Mehrebenen-Politiksystemen, auf denen ständig Staatenkompromisse ausgehandelt werden müssen, haben wir tausend Jahre Erfahrung; militaristischer Nationalimperialismus hat uns in zwei Katastrophen geführt; und isolationistische Autarkie-Fantasien sind in der Mitte Europas noch nie ein überzeugendes Konzept gewesen.
Deutschland ist für eine solche Weltordnung bestens gerüstet. Wirtschaft und Kultur sind global ausgerichtet, Deutschland hat hervorragende Kontakte in alle Welt und ist in wichtigen Organisationen – EU, UN, NATO – fest verwurzelt.
- Deutsche Außenpolitik sollte deshalb möglichst im Rahmen solcher internationalen Organisationen und Verhandlungsforen handeln.
Vor allem eine funktionierende EU wäre für viele außenpolitische Probleme Deutschlands die bestmögliche Lösung.
- Wir dürfen uns allerdings nicht der Illusion hingeben, dass es immer möglich ist, im Rahmen internationaler Institutionen zu handeln.
• Es kann Politikblockaden geben und gleichzeitig Probleme, die keinen Aufschub dulden.
• Es kann Versuche anderer Staaten oder Politikakteure geben, die Arbeit internationaler Institutionen zu sabotieren.
• Es kann Probleme geben, für die sich keine Organisation für zuständig erklärt.
In solchen Fällen kann nationales Handeln geboten sein. Aber auch dann sollte Deutschland versuchen Koalitionen zu bilden – um effektiver zu sein, um keine unnötigen einzelgängerischen Präzedenzfälle zu schaffen, um kein Misstrauen zu erregen.
- Deutschland muss außerdem bewusst sein, dass auch das Wirken im multilateralen Rahmen den Einsatz von Macht erfordert.
„Dialog“ ohne Machteinsatz gibt es in der Politik nur als Propagandafloskel. Hier werden immer Interessen verhandelt, und da muss man seine Karten zu spielen wissen. Die an einem „Dialog“ Beteiligten wissen meist sehr genau, ob der andere noch etwas in der Hinterhand hat oder nicht, und kalkulieren dies bei Verhandlungen mit ein. Ein Politiker, der ohne Machtressourcen – Zuckerbrot oder Peitsche – einen „Dialog“ führt, ist wie ein Verkäufer, der ein Verkaufsgespräch führt, ohne Ware zu haben.
- Deutschland sollte das Völkerrecht als wichtige Ressource seiner internationalen Politik verstehen.
Das Völkerrecht ist die universale Gesprächsgrundlage für alle Akteure, die an Gesprächen interessiert sind, und da gehört Deutschland dazu. Im außenpolitischen Alltag sollte Deutschland sich sorgsam und nach bestem Wissen und Gewissen an völkerrechtliche Regelungen halten.
- Seine völkerrechtlichen Positionen muss Deutschland aber politisch begründen, nicht juristisch.
Deutschlands Politiker müssen die problematische Natur des Völkerrechts verstehen. Da es mit rechtlichen Mitteln in der Regel nicht durchgesetzt werden kann, ist Völkerrecht keine juristische, sondern nur eine politische Ressource.
In der internationalen Politik gilt: Recht ist nicht, was Juristen vor zwanzig Jahren in einen Vertrag geschrieben haben, sondern was Politiker heute darüber denken. Es sind Politiker, nicht Juristen, die darüber entscheiden, was gilt und was nicht.
- Deutschland muss bereit sein, die multilateral ausgerichtete internationale Ordnung zu verteidigen.
Wenn möglich, im Rahmen der internationalen Organisationen und Foren, in denen Deutschland Mitglied ist; wenn nötig, in Koalitionen von Gleichgesinnten.
Wenn möglich, unter gewissenhafter Beachtung völkerrechtlicher Prozeduren; wenn nötig, unter Umgehung derselben.
- Deutschland muss bereit sein, auf Gewalt mit Gewalt zu reagieren.
• Gegenüber Mächten, die Deutschland oder Deutschlands Verbündeten mit der Anwendung von Gewalt drohen, oder die tatsächlich Gewalt anwenden, muss Deutschland mit gleicher Münze zurückzuzahlen bereit sein.
• Deutschland sollte dabei nie als erster auf Gewalt setzen.
• Der Einsatz von Gewalt schafft immer einen Ausnahmezustand – früher hat man den als „Krieg“ auch so benannt. Ziel muss immer sein, den Ausnahmezustand schnell zu beenden und dabei die eigenen Interessen zu wahren.
