Thorsten Kleinschmidt, 21. Juli 2022
Wir müssen über den großen Krieg in Europa reden und über Deutschlands Rolle darin. Dieser Krieg ist der mittlerweile fünfte, den die letzte große Kolonialmacht Europas, Russland, führt, um ihr altes Imperium zu behaupten – ein Reich, das einstmals bis Berlin-Mitte reichte. Aber anders als die zwei Kriege in Tschetschenien, der Krieg gegen Georgien und der erste Ukraine-Krieg 2014 zieht dieser Krieg die halbe Welt in Mitleidenschaft: Die europäische Friedensordnung ist in ihrem Kern bedroht, Energiepreise steigen in ungeahnte Höhen und weltweit wird das Getreide knapp.
Dieser Krieg wird uns auf verschiedene Weise erzählt: als Kampf zweier Imperien um Macht und Einfluss (der altlinke und altrechte spin – als wäre „der Westen“ etwas anderes als eine chaotische Ansammlung von Nationalstaaten); als Streit für eine mystische allrussische Einheit aller Ostslawen (der kitschige Dünnpfiff russischer Nationalideologen); als antifaschistisch motivierte Neuauflage des Großen Vaterländischen Krieges (die absurdeste Form russischer Volksverdummung seit dem Personenkult um Stalin); als Fortsetzung des Kampfes für Freiheit gegen östliche Barbarei (die x-te Wiederbelebung des uralten Perser-und-Hunnen-Traumas).
An all diesen Beschreibungen ist ein klein wenig dran, logischerweise: Denn selbst haarsträubendste Behauptungen wirken in irgendeiner Weise auf das Bewusstsein der Menschen und damit auf die Wirklichkeit des Krieges zurück. Und wenn auch nur ein einziger russischer Soldat glaubt, für die allrussische Einheit zu kämpfen, dann ist dieser Krieg für ihn tatsächlich ein Krieg für die allrussische Einheit.
Je weiter man aber als Betrachter vom Geschehen zurücktritt, desto sinnloser wirken diese Beschreibungen und desto mehr erkennt man andere Parallelen. Der Krieg um die Ukraine ist vor allem ein Kolonialkrieg – aus Sicht der Ukrainer ein Dekolonialisierungskrieg, aus Sicht der Russen ein Rekolonialisierungskrieg.
Die Ukraine – Opfer kolonialer Fantasien
Die Ukraine, das historische Zentrum des mittelalterlichen ostslawischen Staates, war immer die Kornkammer Osteuropas und darüber hinaus reich an Bodenschätzen. Gleichzeitig war sie viel westlicher geprägt als die Region um Moskau, von der die zweite ostslawische Staatsbildung ausging. Immer wenn sie die Macht dazu hatten, versuchten Moskauer Herrscher die wohlhabenden Gebiete südwestlich von ihnen unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie waren nach und nach erfolgreich: Es begann Mitte des 17. Jahrhunderts mit der Unterwerfung der Kosaken in der Dnjepr-Region und endete 1945 mit der Annexion der bis dahin polnischen Westukraine. Einheimische Eliten wurden ersetzt oder bei Wohlverhalten integriert, kulturelle Russifizierung vorangetrieben, wirtschaftliche Ressourcen rücksichtslos ausgebeutet – unter Stalin führte diese Politik zum Hungertod mehrerer Millionen Menschen. In gewisser Weise war die Ukraine für Russland, was Indien für das British Empire und was Algerien für das französische Kolonialreich war: die unverzichtbare Kolonie – reich (zumindest potenziell) und gleichzeitig ein wichtiger Bestandteil der eigenen imperialen Identität.
Deutschland war sich dieser Bedeutung der Ukraine lange Zeit bewusst. Beide Weltkriege waren auch deutsch-russische Rohstoffkriege um die Ukraine. Auch deutsche Eliten hätten die Ukraine gerne kolonialisiert („Lebensraum im Osten“). Das prägt die deutsche Debatte bis heute. Der Blick auf die Ukraine ist seltsam undifferenziert. Obwohl das Land eines der größten Europas ist, wussten bis vor kurzem nur wenige Deutsche, dass es eine ukrainische Sprache gibt; kaum jemand kennt Namen ukrainischer Dichter oder historischer Persönlichkeiten. Bekannt ist, dass die Ukraine „rohstoffreich“ und „umkämpft“ ist, zwischen Russland und „dem Westen“. Ein koloniales Objekt, um das man sich streitet; keine Nation, zu der man vielfältige Beziehungen aufbaut.
