Thorsten Kleinschmidt, 10. Mai 2023
 

Wenn Geschichte das wäre, was geschehen ist, wäre die Beschäftigung mit ihr sinnlos, denn um ein Jahrhundert mit allem, was darin geschehen ist, nachzuvollziehen, bräuchte es – genau: ein Jahrhundert und mehrere Milliarden Chronisten. Nein, Geschichte ist viel weniger und viel mehr: Geschichte ist das, was wir über Ereignisse erzählen, von denen wir glauben, dass sie geschehen sind; in einer Form und Formulierung, die einen solchen Sinn ergeben, der uns Orientierung in unserer eigenen Zeit zu geben vermag. Oder kürzer: Geschichte besteht aus einer Reihe guter Geschichten. Ein paar davon wollen wir heute mal wieder anreißen.
 

20 Geschichten aus der Vergangenheit über unsere Zeit
 

Vor 4050 Jahren wurde Ibbi-Sin König von Ur in Mesopotamien. Unter seiner Regierung ging das Stadtreich in einer Kombination aus Wirtschaftskrise und äußeren Angriffen unter – ein Vorgang, der sich seither unzählige Male wiederholt hat. Königreiche, Imperien, Republiken – sie können einfach verschwinden, wenn ihre Bevölkerung in Krisenzeiten, die es immer einmal gibt, nicht entschlossen genug oder nicht klug genug handelt. Die Stadt Ur existierte weiter, aber ihre Macht und ihre Selbständigkeit waren dahin. In einer altersträgen Senioren-Republik wie der unseren lohnt es sich, das festzuhalten: Nichts zu tun, ist keine Option, wenn anderswo auf dem Kontinent Kriege und Krisen um sich greifen. (2028 vor Christus)

Vor 2550 Jahren starb Peisistratos, Tyrann von Athen. Die Stadt ist nicht immer eine Demokratie gewesen. Im sechsten Jahrhundert vor Christus stritten sich die örtlichen Adelsfamilien um die Macht; dem Adel insgesamt standen verarmte Bürger in politischer Feindschaft gegenüber. Eine ideale Situation für einen Bürgerkrieg – oder für einen Tyrannen. Peisistratos versuchte zweimal durch politische Ränke die Macht in Athen zu erringen – vergeblich. Er wurde verjagt, machte im Exil ein Vermögen, mit dem er eine Söldnertruppe finanzierte, und eroberte sich die Stadt schließlich mit Gewalt. Als Tyrann hielt er die gesellschaftlichen Konflikte im Zaum – durch Gewalt und mit Geld. Die Wirtschaft blühte auf und ebenso die Kultur. Peisistratos ist das Urbild des ideologischen Klischees vom guten Diktator, der die alten Eliten an die Kandare nimmt, Geld an das normale Volk verteilt und die Wirtschaft ankurbelt.  Das, wovon die Fans von Donald Trump träumen. (528 vor Christus)

 

Vor 2500 Jahren gründete sich der Attische Seebund als Verteidigungsbündnis gegen die Perser. Nach der Befreiung von der persischen Herrschaft schufen griechische Städte um die militärische und politische Führungsmacht Athen eine Organisation, die die Rückkehr der Perser verhindern sollte. Diese Aufgabe hat der Seebund erfüllt. Leider war die Dominanz der Führungsmacht Athen im Bündnis so groß, dass der Seebund sich allmählich in ein athenisches Imperium verwandelte, in dem die kleineren Staaten nicht nur nichts mehr zu sagen hatten, sondern das sie auch in einen katastrophalen Krieg gegen Sparta hineinzwang. Merke: In einem Militärbündnis sollten die kleineren Mitglieder sich ordentlich nach der Decke strecken, um möglichst unabhängig von ihrer Führungsmacht zu bleiben. Denn ein wohlwollender Hegemon bleibt nicht immer wohlwollend. Wo wir davon sprechen: Vor 2450 Jahren schlug Athen einen Aufstand des vom Seebund abtrünnigen Mytilene nieder – es war ein großes Massaker. (478 vor Christus und 428 vor Christus)

