Thorsten Kleinschmidt, 12. Februar 2021
Fortsetzung von
Vorüberlegungen: Recht des Stärkeren oder Stärke des Rechts?
In Abschnitt 1 des Kapitels haben wir einige Vorüberlegungen zur Gewichtung von Kooperation und Konflikt in der Außenpolitik von Staaten angestellt. Bevor wir dies alles auf Deutschland anwenden, ziehen wir einen Strich und fassen das Wichtigste zusammen (ausführlicher hier). Einmal mehr bitte ich für die Trockenheit der Darstellung um Nachsicht, aber vielleicht gewinnen wir hier ein Gedankengerüst, mit dessen Hilfe wir außenpolitischen Entscheidungsprozessen eine Struktur geben können.
1. Es ist sinnvoll eine internationale Ordnung anzustreben, in der Staaten sich als verantwortungsbewusste Mitglieder einer internationalen Gemeinschaft verstehen und verhalten; einer internationalen Rechtsordnung mit Verträgen, Bündnissen, internationalen Organisationen und Schiedsgerichten.
2. Wer eine internationale Rechtsordnung erhalten will, muss bereit sein, sie zu verteidigen – gegen ihre erklärten Feinde und gegen ihre falschen Freunde.
2.1 Staaten, die die internationale Rechtsordnung erhalten und ausbauen wollen, müssen eine zweigleisige Strategie fahren.
Sie müssen im Alltag internationale Rechtsnormen nach bestem Wissen und Gewissen sorgfältig beachten und sich um das Funktionieren internationaler Organisationen und Institutionen bemühen.
Im Ausnahmefall müssen sie aber bereit sein, außerhalb des prozeduralen Rahmens dieser Rechtsordnung zu handeln, wenn dies nötig ist, um kollektive Selbstjustiz gegenüber Ordnungsstörern auszuüben. (Jedenfalls solange es keine legitime und kontrollierte Weltpolizei und Weltjustiz gibt.)
3. Staaten müssen das Völkerrecht immer selbst auslegen; es gibt international keine politisch verbindliche Rechtsauslegung. Das Rechtsverständnis eines Staats wird beeinflusst von Interessenwahrnehmung und politischer Kultur seiner Eliten.
3.1 Politiker müssen verstehen, dass das Völkerrecht immer nur Verhandlungsbasis ist. Seine Bedeutung im konkreten Fall muss immer erst ausgehandelt werden – zwischen Staaten, nicht zwischen Juristen.
3.2 Dabei sollten Staaten sich nach Möglichkeit mit anderen betroffenen Staaten abstimmen, vor allem in Krisensituationen.
3.3 Wenn es nicht möglich ist, eine Einigung mit allen betroffenen Staaten zu erzielen, sollte man die eigene Position dennoch möglichst breit abstimmen; aus taktischen Gründen und zur kritischen Überprüfung der eigenen Wahrnehmung.
3.4 Danach muss Politik in eigener Verantwortung, nach politischen, nicht juristischen Maßstäben entscheiden, wie mit dem Konflikt umgegangen werden soll. Kann man mit dem Dissens leben? Soll man versuchen, in Konfrontation die eigene Sicht durchzusetzen, soweit das im Rahmen des internationalen Institutionen- und Vertragsgefüges möglich ist? Oder muss man unter Missachtung der vorgesehenen Prozeduren, d.h. unter Bruch des prozeduralen Völkerrechts, unbedingt Widerstand leisten, weil der materielle Gehalt der internationalen Rechtsordnung auf dem Spiel steht, z.B. zur Verhinderung oder Beendigung eines großen Krieges oder eines Völkermords? Bei diesen Entscheidungen sind Güterabwägungen zu treffen, die nicht juristisch, sondern politisch sind.
4. Die außenpolitischen Strategien und Taktiken müssen sich auch nach den Mitteln richten, die zur Verfügung stehen oder realistischerweise in Zukunft verfügbar gemacht werden können.
5. Niemals darf man vergessen, dass die internationale Rechtsordnung in Wirklichkeit keine juristische, sondern eine politische Ordnung ist.
Hier geht Macht immer vor Recht. Staaten entscheiden selbst, wie sie rechtliche Normen interpretiert sehen möchten. Welche Interpretation sich durchsetzt, ist im Konfliktfall immer eine Machtfrage. Das gilt sogar für den seltenen Fall, dass es tatsächlich einmal Urteile internationaler Gerichte gibt: Selbst dann können Staaten die Umsetzung einfach verweigern, wenn sie nur mächtig genug sind. Schwache Staaten werden nicht durch das Völkerrecht geschützt, sondern durch die Macht ihrer Verbündeten – oder gar nicht.
6. Dennoch ist Völkerrecht zentral wichtig – als Gesprächsgrundlage.
Es repräsentiert den letzten Stand des internationalen politischen Gesprächs über Normen und stellt sicher, dass Politik bei Verhandlungen nicht immer wieder bei null beginnen muss. Ohne Verhandlungen und ohne Machtgebrauch aber ist internationale Politik nicht zu haben. Wer die „Herrschaft des Rechts in den internationalen Beziehungen“ beschwört, hat weder verstanden, was Herrschaft ist, noch was Recht bedeutet, noch was internationale Beziehungen sind. Oder er hat es sehr wohl verstanden und brauchte gerade deshalb eine optimistisch klingende Floskel.
Wenn wir uns bis hierhin einig sind – oder wenn Sie zumindest nicht so stark den Kopf schütteln, dass Sie nicht weiterlesen können – wollen wir im nächsten Schritt versuchen, diese Gedanken für die deutsche Außenpolitik fruchtbar zu machen.
Deutschland – Die Zivilmacht. Abschnitt 3: Zivil und Macht
Diese kleine Serie zu den Grundlagen deutscher Außenpolitik läuft gerade Gefahr, eine große Serie zu werden. Auf jeden Fall wird es langsam unübersichtlich. Deshalb hier noch einmal eine Inhaltstafel:
Grundlagen deutscher Außenpolitik - Inhaltstafel
Ein neuer Anlauf
1. Deutschland – Die Mittellage
2. Deutschland – Die Mittelmacht
3. Deutschland – Die europäische Macht
4. Deutschland – Die Zivilmacht
4.1 Vorüberlegungen: Recht des Stärkeren oder Stärke des Rechts?
4.2 Hauptpunkte auf die Schnelle
4.3 Zivil und Macht
5. Zum Beschluss
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