Deutscher Herrenmenschenpazifismus
Die klägliche Rolle, die Deutschland in diesem Krieg bislang spielt, hängt hiermit zusammen. Die diversen Offenen Briefe und anderen Wortmeldungen prominenter deutscher Friedensfreunde sind erschütternd in ihrer postkolonialen Herablassung. Würde man Großbritannien vorschlagen, um des lieben Friedens willen doch Schottland an Russland abzutreten? Sollte Frankreich in einem zum Glück imaginären Konflikt das bei fernöstlichen Touristen so beliebte Paris an China abtreten, um die Laune des Herrn Xi zu verbessern? Oder Deutschland Brandenburg an Polen? Russland St. Petersburg an Finnland? Würde man irgendeinem dieser Länder nahelegen, sich selbst aufzulösen, damit der Diktator von nebenan zufrieden ist? Nein. Bei der Ukraine ist das, scheint’s, etwas ganz anderes. Die ist nur ein Gebiet, das richtige Länder unter sich aufteilen dürfen – was die Eingeborenen wollen, ist nicht wichtig; was sollten die auch schon mit Freiheit anfangen, das kennen die doch gar nicht.
Die deutsche Politik ist zum Glück weiter als diese Vertreter herrenmenschlicher Friedenserziehung – aber nur ein bisschen weiter. Die Regierung Scholz stolpert den Ereignissen hinterher wie ein Hund, der von Frauchen an der Leine zum Tierarzt geschleift wird. Jeden Anspruch auf Führung und Gestaltung hat der Kanzler anscheinend aufgegeben: Wir tun das, was alle tun, nur später und schlechter.
Deutsche Interessen?
Nun ist Deutschland sicher nicht der ideale Ansprechpartner für die Organisation von Befreiungskriegen, liegen doch unsere letzten diesbezüglichen Erfahrungen zwei Jahrhunderte zurück. Unsere Interessenlage ist aber ganz klar: Eine Mittelmacht, die seit 1949 unablässig bestrebt ist, sich aus den Machtsphären von Supermächten herauszuwinden und zusammen mit ihren europäischen Nachbarn eine neue Form von Souveränität fürs dritte Jahrtausend zu entwickeln, muss sich in einem Kolonialkrieg immer auf die Seite der Angegriffenen und Unterdrückten stellen. Es muss immer deutsches Ziel sein, aggressive Großmächte so weit zu schwächen, dass sie zu weiterer Aggression in Europa nicht mehr fähig sind. Wenn der Preis dafür ein kalter Winter und eine Rezession sind, dann ist es eben so.
Warum also ist die deutsche Regierung derart zaghaft unterwegs? Wirtschaftliche Gründe können es eigentlich nicht sein: Aus der Abhängigkeit von russischen Rohstoffen müssen wir uns ohnehin lösen, und ansonsten hat uns auch ein unsanktioniertes Russland wirtschaftlich nicht besonders viel zu bieten – die anderen Länder der Osthälfte Europas, die wir gerade vor den Kopf stoßen, sind da zusammengenommen viel wichtiger. Auch der Gedanke, sich weiterhin als maßvoller Ansprechpartner für Russland profilieren zu wollen, überzeugt nicht wirklich: Was nutzt das, wenn man sich gleichzeitig als Ansprechpartner für die Ukraine und Bündnispartner für Länder wie Polen immer unglaubwürdiger macht?
German angst, Folge 317: "Der Russe"
Ist es Angst? In den letzten Monaten konnten wir viel über unser Land lernen; unter anderem dies: Ein beträchtlicher Teil der älteren Generation leidet unter etwas, das wir ganz laienhaft mal als Ohnmachtkomplex gegenüber Russland bezeichnen wollen. Der Begriff „Russland“ ist angstbesetzt – Ergebnis von Gewalt- und Ohnmachterfahrungen im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Vielleicht ist die für Ausländer auffällige Russophilie vieler Deutscher auch nur die Kehrseite dieser Angst: Man wünscht sich die Russen als Freunde, um keine Angst mehr vor ihnen haben zu müssen. Wenn diese herbeiphantasierte „Freundschaft“ in einer Krise endet, kommt die alte Angst zurück. Dabei haben Russen derzeit viel mehr Grund zur Sorge als Deutsche.
Angst ist ein schlechter Ratgeber, und Angsthasen sind schlechte Verbündete. Es erstaunt denn auch nicht, wenn Menschen in anderen Ländern die deutsche Politik in der Ukraine-Krise scharf kritisieren und das Vertrauen in Deutschlands Solidarität verlieren. Die deutsche Angst ist derzeit nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa ein schwerwiegendes Fortschrittshindernis.
Und die Ukraine? Wir ahnen, dass es nicht Deutschland sein wird, das die russischen Kolonialherren wieder vertreibt. Wie Algerier und Vietnamesen in ihren blutigen Befreiungskriegen sind auch die Ukrainer vor allem auf sich selbst angewiesen. Vor allem, aber nicht nur: Zum Glück gibt es mutigere Nationen, wie Polen, die Balten oder die USA. Zum Glück auch nimmt der Einfluss der ängstlichen Generation in Deutschland von Tag zu Tag ab, schon aus biologischen Gründen.
Mut ist ja die Fähigkeit, trotz Angst das Richtige zu tun. Herr Scholz?
Zu deutschen Interessen und möglichen Strategien demnächst mehr.
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