Thorsten Kleinschmidt, 12. Oktober 2021
Kriege sind Wegweiser in die Zukunft. Wenn gesellschaftliche und politische Gegensätze sich derart zu einem Gemisch unvereinbarer Interessen verdichtet haben, dass ein vielleicht nur zufälliger Funke zur Explosion führt, entsteht ein Fanal, das gleichzeitig Licht auf die Vergangenheit und die Zukunft wirft. Jeder Krieg ist ein verdammendes Urteil über die Epoche, die zu ihm hinführte, und doch auch eine in die Zukunft weisende Offenbarung – von Fehlentwicklungen nämlich, die wir überwinden müssen, wenn die Zukunft besser sein soll.
Wegzeichen kann er allerdings nur für die werden, deren Distanz zum Feuer so groß ist, dass sie nicht darin umkommen. Aus einer Geschichte lernen kann immer nur, wer sie überlebt. Wer so weit vom Schuss ist wie wir Deutschen, hat aber keine Entschuldigung dafür, das Lernen zu verweigern.
Haben Sie eine Viertelstunde Zeit? Dann können wir uns ein paar Entwicklungen anschauen, die das nächste Vierteljahrhundert prägen könnten – wenn wir uns dumm anstellen, feige den Kopf in den Sand stecken oder einfach Pech haben.
Was sagt uns dieser Krieg über das Europa von heute?
Europa ist aus dem Gleichgewicht – mal wieder. Vor einiger Zeit haben wir uns die europäische Kultur erklärt als das charakteristische Nebeneinander einiger scheinbar unvereinbarer Haltungen, als eine Struktur aus typischen Gegensatzpaaren:
- Individualismus und Gemeinschaftsorientierung
- Fortschrittsglaube und Liebe zur Tradition
- ökonomistische Effizienzorientierung und Kulturbewusstsein
- Rationalismus und Respekt vor der Fülle der menschlichen Persönlichkeit
- Für die politische Ebene sollte man noch die Spannung zwischen territorial übergreifender Reichsorientierung und regionaler Selbstbehauptung ergänzen.
Immer wenn diese Gegensätze sich in Balance befinden, ist Europa Vorbild der ganzen Welt; immer wenn nicht, ist Europa auf dem Weg in ein typisch europäisches Desaster.
Also dann: Zu sagen, dass hier derzeit einiges im Argen liege, wäre der Euphemismus des Jahres. Auf drei Ebenen ist Europa ins Kippen geraten:
1. Ein nationalistischer Kollektivismus verachtet wieder das Individuum.
Dass in Russland die politischen Rechte der Einzelnen unter Verweis auf vermeintliche Interessen des Volkes immer weiter beschnitten werden, ist ja keine neue Entwicklung – daran hatten wir uns leider schon fast gewöhnt. Neu ist, dass der Einzelne im Namen der russischen Nation jetzt sogar wieder im Krieg sein Leben opfern und dass er die Leben von Menschen einer anderen Nation vernichten soll. Das Kollektiv frisst das Individuum. Die propagandistische Vergötzung der Nation in Russland trägt faschistoide Züge. Menschen in der Ukraine kommen nicht umhin, sich ihrerseits auf kollektive Solidarität zu besinnen, wenn sie Leben und Freiheit bewahren wollen.
Die aggressive Überhöhung der Gemeinschaft ist eine Krankheit, die ansteckt: Diesseits des Njemen grassiert mittlerweile wieder eine pauschale Russenverachtung, die irgendwann auch in Gewalt umschlagen kann. Wie in der Ukraine ist aber auch in Westeuropa das neue Stammesdenken ein Sekundärphänomen. Der Ursprung des Problems liegt bei den russischen Eliten, die, statt die Geschichte des Bolschewismus aufzuarbeiten, einfach an die letzte Ideologie davor angeknüpft haben – den russischen Nationalismus.
