Thorsten Kleinschmidt, im Dezember 2021
 

Das Jahr geht zu Ende, und mit ihm gehen Epochen. Die Post-9/11-Ära hat mit dem Rückzug aus Afghanistan einen Abschluss gefunden, und Angela Merkel ist nicht mehr Bundeskanzlerin. Adé, Adé.

Aber nicht dem Ende, dem Anfang wohnt ein Zauber inne, und um einen solchen soll es auch heute wieder einmal gehen. Um Europa.

Europa als Anfang? Ist nicht der alte Kontinent genau dies – der alte Kontinent? Alternde Bevölkerung, dysfunktionale politische Strukturen, nostalgische Wirtschaftsmodelle, stagnierende technologische Entwicklung, hilflose Außenpolitik?
 

Phönix Europa

Schon. Aber wenn je irgendwo ein Phönix aus der Asche gestiegen ist, dann in Europa. Dies ist der Kontinent, der auf die Heimsuchung durch die mittelalterliche Pest mit einer Renaissance reagierte; der aus der Katastrophe der Napoleonischen Kriege in eine Industrielle Revolution aufbrach; der nach dem Inferno zweier Weltkriege und zweier totalitärer Systeme eine freiheitliche zweite Moderne erfand, mit Wirtschaftswundern, Bildungsrevolutionen, Wohlfahrtsstaaten und millionenfacher individueller Selbstverwirklichung. Wie groß die Herausforderungen auch sein mögen: Zu Defätismus besteht weiß Gott kein Anlass auf dem Erdteil, der nur sechs Jahre nach dem Ende des brutalsten Krieges der Weltgeschichte die Europäische Gemeinschaft hervorgebracht hat.

Ja: Europa hat es vermocht, die alten Klassengesellschaften durch ein umfassendes System wirtschaftlicher Neuverteilung zu befrieden; und Europa ist es gelungen, seine massenmörderischen zwischenstaatlichen Konflikte durch das Konzept der europäischen Integration zu entschärfen. Dies sind Errungenschaften von welthistorischem Rang. Sie haben Europa den Preis für den innovativsten Kontinent im Zwanzigsten Jahrhundert tatsächlich noch gerettet. Das war nach dem neu-steinzeitlichen Tribalismus der Faschisten und der Wiedereinführung der mittelalterlichen Schollenbindung durch den Mauersozialismus kaum noch zu erwarten gewesen. Aber Europa ist ein Wunder.

Neue Herausforderungen und alte Träume

Mittlerweile nun stecken wir tief im Einundzwanzigsten Jahrhundert, und der Glanz des wundersamen Aufbruchs der Jahre nach 1989 ist verblasst. Pandemie, Klimakatastrophe, Großmachtimperialismus, Einwanderungsdruck, Populismus – in einer Zeit, in der die schlechten Nachrichten nur so auf uns einprasseln, wirkt Europa langsam, ratlos, unbeholfen und manchmal schon resigniert.

Viele Menschen schließen ganz fest die Augen und träumen sich in eine heile Welt der abgeschotteten Nationalstaaten zurück, wie es sie nie gegeben hat. Angesichts der verschiedenen Bedrohungen erhoffen sie sich von der Nation Sicherheit und Solidarität. Ein feste Burg ist unser Land: Mögen auch die Stürme der Globalisierung um die Mauern toben – im Innern des Hauses machen wir es uns warm und behaglich. Aber diese Hoffnung ist trügerisch. Die alten europäischen Nationen sind samt und sonders zu klein und zu schwach, um ihre Bürger wirksam schützen zu können. Die Fenster werden splittern, die Wände wanken, und am Ende fällt vielleicht das Haus der Nation über ihren Bewohnern zusammen. Menschen, die das in dieser Dramatik erleben, wie seit einigen Jahren die Bürger der Ukraine, möchten nichts dringender, als ihre Nation in einen größeren, stärkeren Verbund integriert zu sehen.

Andere Menschen träumen einen anderen Traum. Auch sie möchten beschützt werden, aber nicht von den Festungsmauern der Nation, sondern von einem großen Bruder. Wie in der guten alten Zeit des Kalten Kriegs, wollen sie auf die Vereinigten Staaten von Amerika vertrauen dürfen. Militärbündnis, gemeinsamer Wirtschaftsraum, geistige Orientierung durch die US-Kulturindustrie und den US-Wissenschaftsbetrieb – dann kann einem doch nichts mehr passieren, oder? Leider doch. Die Trump-Jahre haben gezeigt, dass auf den guten Willen der Amerikaner keineswegs Verlass ist. Die Biden-Jahre zeigen gerade, wie sehr der amerikanische Einfluss auf die Welt geschrumpft ist. Wenn einem der große Bruder Prügel androht, oder wenn er genau so ratlos ist, wie man selbst, ist es an der Zeit, auch aus diesem Traum aufzuwachen. Ganz zu schweigen davon, dass der Traum vom großen Bruder sich durch eine Kindlichkeit auszeichnet, die erwachsenen Träumern nicht unbedingt zur Ehre gereicht.
 

