Thorsten Kleinschmidt, 7. Dezember 2018
 

Das deutsche Staatsschiff dümpelt vor sich hin – in einer Flaute zwischen zwei Stürmen. Der letzte Sturm, das war die Flüchtlingskrise von 2015 und 2016, als wir über eine Million Menschen an Bord nahmen. „Das Boot ist voll !‟ , schrie es vielerorts hysterisch aus den mittleren Decks, und tatsächlich konnte man eine Zeitlang das Gefühl haben, die Demokratie habe eine beunruhigende Schlagseite; ob nach links oder nach rechts, das war nicht so recht auszumachen. Wie auch immer – Deutschland hatte schon schlimmere Stürme überstanden, die Weltfinanzkrise und die Eurokrise waren noch frisch im Gedächtnis; und das Boot ist auch diesmal nicht gesunken. Beschädigt aber wurde es sehr wohl.

Volksparteien brachen zusammen, eine rechte Partei zog in den Bundestag ein und panische Partei-Taktiererei ersetzte strategisches Navigieren. Monatelang wurde endlos palavert und kaum regiert.

Von drohenden Meutereien wurde gemunkelt, und während die Kapitänin sich in ihrer Kajüte einschloss und die Offiziere zeternd ums Ruder herumstanden, trieb das Schiff führerlos in der Dünung. Mittlerweile geht schon das Jahr 2018 zu Ende, und wir müssen immer noch konstatieren: Das deutsche Staatsschiff hat weder Antrieb noch Kurs.

Das ist fatal, denn am Horizont dräut der nächste Sturm. Die Großwetterlage ist beunruhigend.

 

Deutschland und Europa sind bedroht

 
Die USA demolieren die regelbasierte Weltordnung mit dem Vorschlaghammer
; eine Ordnung, in der Deutschland sich so gut eingerichtet hat wie kaum jemand sonst. Nicht nur stehen EU und NATO in der Kritik, nicht nur werden am laufenden Band einseitig Verträge aufgekündigt und Handelskriege angedroht: Mittlerweile stellt der US-Außenminister sogar den Sinn der Vereinten Nationen in Frage. Dabei bleiben die USA vorerst der mächtigste Nationalstaat der Erde, sehr nützlich als Verbündeter, sehr bedrohlich als Gegner. Leider hat der US-Präsident sich Deutschland als Gegner ausgeguckt.

Die Europäische Union – Deutschlands Sicherheitsraum und Machtverstärker -  ist unterdessen ein Trümmerhaufen. Der bevorstehende Austritt Großbritanniens, das Aufbegehren Italiens gegen die europäischen Haushaltsregeln, der Streit um autoritäre Innenpolitik in Polen und Ungarn haben den politischen Betrieb weitgehend gelähmt und die dringend notwendigen Bemühungen um eine Reform der Union an Haupt und Gliedern entmutigt. Eine ernst zu nehmende gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik gibt es nicht mehr. Die Gegner der Union wittern Morgenluft: nicht nur einheimische Europa-Verächter jeder Couleur; sondern auch Großmachtpolitiker in Moskau, Washington, Peking und andernorts, die die Schwäche der EU als eine Chance begreifen, sich in Europa imperiale Einflusszonen zu sichern.

Die schwache EU ist umzingelt von Krisengebieten und Konfliktherden. Die Sahel- und Maghrebstaaten sind Ausgangszone immer neuer Wellen von Wirtschaftsmigranten, die es in Richtung EU zieht. Libyen und Syrien sind gescheiterte Staaten mit schwelenden Bürgerkriegen; der ganze Nahe Osten ist wieder einmal ein Pulverfass; der nächste Funke kann die nächste Explosion auslösen. Die Türkei verwandelt sich schleichend in eine neo-osmanische imperiale Diktatur. In der Ukraine gibt es einen Bürgerkrieg, der sorgsam von Russland befeuert wird. Deutschland und die EU sind derzeit zu schwach, diese Krisenregionen zu befrieden, werden aber durch Flüchtlingsströme, Terrorismus und wirtschaftliche Unsicherheit in Mitleidenschaft gezogen.

Russland geriert sich als Imperialmacht und versucht in Anknüpfung an Traditionen aus dem 19. Jahrhundert bis ins Herz Europas hineinzuregieren. Moskau betreibt einen Bürgerkrieg in der Ukraine, verhindert die Lösung eingefrorener Konflikte in Georgien und Moldau, bedroht Nachbarstaaten im Ostseeraum, unterstützt autoritäre oder rechtsgerichtete Politiker in West- und Mitteleuropa, lässt Mordanschläge im europäischen Ausland verüben und versucht, die öffentliche Meinung in den großen europäischen Ländern durch Social-Media-Trolle und gezielte Falschmeldungen zu manipulieren. Eine massive Aufrüstung der russischen Streitkräfte dient als Drohkulisse für eine Politik, die auf Druck und Einschüchterung setzt. Dass Russlands imperiales Gehabe auch der Kompensation eigener wirtschaftlicher Schwäche und der Bewältigung historischer Traumata dient, ist ein schwacher Trost.

