Thorsten Kleinschmidt, 14. März 2023


Das Jahr ist schon drei Monate alt, und unsere Welt will nicht wieder heil werden. Dabei nehmen wir an ihren Problemen doch so sehr Anteil, also innerlich, so vom Sofa aus. Wir lesen Nachrichten, betrachten Videos, belauschen Gespräche, erwägen Meinungen; mit all unseren Sinnen bemühen wir uns, die Wirklichkeit, die uns umgibt und deren Teil wir sind, über mediale Kanäle aufzunehmen, einzusaugen – in der Vermutung, sie hätte für uns Bedeutung, und wir für sie.

Und dann fragen wir uns, worüber uns aufzuregen sich wohl am ehesten lohnen könnte. Wir kramen ein wenig in unserem Vorwissen, ergötzen uns bescheiden an unseren Altmeinungen und beleuchten das Ganze mit unseren Vorurteilen – und dann wird uns schlagartig klar: Wir haben das alles so satt, dass allein der Gedanke, uns darüber noch einmal aufregen zu sollen, so inspirierend erscheint wie der Vorsatz, die Dokumente der letzten fünf Steuererklärungen endlich wegzusortieren. Denn was gibt es da nicht alles zu sortieren:

  • Da ist der Krieg gegen die Ukraine, der narzisstische Banden-Chef im Kreml und sein gründlich verhetztes Volk
     
  • seine dumpfbackigen Immer-noch-Versteher hier im alten Land der Richter und Henker, die ihre Herrenmenschenfantasien auf den kleinen Ex-KGB-Zaren projizieren und die die Entrüstung des russischen Herrenvolkes verstehen, wenn kleine Nicht-Herrenvölker es wagen, sich seiner Einflusssphäre zu entziehen
     
  • die Ego- und die Angst-Pazifisten, die die Menschen in der Ukraine opfern wollen, um selbst ruhiger schlafen zu können und von denen einige dabei noch die Chuzpe haben, Jesus von Nazareth als Referenz für ihre Feigheit anzuführen. (Liebe christliche Pazifisten: Jesus hat sich selbst geopfert, nicht seine Mitmenschen.)
     
  • die „Aber-die-Amerikaner“-Guerrilleros, die hinter allen Übeln der Welt den US-Kapitalismus wissen, das Land von Bismarck und Marx endlich vom Einfluss der Yankees befreien wollen und dafür vor jedem Zaren kriechen würden. 80 Jahre nach dem Scheitern der Ardennen-Offensive und 25 Jahre nach dem Zusammenbruch des antikapitalistischen Deutschland ist es ja auch wohl an der Zeit alte Scharten auszuwetzen, nicht wahr, Kameraden und GenossInnen?
     
  • die Feingeister, die auch nach einem halben Jahrhundert Medienerziehung in deutschen Schulen noch nicht gelernt haben, seriöse von unseriösen Nachrichtenquellen zu unterscheiden und deshalb in orientierungsloser Gedankenarmut den Satz nachplappern, das erste Opfer des Krieges sei die Wahrheit; ein Satz, der immer dümmer wirkt, je länger man über ihn nachdenkt, dabei aber als Vorwand taugt, sich keine Meinung zu bilden und sich um eine Unterstützung der wirklichen Opfer herumzudrücken

Auch wer die Welt zum Kotzen findet, muss sie am Ende verdauen


Ja, wir haben das alles satt, wir haben sie alle satt – die Mörder, Mörderfreunde, Mörderunterstützer, Mörderversteher, Mörderbeschwichtiger und auch alle, die tausend Gründe finden, um sich Mördern nicht in den Weg stellen zu müssen.

Aber es hilft nichts. Überdruss lässt Elefanten nicht aus Räumen verschwinden, und auch wenn wir die Welt zum Kotzen finden, müssen wir sie wohl doch verdauen.

Der Elefant ist die Erkenntnis, dass die Welt der aufgeklärten Globalisierung, wie sie sich nach dem Ende des Kalten Krieges wundersamerweise entwickelt hatte, dem Orkus der Geschichte angehört. Es ist vorbei – Sie können später einmal ihren Enkeln davon erzählen: von einer Zeit, als man glaubte, alle Menschen würden sich eher über kurz als über lang, von gemeinsamen Interessen und Einsichten geleitet, von einem neuen technischen Medium (Internet!) beflügelt, auf einer grünen Blumenwiese wiederfinden, an Bächen, in denen Milch und Honig flössen, und an deren Ufern der Löwe friedlich neben dem Lamm ruhen würde.    