Europa zieht Schwäche und Stärke aus der Vergangenheit

Also Nationen nicht, große Brüder nicht – was fangen wir denn dann an mit der schwierigen Zukunft? Treten wir doch mal einen Schritt zurück: Unser Kontinent ist nicht älter als andere, aber stärker als andere lebt er auf Tuchfühlung mit seiner Vergangenheit. Er wird gequält von seinen Erinnerungen, und er wird beseelt von seinen Erinnerungen. Weil uns die alte Klassengesellschaft, wirtschaftliche Zusammenbrüche, Kriege und Fremdherrschaften immer noch in den Knochen stecken, sind wir Europäer oft vorsichtig und zaghaft, aber auch streitsüchtig und rechthaberisch. Da wir uns andererseits aber auch an grandiose kulturelle Aufschwünge, energische Aufbrüche und rasanten Fortschritt erinnern, hegen wir einen Ehrgeiz und einen Selbstanspruch, denen die Zeitläufte nichts anhaben können.

All das schlägt sich in den großen Unternehmungen der Europäer nieder, zuvörderst in der Europäischen Union, dem aktuellen der vielen Versuche, Europa eine vernünftige politische Struktur zu geben. Die Union ist häufig von Streit gelähmt, und die Angst vor Veränderungen macht den Fortschritt allzu oft zur Schnecke. Gleichzeitig halten die Europäer aber entschlossen an ihr fest. Sie würden sie mit Klauen und Zähnen verteidigen, wie einst die Römer ihr Imperium oder die Deutschen das Heilige Römische Reich. Wer die Union zerstören wollte, müsste sie wahrscheinlich über viele Jahre mit Krieg und Gewalt überziehen – oder sie durch eine bessere Union ersetzen.

Zwar ist es nicht schwer sich Situationen vorzustellen, in denen die EU handlungsunfähig und dysfunktional wird. Unvorstellbar ist aber, dass die Länder Europas in diesem Fall nicht versuchen würden, das System zu reformieren oder bei der Integration einen kompletten Neuanfang zu machen. Selbst wenn – aufgrund irgendeines Ratschlusses der Götter – die EU sich heute Abend auflösen würde; bis morgen Abend hätten sich die Kernstaaten der Union auf ihre Neugründung verständigt. Egal was Europa-Verächter in Moskau und London, Washington und Peking denken und hoffen mögen: Das zweitausend Jahre alte Projekt einer Integration des Kontinents wird sich nicht in Luft auflösen. Es wird keine Rückkehr zum furchterregend instabilen Mächtekonzert des frühen 20. Jahrhunderts geben. Dafür stehen der ererbte Ehrgeiz der Europäer und ihre durch Krieg und Unterdrückung mühsam geschulte Vernunft.

Die politische Gemeinschaft der europäischen Staaten wird bleiben. Nicht ausgemacht ist jedoch, wie gut sie unsere Werte und Interessen gegenüber der Außenwelt wird behaupten können. Unsicher ist auch, ob sie uns das Selbstvertrauen und die Zuversicht einzuflößen vermag, die wir brauchen, um uns entschlossen und tatkräftig der Zukunft zuzuwenden. Zwar werden kulturelle und wirtschaftliche Blüten nicht in politischen Treibhäusern herangezogen, ungünstige politische Rahmenbedingungen können ihre Entwicklung aber behindern.
 

Ein neuer Aufbruch für Europa

Was machen wir nun aus all diesen Überlegungen? Vielleicht zerlegen wir die Frage in freier Anlehnung an Immanuel Kant in vier Teile:

1. Was können wir wissen?

Die Zukunft ist ungewiss – die Vergangenheit ist es nicht. Aus ihr erkennen wir: Europas Traditionen sind äußerst widerstandsfähig – die Europäer werden sich fremden Dominanzansprüchen kultureller, wirtschaftlicher oder politischer Art nicht einfach fügen. Gleichzeitig überrascht Europa immer wieder durch seine schöpferische Kraft – gerade in Krisenzeiten gelingt es den Europäern, sich neu zu erfinden. Was für die Große Pest, den Dreißigjährigen Krieg, die Napoleonische Erschütterung und die Weltkriege gilt, sollte für die multiplen, aber im Vergleich doch recht harmlosen Krisen unserer Zeit erst recht gelten. Die Europäer sind für die Zukunft so gut gerüstet wie eh und je.
 