China beginnt, Europa wirtschaftlich und politisch unter Druck zu setzen. Schon lange beklagen Deutsche und andere Europäer einseitige Benachteiligungen beim Zugang zum chinesischen Markt. Auch versuchen chinesische Investoren, strategisch wichtige Technologieunternehmen aufzukaufen. Als Teil der Seidenstraßen-Initiative der chinesischen Regierung investieren chinesische Unternehmen auch in der EU große Summen in Projekte der Verkehrsinfrastruktur. Das schlägt sich mittlerweile auch in politischem Einfluss nieder. Ungarn und Griechenland haben auf Druck ihrer chinesischen Geschäftspartner schon versucht, in EU-Abstimmungen Entscheidungen zu verhindern, die Peking nicht gefielen. Das Vorgehen Chinas folgt ironischerweise dem Muster, das die Europäer im 19. Jahrhundert China gegenüber praktizierten: Erst kam der Handel, dann kaufte man chinesische Unternehmen auf, baute im öffentlichen Auftrag Straßen und Eisenbahnen, und schließlich wollte man die chinesische Politik bestimmen. Die Chinesen haben gelernt. Man könnte es Neokolonialismus 2.0 nennen, und diesmal ist Europa dran.

Das alles sind nur die politischen Unbilden. Dazu kommen die wirtschaftlichen und ökologischen Sorgen: Die Weltwirtschaft steuert auf das Platzen der nächsten Blase zu. Drohende Handelskonflikte könnten zu einer Verlagerung der Handelsströme führen. Die europäische Industrie steht in Gefahr, von Ostasien technologisch abgehängt zu werden. Und beim Klimawandel gibt es keinen Wandel: Rekordsommer reiht sich an Rekordsommer, aber eine Weltklimapolitik bleibt naiver Traum, da die größten Wirtschaftsmächte des Planeten gerade ungeniert den Charme des sacro egoismo wiederentdecken.  

 

Europa: Von der Geschichte untergepflügt wie die alten Sumerer?

 
All diese Wolken am Horizont können sich zu katastrophalen Stürmen vereinen. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich dergleichen vorzustellen:

  • „2020: Ein weltweiter Börsencrash löst eine neue Weltwirtschaftskrise aus; die USA reagieren hysterisch mit einer Abschottung ihres Marktes gegen ausländische Produkte; andere Länder folgen. In Deutschland steigt die Arbeitslosigkeit auf 15%.‟
     
  • „2025: Russland schließt ein politisches Bündnis mit autoritär regierten Staaten in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan. Damit hat Russland praktisch bei jeder wichtigen Entscheidung innerhalb der EU ein Veto-Recht.‟
     
  • „2030: Mehrere aufeinander folgende Dürrejahre zerstören die Lebensgrundlage der Menschen in der Sahel-Zone. Fünfzehn Millionen Klimaflüchtlinge machen sich auf den Weg nach Europa.‟
     
  • „2035: Die USA, Russland und China zerlegen das schwache Europa in Einflusszonen, um politische Reibungsflächen untereinander zu verkleinern. Die Chinesen bekommen den Balkan und Italien, der Rest wird zwischen Amerikanern und Russen brüderlich geteilt. Nach der erzwungenen Auflösung der EU werden die europäischen Länder dazu gedrängt, sogenannte Partnerschaftsverträge mit ihrer jeweiligen Schutzmacht abzuschließen. Dabei verzichten sie auf ihre wirtschafts- und sicherheitspolitische Souveränität. Man nennt es nicht Kolonialismus, sondern Befreiung vom Joch der EU.‟

Es sind noch viele andere Szenarien denkbar, die durchweg nicht fröhlicher stimmen.

Wir Deutsche und Europäer haben uns angewöhnt, uns mit unserer Lebensart und unseren Werten als den Mittelpunkt der Welt, als den Höhe- und Endpunkt der Weltgeschichte zu betrachten. Diese Sicht ist nicht zwingend, um es vorsichtig zu formulieren. Es ist nicht auszuschließen, dass unser altes Europa, unser famoses Deutschland von der Geschichte untergepflügt wird wie einst die Sumerer und Babylonier. Und der Zeitpunkt könnte näher sein, als wir denken.

 

Tugenden und Taten?

  
Nun ist es nicht das erste Mal, dass Europa mit der Vorstellung seiner eigenen Endlichkeit konfrontiert ist. Europa hat die Angriffe der Sarazenen überlebt, den Mongolensturm, die osmanische Expansion und diverse kollektive Selbstmordversuche zwischen 1618 und 1945. Dass es immer weiterging, war aber keine Selbstverständlichkeit.
 
Es bedurfte dazu bei den politisch und gesellschaftlich Tätigen einer langen Reihe politischer und vorpolitischer Tugenden; wie Entschlossenheit und Mut, Willenskraft und Machtgespür, Leidensfähigkeit und Geduld, Gemeinsinn und Großmut; und oft auch einer ausgeprägt kriegerischen Geisteshaltung. Zuvörderst aber waren Wirklichkeitssinn und Verantwortungsgefühl vonnöten: Die Fähigkeit, seine Augen für die Realität zu öffnen, und das Bewusstsein, ganz persönlich etwas tun zu müssen, um kommende Not abzuwenden.

Man hat derzeit nicht den Eindruck, dass die Brückenbesatzung des deutschen Staatsschiffs mit diesen beiden Gaben gesegnet wäre. Statt einen geeigneten Kurs in den rettenden Hafen abzustecken oder das Schiff sturmfest zu machen, prügelt man sich lieber ums Steuer. Zwar scheint allmählich ins Bewusstsein zu dringen, dass Europa und Deutschland sich irgendwie in einer Dauerkrise befinden; wie gefährlich diese tatsächlich ist, scheint aber kaum jemand begriffen zu haben; und deshalb wird weiterhin viel übers Meer geredet, aber nicht gesegelt.
 
Der Wind frischt schon auf.

 

Nächstens mehr über das Segeln in schwierigen Gewässern.

 

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