Inwieweit hier der neue Nationalismus in Ländern wie Ungarn und Polen ins Bild passt, ist fraglich. In Warschau und Budapest arbeitet man sich zwar in absurder Manier an Feindbildern ab („Deutschland!“, „Die EU!“, „George Soros!“), aber von einer Verachtung des Individuums ist das doch weit entfernt. Selbst in Deutschland zerlegen rechte Parteien sich ja oft selbst, weil deutsche Nazis mittlerweile einfach zu individualistisch sind.
2. Ein Klammern an nationale Tradition verdrängt den Glauben an Fortschritt.
Das konnten wir ja schon beim Brexit in Großbritannien beobachten: Verklärende Fehlerinnerungen an die Glanzzeiten des Empire und den Zweiten Weltkrieg löschten den Wunsch aus, die politischen Strukturen Europas zukunftsfähig zu machen. Ähnlich nun in Russland: Den Eliten – und anscheinend auch vielen Normalbürgern – ist der Glaube abhandengekommen, das Land könne den Rückstand zum „Westen“ aufholen – wirtschaftlich, technologisch, politisch. Da wärmt man sich im kalten Wind der Globalisierung gerne an einer zuckrigen Phantasieerzählung vom ewigen Russland, wendet den Blick zurück und findet dort unter anderem die aus dem 19. Jahrhundert stammende Idee, Russland müsse sich nur von westlicher Dekadenz fernhalten und kämpferischer sein als die anderen, dann könne man sich den Fortschritt auch sparen.
Das Eintauschen des Fortschrittswillens gegen kuscheligen Historienkitsch ist eine Versuchung, der sich alle Länder Europas gegenübersehen – in Deutschland gibt es eine harmlos abgeschwächte Version in Form der neuen Liebe zu einer restaurativ verstandenen „Heimat“, mit Fachwerkhäuschen und traditionellen Bratwurstrezepten. Die Globalisierung macht vielen Menschen Angst und erschüttert mancherorts das Selbstvertrauen. Einfach so zu tun, als wäre alles wie in der guten alten Zeit, löst aber kein einziges Problem, ganz im Gegenteil.
3. Die Idee der Nation und das Organisationsprinzip des Reichs werden wieder einmal auf fatale Weise verwechselt.
Um dies zu erklären, müssen wir etwas ausholen, wollen aber versuchen, es kurz zu halten. Deshalb definieren und kategorisieren wir ein wenig holzschnittartig.
Ein
Reich ist idealtypisch eine Organisationsform, bei der mannigfaltige kleinere politische Einheiten in einer größeren Struktur zusammengeschlossen sind, ohne dabei ihr politisches Eigenleben zu verlieren. Die Provinzen im Römischen Reich, die Territorien im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (ja,
auch die EU ist ein Reich) – sie alle machten oder machen mehr oder weniger, was sie wollen, und legten oder legen ihre Ressourcen nur auf einigen Politikfeldern zusammen, freiwillig oder gezwungen.
Eine Nation dagegen stützt sich auf die einzelnen Bürger (oder früher auf Familienverbände) und räumt territorialen politischen Zwischenebenen wie den deutschen Bundesländern nur wenig souveränen Spielraum ein. Nationen können sich einem Reichsverband anschließen und dabei einen Teil ihrer Souveränität abgeben oder poolen, z.B. um sich besser gegen äußere Bedrohungen verteidigen zu können (so etwa 1569 der Zusammenschluss Polens und Litauens zur Rzeczpospolita). Sie können sich aus einem Reichsverband auch herauslösen (wie etwa bei der Auflösung des Habsburgerreiches 1918). Oder aber sie bleiben von vornherein für sich.