Noch einmal: Es ist vorbei.

Wir sehen jetzt, was Globalisierung auch bedeutet: dass wir Menschen von allen Enden der Erde einander zwangsweise so nahe kommen, dass wir uns wechselseitig den Atem ins Gesicht blasen. Wir stecken einander mit Krankheiten an, mit physischen wie COVID und mit kulturellen wie einem pseudodemokratischen Populismus.

Wir erkennen, dass die Anderen tatsächlich anders sind. Dass unsere Neigungen, Überzeugungen und Interessen sich unterscheiden, wir dabei aber gleichzeitig um dieselben Ressourcen auf einem engen Planeten konkurrieren. Wir sehen, dass Ukrainer, Russen, Deutsche, Amerikaner, Inder, Nigerianer und Chinesen völlig unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wie eine gerechte internationale Ordnung aussehen soll.

Wir begreifen, dass wir im Begriff sind, den Planeten zu ruinieren, möchten die eingebrockte Suppe aber nicht selber auslöffeln – das sollen lieber die Anderen tun.

Wir beginnen zu verstehen, dass gerade die größten Interessenkonflikte nicht durch Vernunft geregelt werden, sondern durch schiere Macht. Und da das so ist, müssen wir alle nach Macht streben, um nicht unter die Räder des Busses zu geraten, vor den uns die Anderen vermutlich stoßen möchten – oder unter die Ketten ihrer Panzer.
 

Wir brauchen Bürger, die sich den Herausforderungen stellen


Wie gesagt: Es ist zum Kotzen, aber wir müssen es verdauen.

Und das werden wir zweifellos, sogar in Deutschland und Europa. Wir müssen uns aber die trödelnde Gleichgültigkeit aus den Kleidern schütteln, den Privatismus, der glaubt, wenn wir uns nur auf unsere privaten Projekte konzentrieren, werde sich alles andere schon glücklich regeln, dank „der Regierung“, „der EU“, „der Amerikaner“, „der UNO“, „des Fortschritts“ oder weil es sich eben irgendwie immer geregelt hat. Nein, wir werden für die Bewältigung der neuen Unsicherheit zahlen müssen – mit Geld, Zeit, Energie, Aufmerksamkeit, Arbeit. In der Ukraine haben Zehntausende sogar mit ihrem Leben bezahlt.

Ja natürlich, gefordert sind zunächst die Funktionseliten und Spezialisten: Wir brauchen eine Regierung, die Europa einigen kann. Wir brauchen Wirtschaftsunternehmen, die sich in der globalen Rempelei auf den Weltmärkten behaupten können. Wir brauchen Wissenschaftler, die Lösungen für die Entwicklungsblockaden der Nation, des Kontinents und der Menschheit finden. Wir brauchen eine Armee, die Kriege führen und gewinnen kann. 

Vor allem aber brauchen wir Bürger mit politischem Sinn und mit Kampfgeist: Menschen, die sich für Wohl und Wehe des Ganzen zuständig fühlen, die Druck machen und handeln. Wir müssen diese Bürger sein. Ob in der Ukraine, bei der nächsten Klimakonferenz, bei den nächsten Haushaltsverhandlungen im Parlament oder bei Debatten in Beruf/Familie/Internet - selbst auf dem Sofa: 

Nostra res agitur! Es geht immer um uns. Es geht immer ums Ganze.


 

Noch keine Kommentare

Kommentar schreiben

Die angegebene E-Mail-Adresse wird nicht dargestellt, sondern nur für eventuelle Benachrichtigungen verwendet.

Um maschinelle und automatische Übertragung von Spamkommentaren zu verhindern, bitte die Zeichenfolge im dargestellten Bild in der Eingabemaske eintragen. Nur wenn die Zeichenfolge richtig eingegeben wurde, kann der Kommentar angenommen werden. Bitte beachten Sie, dass Ihr Browser Cookies unterstützen muss, um dieses Verfahren anzuwenden.
CAPTCHA

Standard-Text Smilies wie :-) und ;-) werden zu Bildern konvertiert.
BBCode-Formatierung erlaubt