• Wer Krieg führt, muss siegen wollen, und er muss wissen, wie man das macht. Deutschland darf nicht mehr konzeptlos in Kriege hineinstolpern, wie in Afghanistan. Deshalb muss auch eine zivil ausgerichtete Macht militärisch kompetent sein. Das gilt nicht nur für Soldaten, sondern für die gesamte politische Klasse: Auch pazifistisch orientierte Politiker müssen etwas von Krieg verstehen, denn Kriegswissen braucht man nicht nur, um Kriege zu führen, sondern auch um Kriege zu verhindern und Kriege zu beenden. Vor allem müssen Politiker möglichst genau verstehen, was die eigenen militärischen Machtmittel erreichen können, und was nicht.
- Deutschland muss bereit sein, nicht nur seine Soft Power, sondern auch seine diplomatischen, wirtschaftlichen und militärischen Machtmittel zur Stabilisierung von Krisenregionen in und um Europa einzusetzen.
Soft Power reicht in der Regel nicht aus, und wenn Deutschland als wirtschaftsstärkstes Land Europas nichts unternimmt, unternimmt niemand etwas – oder es tun die falschen.
- Wenn Deutschland ohne Rückendeckung durch Organisationen wie die Vereinten Nationen handelt, vielleicht sogar militärische Macht einsetzt, sollte es unbedingt danach trachten, möglichst breite Koalitionen mit gleichgesinnten Staaten zu bilden.
Aufgrund seiner geopolitischen Lage, aufgrund der historischen Erinnerungen der anderen Europäer, aufgrund seiner begrenzten Macht und aufgrund seines Interesses an einer multilateral bestimmten Weltordnung ist Deutschland beinahe gezwungen, immer im Verbund mit anderen zu handeln. Alleingänge verbieten sich – sie schaffen Misstrauen, verprellen Partner und überfordern Deutschlands Ressourcen.
Die Welt ist unvollkommen. Auch vollkommene Absichten deutscher Idealisten werden das nicht ändern.
Letztlich muss Deutschland versuchen, eine funktionierende, zivilisierte Ordnung in und um Europa zu organisieren. Dazu gehört der Aufbau multilateraler Strukturen, ihre Hege und Pflege. Und dazu gehört die Bereitschaft, das Bauwerk gegen Vandalen und Saboteure zu verteidigen.
Daraus ergibt sich die Zweigleisigkeit deutscher außenpolitischer Strategien, die hier empfohlen werden soll: eine Kombination aus Regeltreue einerseits und, andererseits, entschlossenem Handeln in Bereichen, wo es keine guten Regeln gibt. Eine Kombination aus zivilisierter Verhandlungs- und Kompromissorientierung und der Bereitschaft zu robustem Ellenbogeneinsatz gegen Räuber und Spielverderber.
Bei beidem ist Deutschland in Europa mehr gefordert als andere: Das größte Land muss sich wie kein anderes konziliant und berechenbar zeigen, sonst provoziert es Gegenkoalitionen und den Zerfall der europäischen Ordnung. Es muss auch wie kein anderes Land gemeinsame europäische Interessen gegen äußere Rivalen verteidigen, denn wenn Deutschland nicht mittut, wird wahrscheinlich kein anderes Land dazu die Initiative ergreifen.
Über Europa und Umgebung hinaus kann Deutschland machtpolitisch nicht viel bewirken, dazu sind die Ressourcen zu klein und die Fähigkeiten zu gering. Die Welt wird am deutschen Wesen nicht genesen. Aber das hat sie zum Glück auch nicht nötig. Bei den großen Themen, die nicht in Europa, sondern im globalen Forum verhandelt werden – Umwelt, Entwicklung, Migration – hat Deutschland eine wichtige, aber keine entscheidende Stimme. Hier muss sich Europa als Ganzes beweisen.
Die Herausforderungen, vor denen Deutschland steht, sind mit den Strategien des deutschen Nationalstaats von 1871 oder 1919 nicht zu bewältigen. Sie sind aber historisch durchaus nichts Neues. Das Alte Reich stand tausend Jahre lang vor ganz ähnlichen Aufgaben.
Weiter zum letzten Teil: Deutsche Außenpolitik - Zum Beschluss
Grundlagen deutscher Außenpolitik - Inhaltstafel
Ein neuer Anlauf
1. Deutschland – Die Mittellage
2. Deutschland – Die Mittelmacht
3. Deutschland – Die europäische Macht
4. Deutschland – Die Zivilmacht
4.1 Vorüberlegungen: Recht des Stärkeren oder Stärke des Rechts?
4.2 Hauptpunkte auf die Schnelle
4.3 Zivil und Macht
5. Zum Beschluss
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