Thorsten Kleinschmidt, 10. Mai 2021
 

Über ein Jahr lang haben wir uns mit Grundbedingungen deutscher Außenpolitik beschäftigt, haben Interessen hergeleitet und Strategien diskutiert. Warum? Deutsche Außenpolitik steht an einem Scheideweg in unübersichtlichem Gelände.
 

Das Gelände

Politische Krisen in Nordafrika, im Nahen Osten und in Osteuropa ziehen den gesamten europäischen Kontinent in Mitleidenschaft; Großmächte versuchen die Europäer zu spalten und nach Europa hineinzuregieren; der Klimawandel und die COVID-Pandemie lassen gefährliche Defizite bei der politischen Organisation der globalisierten Welt deutlich werden; China und die USA planen für einen neuen Kalten Krieg.

Gleichzeitig kommt die Europäische Union aus einem historischen Dauerstresstest gar nicht mehr heraus: Eurokrise – Krimkrise – Flüchtlingskrise – Brexit – Pandemie … Dass die Union sich nicht einfach aufgelöst hat, gilt manchen Beobachtern schon als Erfolg.

Aber auch die Zukunft der NATO ist ungewiss: Zwar hat sie als Abschreckungsbündnis gegen russischen Imperialismus wieder an Legitimität gewonnen; manche in Washington oder London würden sie aber auch gerne in den neuen Kalten Krieg gegen China hineinziehen, was ihren Zusammenhalt in Europa eher schwächen dürfte – so lange jedenfalls, wie Chinesen nicht so dumm sind, den europäischen Kontinent direkt militärisch zu bedrohen.

Bei allen Veränderungen ist uns eine Konstante geblieben: Die Vereinten Nationen sind so unfähig wie eh und je, Frieden und Sicherheit in der Welt zu gewährleisten.

Der Scheideweg

Drei Irrwege gilt es zu vermeiden.

Holzweg 1: Weiter so!

Geld verdienen – mit allen unverbindlich reden – bei Problemen Geld anbieten oder Geld vorenthalten, alternativ: schimpfen und entschlossen gucken – wenn es irgendwo knallt, den Kopf einziehen und das Beste hoffen …

Das wird nicht mehr funktionieren. Europa und die angrenzenden Regionen brauchen eine neue politische Struktur. Die lässt sich nur entwerfen und aufbauen, wenn das wirtschaftlich stärkste Land Europas energisch die Initiative ergreift, statt immer nur auf die nächste Krise zu warten.
 

Holzweg 2: Das idealistische Wolkenkuckucksheim

Die Deutschen sind gelernte Idealisten: Ob etwas klug oder dumm, sinnvoll oder sinnlos ist, interessiert uns oft wenig – wir wollen wissen: Ist es gut oder böse? Eine gewisse Sucht, uns demonstrativ zu den Kräften des Lichts zu bekennen, ist uns als Trauma aus unseren Religionskriegen geblieben. Das führt oft dazu, dass wir weniger daran interessiert sind, ein Problem zu lösen, als es dazu zu benutzen, uns selbst unsere moralische Reinheit zu beweisen.

Wenn wir dazu noch die deutsche Regelverliebtheit in Betracht ziehen, verstehen wir, warum die Idee des Völkerrechts als einer vermeintlichen Universalmedizin zur Heilung der Gebrechen der Staatenwelt hierzulande so hoch im Kurs steht. Denn wer auf den Wortlaut des Völkerrechts pocht wie Luther auf den der Bibel, der handelt moralisch, und darüber hinaus befolgt er auch noch eine Regel – was könnte einem deutschen Idealisten größere Befriedigung verschaffen.

Leider wird die Welt dadurch nicht besser. Wer glaubt, dass die mahnende Beschwörung des Völkerrechts im Dialog mit den Mächten dieser Welt Frieden und Sicherheit herbeiführt, der glaubt sicher auch, dass die Predigten des Pfarrers irgendwann das Verbrechen ausrotten. Völkerrecht will durchgesetzt werden, und um das zu tun, muss man sich von den lichten Höhen gläubiger Rechtschaffenheit hinabbegeben in die sumpfigen Niederungen von Zank und Zwang – auf die Gefahr hin, im Schlamm seinen Heiligenschein zu verlieren und in profundis auszusehen wie ein Sünder.

Eine Außenpolitik, die ihren Sinn darin finden möchte, gegenüber Autokraten, Imperialisten und Fanatikern die Werte aus dem Konfirmandenunterricht zu demonstrieren, nutzt nur Autokraten, Imperialisten und Fanatikern.


Holzweg 3: Alternativen für Deutschland

Die Kleindeutschen gehen wieder um in Mitteleuropa; die Zeitgenossen, die ein „Deutschland-ohne“ herbeifordern möchten: Deutschland ohne Europa, Deutschland ohne den Westen, Deutschland ohne Einwanderer, Deutschland ohne internationale Verantwortung, Deutschland ohne repräsentative Demokratie, Deutschland ohne Menschen anderer Meinung, Deutschland ohne Epidemiologen, Deutschland ohne schlechtes Wetter, Deutschland ohne Hirn.

Eine Außenpolitik des „Germany first!“, oder in korrekter Übersetzung „Deutschland, Deutschland über alles“, würde Deutschland binnen kürzester Zeit in Europa derart isolieren, dass den alternativen Patrioten nur noch die Wahl bliebe, ob sie sich lieber Russland, lieber China oder doch am liebsten den USA als Pudel andienen möchten (für die, denen der Pudel als Hunderasse zu unpatriotisch ist: als Dackel). Bei aller Sympathie für Heimatliebe: Verdienste ums Vaterland lassen sich so nicht erwerben.


Wohin?

All diesen Wegen ist gemeinsam, dass sie leicht aussehen: einfach so weitermachen; einfach nur selbst ans Recht halten und die anderen gewähren lassen; einfach nur noch um Deutschland kümmern. Sie führen in die Wüste.

Deutschland braucht eine aktive, zupackende Außenpolitik, denn in Europa und Umgebung müssen neue politische Strukturen geschaffen werden.

Deutschland braucht eine realistische, machtbewusste Außenpolitik, denn die Vereinten Nationen sind nicht in der Lage, eine stabile internationale Rechtsordnung zu gewährleisten, und auf den guten Willen von Großmächten sollte man sich nicht verlassen.

Deutschland braucht eine weltoffene Außenpolitik, denn Wohl und Wehe dieses Landes hängen von der weiteren Entwicklung Europas und der Weltgemeinschaft ab.

Bei all dem ist die Mittelmacht Deutschland zu klein, ist Deutschlands Lage in der Mitte Europas zu prekär, als dass wir alleine viel bewegen könnten. Deutschland braucht eine funktionierende Europäische Union – als Sicherheitsraum, als Machtverstärker und als Coworking Space, in dem es sich seinen Nachbarn als vertrauenswürdig, maßvoll und hilfreich präsentieren kann.

 

Grundlagen deutscher Außenpolitik - Inhaltstafel

Ein neuer Anlauf
1. Deutschland – Die Mittellage
2. Deutschland – Die Mittelmacht
3. Deutschland – Die europäische Macht
4. Deutschland – Die Zivilmacht
    4.1 Vorüberlegungen: Recht des Stärkeren oder Stärke des Rechts?
    4.2 Hauptpunkte auf die Schnelle
    4.3 Zivil und Macht
5. Zum Beschluss

 

 

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