Vor 2400 Jahren begann die Stadt Rom mit dem Bau der Servianischen Stadtmauer. Der Bau war greifbares Resultat einer Zeitenwende. Knapp zehn Jahre zuvor hatte das keltische Volk der Senonen Rom erobert und geplündert. „Vae Victis – Wehe den Besiegten“ hatte der Keltenkönig den sich über die Unterwerfungsbedingungen beklagenden Römern entgegengehalten. So etwas sollte nie wieder geschehen. Tatsächlich hat es danach 800 Jahre lang niemand mehr geschafft, Rom zu erobern. (378 vor Christus) 

Vor 2000 Jahren endete die chinesische Xin-Dynastie im Bauernaufstand der „Roten Augenbrauen“ mit dem Tod von Kaiser Wang Mang. Der Kaiser hatte vieles anders und besser machen wollen als seine Vorgänger aus der Han-Dynastie. Aber seine ehrgeizigen Reformen gerieten ihm so maßlos wie seine Außenpolitik, und während man im Palast über immer neuen Plänen brütete, ging das Reich vor die Hunde. Schließlich erhoben sich die Bauern, verbündeten sich mit den alten Han-Eliten und schlugen den Kaiser tot. So erlitt Wang Mang den Albtraum aller Reformer. Die neue Ära, die er begründen wollte, endete schon mit seinem Tod – von seinen Reformen blieb nichts als die Idee der Einkommensteuer… (23 nach Christus)

Vor 1600 Jahren starb der römische Kaiser Honorius. Sein Heermeister Stilicho hatte das Reich in unruhigen Zeiten immer noch halbwegs befrieden können, aber Honorius hatte ihn aus Angst vor seiner Macht ermorden lassen. Der Kaiser selbst erwies sich dann aber als zu schwach, klug oder zumindest energisch zu regieren. Im Ergebnis wurde Rom von den Westgoten geplündert und das Reich zum Spielball mächtiger Interessen. Honorius ist das Urbild des unfähigen Herrschers, der sein Reich zugrunde gehen lässt. Ist Wang Mang der Kaiser, der zu viel tat, ist Honorius der Kaiser, der zu wenig tat. Beide haben sie ihre Reiche ruiniert. (423) 

Vor 1500 Jahren wurde im Kolosseum zu Rom zum letzten Mal eine Tierhetze veranstaltet. Danach endete die Ära der antiken Reality-Shows durch ein Verbot des Gotenkönigs Theoderich. (523)

Vor 1400 Jahren befreiten sich in Mähren ansässige slawischsprachige Stämme von der Oberherrschaft der Awaren in Ungarn und gründeten das erste bekannte slawische Staatswesen, das nach seinem Herrscher benannte Reich des Samo. Wenn historische Seniorität denn einen Wert haben soll, müssten wir die Tschechen als die Vorkämpfer einer historischen Bedeutung der Slawen betrachten – und nicht die Russen, wie russische Regierungen es seit 200 Jahren immer wieder in Anspruch nehmen. Samo selbst war übrigens Franke von Geburt. Nationalität ist eine Erfindung späterer Zeiten. (623)

Vor 1250 Jahren begann der Frankenkönig Karl der Große seinen Feldzug gegen die Langobarden in Oberitalien. Er sollte schließlich zur Vereinigung der Langobardenkrone mit dem Frankenreich führen. Das karolingische Europa nahm Gestalt an. Darüber hinaus begründete der Krieg das Bündnis der Herrscher des Nordens mit dem Papst in Rom. Die Möglichkeit einer Neubegründung eines gesamtchristlichen römischen Reichs erschien am Horizont. Heute würden wir sagen: einer Vereinigung Europas. Die Idee ist nie mehr verschwunden. (773)