Wann immer aber nationale Patrioten versuchen, ihrer Nation ein Reich zu erobern und also Nation und Reich in einem Staat zu verbinden, geht die Sache schief. Nationalisten wollen ein souveränes Eigenleben der wie auch immer unterworfenen neuen Regionen nicht akzeptieren. Damit rufen sie die dortigen Patrioten auf den Plan – das Ergebnis sind langwierige Nationalitätenkonflikte, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit irgendwann zu Kriegen führen. Die nationalistischen Reichsbildungsprojekte des 20. Jahrhunderts, bei denen sich vor allem die Deutschen unrühmlich hervorgetan haben, führten zu zwei Weltkriegen. Die Reiche Jugoslawien und Sowjetunion existierten nur, solange sie sich nicht nationalistisch, sondern ideologisch (genauer: durch eine andere Ideologie) begründeten. Cum grano salis gilt das auch für die europäischen Kolonialimperien.
Die politische Klasse Russlands, die bis in die Haarspitzen nationalistisch motiviert ist, folgt nichtsdestotrotz dem fatalen Beispiel eines Hitler oder Mussolini, indem sie unter hanebüchenen historischen Vorwänden versucht, der russischen Nation ein (noch größeres) Reich zu erobern. Damit weckt sie den Widerstand nicht nur der Ukrainer, sondern der Menschen sämtlicher Nationen, die fürchten irgendwann Opfer dieses Reiches werden zu können. Die Putinisten in Moskau sind offenkundig höchst verblüfft: Zu Sowjetzeiten und unter dem Zaren haben Ukrainer, Balten, Polen und wer nicht sonst noch alles sich die russische Dominanz doch klaglos gefallen lassen, oder? (Na gut, die Polen nicht.)
Aber die Sowjetunion war kein nationalistisches russisches Projekt und hat die Existenzberechtigung der Nationen, die sie beherrschte, nie in Frage gestellt. Auch das Zarenreich war über Jahrhunderte hinweg nicht national begründet, sondern religiös – nicht als Herrschaft der russischen Nation über Nichtrussen, sondern als „Drittes Rom“, als politische Struktur der russisch-orthodoxen Kirche. Als sich das Zarenreich im Laufe des 19. Jahrhunderts nationalistisch neudefinierte, begannen prompt die Nationalitätenkonflikte und mit ihnen der Zerfall des Reichs.
Diese Verwechslung von Nation und Reich sehen wir auch bei bestimmten politischen Konflikten zwischen der EU und ihren Mitgliedsstaaten. Eine Ursache für den Brexit – und auch für den Streit zwischen Brüssel und Polen – war und ist die Befürchtung, dass es in Brüssel und andernorts Menschen geben könnte, die die EU nicht nur als eine moderne, demokratische und unimperialistische Form des Reichs betrachten, sondern auch als Nation, innerhalb deren für andere Nationen kein Platz ist. Also nicht wie in Russland eine Nation, die auch ein Reich sein möchte, sondern ein Reich, das auch eine Nation sein will. Beides trägt den Keim des Desasters in sich.
Auf diesen drei Ebenen hat Europa sein kulturelles Gleichgewicht verloren, und unser Gefühl trügt nicht: Hier gerät etwas ins Rutschen.
Warum ist Europa auf die schiefe Bahn geraten?
Mit den Ursachen sollten wir uns nicht allzu lange aufhalten – Historiker werden künftig viele Regalmeter analytischer Literatur dazu verfassen. Struktureller Hintergrund sind die Prozesse der Globalisierung, in denen manche Staaten, Regionen, Milieus keine Sicherheit und Prosperität verheißende Nische für sich finden. Aus einem gesellschaftlichen Krisenbewusstsein entsteht eine Zukunftsskepsis, die fatalerweise dazu führen kann, dass Menschen, die ratlos nach neuen politischen Rezepten für die schwierige Gegenwart suchen, in einer vermeintlich glorreichen Vergangenheit fündig werden. Tatsächlich wirkt denn auch die derzeitige Krise wie ein Rückfall in die Vergangenheit – Traditionalismus, kollektivistischer Terror, nationalistischer Imperialismus, das hatten wir ja alles schon einmal.