Vor 1050 Jahren schworen auf dem Quedlinburger Hoftag zwei ostmitteleuropäische Herrscher, Boleslav von Böhmen und Mieszko von Polen dem Kaiser Otto I. die Treue. Die Idee des Heiligen Römischen Reichs war immer viel mehr als ein imperialistisches Projekt. Es bot den teilnehmenden Fürsten und Städten eine gemeinsame überregionale Identität und schuf die Basis für eine wechselseitige Anerkennung als gleichwürdige Mitglieder einer politischen Gemeinschaft, die universale Geltung beanspruchte. Gemeinsam hatten sie die Religion und verklärende kollektive Erinnerungen an Frieden, Reichtum und Glanz des Römischen Reiches. Und sie alle einte ein Interesse an einer stabilen politischen Grundordnung Europas. Der schwer zu kontrollierende Machtehrgeiz der Adelsfamilien führte aber dazu, dass das Reich immer weit unterhalb seiner Möglichkeiten blieb. Es schrumpfte im Laufe der Zeit auf die deutsch- und tschechischsprachigen Landschaften plus Belgien und ging im Zeitalter des aufkommenden Nationalismus schließlich unter. Nachdem dieser sich gründlich diskreditiert hatte, kehrte die Idee unter anderem Namen zurück: „Europa“. (973)

Vor 800 Jahren besiegte ein mongolisches Heer die Aufgebote der ostslawischen Fürstentümer der Kiewer Rus in der Schlacht an der Kalka. Die Sieger zogen danach wieder nach Asien ab, aber das Menetekel stand an der Wand, und zwanzig Jahre später hatte das Reich des Dschingis Khan alle Staaten Osteuropas unterworfen. Trotz der Vorwarnzeit hatten Europäer in Ost und West es nicht geschafft, sich wirkungsvoll auf den Angriff vorzubereiten. Und so stand schließlich jedes Fürstentum, jede Stadt dem übermächtigen Gegner allein gegenüber. (1223)

Vor 550 Jahren herrschte in Europa sommers eine so große Trockenheit, dass in Ungarn die Donau angeblich zu Fuß durchquert werden konnte. Es ist schade, dass uns zwar viele dramatische Klimaereignisse aus der Vergangenheit als solche überliefert sind, oft aber nicht, wie die Menschen damit fertig wurden. Das Wissen könnte uns zupasskommen. (1473)

Vor 500 Jahren wurde die Macht des unabhängigen Rittertums in Deutschland - oder was davon noch übrig war -  militärisch gebrochen. Im Fränkischen Krieg zerstörte der Schwäbische Bund 23 sogenannte Raubritterburgen in Franken; im Ritterkrieg mussten sich die pfälzischen Ritter ihren Landesherren geschlagen geben. Der niedere Adel, das „Rittertum“, hatte sich jahrhundertelang in relativer wirtschaftlicher und politischer Unabhängigkeit behauptet. Damit war es in der frühen Neuzeit vorbei. Die Städte hängten die Ritter wirtschaftlich ab, die Landesherren zogen immer mehr politische Aufgaben und Besteuerungsrechte an sich. Den Rittern blieb oft nur, sich gegen Geld zu verdingen – im Staatsdienst oder als Söldner. Manche versuchten es auch als wegelagernde „Raubritter“. Modernisierung kennt meist auch Verlierer – wenn die eine Neigung zu Gewalt haben, wird das zum gesamtgesellschaftlichen Problem. (1523)

Vor 450 Jahren musste der neue König von Polen Heinrich von Valois in den Articuli Henriciani das Prinzip der freien Königswahl in Polen anerkennen. Demnach hatten alle Adligen des Landes das Recht, bei der Königswahl ihre Stimme abzugeben; alle Stimmen zählten gleich viel. Aus heutiger Sicht klingt das recht modern, und das war es auch. Allerdings musste man für die Wahl persönlich anwesend sein: Bei der Wahl Heinrichs waren 50.000 Adelige zusammengekommen. In der Praxis war die Königswahl dann immer ein unberechenbares Spektakel, dass sich über Monate hinziehen konnte. Wahlkampf wurde oft mit Geld und Androhung von Gewalt gemacht. So führten die Wahlen das Land mehrmals an den Rand des Bürgerkriegs und waren ein Element der Instabilität. Paradoxerweise war es die freiheitliche Verfassung, die es Polens böswilligen Nachbarn schließlich ermöglichte, Polens Unabhängigkeit und Freiheit zu beseitigen. (1573) 

Vor 300 Jahren reorganisierte König Friedrich Wilhelm I. die preußische Verwaltung und schuf damit den preußischen Beamtenstaat mit seinen Berufsbeamten. Geburt einer Legende. Und Auslöser mancher Albträume. Der König machte sich damit unabhängig von der Verwaltungsmotivation des Landadels. (1723) 

Vor 250 Jahren begann in Russland der Kosaken- und Bauernaufstand des Jemeljan Pugatschow gegen die Unterdrücker der ostrussischen Landbevölkerung. Anderthalb Jahre sollte er das Zarenreich in Atem halten, bevor er schließlich scheiterte. Es ist das Schicksal zentralistisch organisierter Flächenstaaten, dass sie oft Aufstandsbewegungen in randständigen Gebieten provozieren – China und Frankreich sind andere Beispiele. Die Aufstände sind selten erfolgreich – der Zentralismus ist meist gut darin, überwältigende Gegengewalt zu organisieren. (1773)

Vor 200 Jahren skizzierte der amerikanische Präsident James Monroe die sogenannte Monroe-Doktrin, wonach die USA allen Versuchen europäischer Mächte, noch einmal Kolonien auf dem amerikanischen Doppelkontinent zu erobern, entgegentreten würden: „Amerika den Amerikanern!“ Im Gegenzug erklärte er, die USA würden sich nicht in europäische Konflikte einmischen. Eine Form des kämpferischen Isolationismus, die heute unter umgekehrten Vorzeichen in Europa manche Freunde fände: „Europa den Europäern!“ Aber isolationistische Fantasien führen nicht weit. Je enger die Menschheit in der Globalisierung zusammenrückt, desto weniger können wir einander alle ignorieren. Fremdem Imperialismus auf europäischem Boden sollten wir trotzdem wehren. Whatever it takes. (1823) 

Vor 150 Jahren wurde die Villa Hügel in Essen fertiggestellt, das Wohnhaus der Industriellenfamilie Krupp. Die Villa ist ein bürgerliches Schloss – mit 269 Räumen hat sie royales Format. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein maß sich das deutsche Bürgertum am Adel; sammelte pseudoaristokratische Titel und Anreden (Doktor, Professor,  Geheimrat, Konsul, Direktor, Maestro); fuhr in immer größeren Karossen durch die Landschaft; und baute Villen und Schlösser – je größer, desto besser. Wir sind wohl dazu verdammt, die Narreteien unserer Vorfahren eine Zeitlang fortzuführen. Abgekupferte Dissertationen, SUVs und Monster-Eigenheime zeigen, dass wir mit dieser Phase noch nicht durch sind. Davon abgesehen sind Schlösser oft wunderschön. (1873)

Vor 100 Jahren besetzten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet und litauische Truppen das deutsche Memelland; riefen rheinische Separatisten unter dem Schutz französischer Gewehre eine rheinische Republik aus; versuchte die KPD im Hamburger Aufstand eine gewaltsame Revolution in Deutschland auszulösen; putschten Adolf Hitler und Erich Ludendorff gegen die deutsche Demokratie; erreichte die Inflation in Deutschland absurde Höhen. Ein annus horribilis für die Deutschen, das Weltuntergangsstimmung hervorzurufen geeignet war. Aber Deutschland ging nicht unter; nicht einmal die Weimarer Republik. Nur zwei Regierungen scheiterten. Ein Staatswesen kann fast alles aushalten, wenn Politiker und Bürger es aushalten wollen. (1923) 

Vor 50 Jahren traten Dänemark, Irland und Großbritannien der Europäischen Gemeinschaft bei. Da ist sie wieder, die Idee von der Einigung Europas. Wie die meisten guten Ideen, ist sie nicht totzukriegen. (1973)

 

Und jetzt wollen wir unsere eigenen Geschichten erleben.

 

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