Allerdings gibt es so etwas wie einen „Rückfall“ in die Vergangenheit nicht. Es hat ja seinen Grund, dass die Vergangenheit vergangen ist: Historische Entwicklungen haben dazu geführt, dass die Welt heute anders ist als zu Zarenzeiten, und diese Entwicklungen kann niemand ungeschehen machen. Der Traditionalismus, der Kollektivismus, der Imperialismus der Gegenwart sind modern, wenn auch historisch inspiriert.
Die Krise der russischen Gesellschaft – und vielleicht der europäischen Gesellschaften insgesamt – ist real: Ein Gefühl wirtschaftlicher Gefährdung („wir sind nicht sicher“) und wachsender Ungleichheit („wir sind nicht respektiert und nicht gleichberechtigt“); eine Enttäuschung individualistischer Lebensansprüche („wir können nicht so leben, wie man leben soll“); eine Hilflosigkeit gegenüber globalisierten Eliten, die man nicht mehr glaubt, demokratisch kontrollieren zu können („wir können nichts gegen die da oben ausrichten“); fehlende Übung in einer Form von agiler Lebensführung, die eigene Perspektiven und Interessen in einer schnell sich wandelnden Gesellschaft effektiv zur Geltung bringen kann („wir sind nicht tüchtig genug für so eine Welt“); kulturelle Entfremdung („wir werden im eigenen Land mittlerweile wie Außenseiter behandelt“).
Menschen, die derart den sicheren Stand in ihrem eigenen Leben verloren haben, lassen sich von politischen Glücksrittern wie dem russischen Präsidenten auf die schiefe Bahn führen.
Die extremistische Überbetonung von Gemeinschaft, Geschichte und Imperium soll dann darüber hinwegtrösten, dass individuelles Glück, Fortschritt und nationaler Wohlstand unerreichbar scheinen.
Auf dieser schiefen Bahn aber geht es schnell abwärts.
Europa heilen - was können wir tun?
Europa wieder in die Balance zu bringen, ist eine Aufgabe für Generationen. Um die beschriebenen Krankheiten wirklich auszuheilen, müssten die Europäer lernen, sich in der Globalisierung heimisch und gut aufgehoben zu fühlen. Das wird dauern, und so lange können wir nicht warten. Aber schon heute sollten wir …
- … uns der Gefahren bewusstwerden, die diese kulturellen Schieflagen für ganz Europa mit sich bringen:
Ein neuer Nationalismus kann in allen Regionen des Kontinents alte Konflikte wieder hochkochen lassen oder neue schaffen. Ein statischer Traditionalismus wird Europa im Vergleich zu dynamischen Weltregionen weiter zurückfallen lassen. Die Verwechslung von Nation und Reich kann die europäische Integration zerstören und neue zwischenstaatliche Kämpfe um imperiale Interessensphären auslösen.
- … das Potenzial der europäischen Institutionen nutzen und institutionellen Fehlentwicklungen wehren:
Gegen Nationalismus hilft eine EU-Architektur, die einen als fair wahrgenommenen Interessenausgleich zwischen Nationen ermöglicht. Dabei darf die EU nicht anstreben, selbst wie eine Nation zu agieren – sonst provoziert sie den Widerstand nationaler Partikularpatrioten.
- … zuallererst aber Russlands Sieg in der Ukraine verhindern:
Sonst speichert unser kollektives Gedächtnis Nationalismus, Traditionalismus und Imperialismus wieder als Erfolgsrezepte ab. Die nächste Katastrophe wäre vorprogrammiert.
Mehr Pazifismus heute bedeutet mehr Krieg morgen.
Langfristig brauchen wir in Europa eine neue Freiheits- und Solidarordnung. Mit einer neuen politischen Kultur, bei der Menschen Verantwortung für Freiheit und Solidarität nicht nur in ihrem Nationalstaat übernehmen (schon das wäre ja phänomenal), sondern auch für Menschen in ihrer europäischen Nachbarschaft. Aber das ist ein wirklich dickes Brett.
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