2. Was sollen wir tun?

Was Europäer seit jeher ausgezeichnet hat: arbeiten und Neues wagen. Machen wir fürs Erste einen neuen Anfang bei unserer Europäischen Union: Die alten Strukturen der EU von 1993 taugen uns nicht mehr, aber alle Reformen der letzten fünfundzwanzig Jahre waren nur Stückwerk. Wir brauchen einen neuen großen Wurf, der die Macht zwischen Union und Nationalstaaten sauber verteilt und die politischen Strukturen von Grund auf neu denkt. Dabei sollten wir keine Angst mehr vor einem Europa der zwei oder mehr Geschwindigkeiten haben. Dass die Regionen des Kontinents sich unterschiedlich schnell entwickeln, ist historisch der europäische Normalfall und nicht schlimm, solange die grobe Richtung übereinstimmt. Schon immer haben dynamische Regionen weniger dynamische hinter sich hergezogen. Was wir nicht mehr zulassen dürfen ist, dass die Zauderer die Innovativen ständig ausbremsen – Zeit hat Europa nicht mehr zu verlieren.
 

3. Was dürfen wir hoffen?

Nicht weniger, als dass uns die nächste Blütezeit Europas bevorsteht. Wie Europas Staaten in Krisenzeiten zusammenhalten; wie sie ihre Konflikte friedlich mit Hilfe gemeinsamer Institutionen regeln; wie die Europäer ihre Gesellschaften durch das große Solidaritätsversprechen des Wohlfahrtsstaates stabil halten - all das ist weltweit einmalig. Leichter als je zuvor finden begabte Menschen aus allen Bevölkerungsschichten die wissenschaftliche Bildung, die sie brauchen, um ihre Lebensideen umzusetzen. Zwar haben wir in Europa alle ein wenig Speck angesetzt – mehr Bürokratie, als wir uns leisten sollten, und ein übersteigertes Sicherheitsdenken, dass ausgehend von den Alten auch jüngere Generationen erreicht hat. Aber wenn selbst im erzkonservativen Deutschland eine neue Regierung unter öffentlichem Beifall „große Veränderungen“ verspricht, dann hat die Geschichte das letzte Wort über den Vorwurf, Europa sei unbeweglich und gedankensteif, noch nicht gesprochen. Gerade dieser Kontinent könnte das neue Gesellschaftsmodell entwickeln, das Wohlstand, Klima, Gerechtigkeit und auch wohlverstandene Sicherheit unter einen Hut bringt.
 

4. Was ist Europa?

Keine geografische Zufälligkeit, kein historischer Themenpark, sondern eine Idee. Europa, das ist ein Ideal vom guten, vom richtigen Leben; ein Ideal, das seit langem in aller Welt Bewunderer inspiriert. Europa steht für den Glauben, dass es möglich ist, vier Widersprüche zu einem harmonischen Ganzen zu verbinden:

  • Die Selbstverwirklichung des Individuums in Freiheit, für die die Europäer in unzähligen Revolutionen auf die Barrikaden gegangen sind – und andererseits das Dasein starker solidarischer Gemeinschaften, wie sie von den wohlfahrtsstaatlich verfassten Nationen verkörpert werden.
     
  • Der Hunger nach Fortschritt und die Neugier auf das Unbekannte, wie sie die europäischen Entdecker auf die Weltmeere trieben, die moderne Wissenschaft schufen, die Industrielle Revolution bewirkten – und andererseits der Stolz auf die eigene Tradition: das Geschichtsbewusstsein, das die Gesichter europäischer Innenstädte so unverwechselbar macht.
     
  • Der Drang zur wirtschaftlichen Effizienz und zum materiellen Gewinn, der Europa zu einer der reichsten Regionen der Erde gemacht hat – und andererseits das Kulturbewusstsein: die Entschlossenheit immaterielle Werte gegenüber allen Geld- und Machtinteressen zu behaupten, wie sie in der großen europäischen Geistestradition zutage tritt – in Kunst und Musik, Literatur und Philosophie, Wissenschaft und Religion.
     
  • Der europäische Rationalismus: das nüchterne Bestreben, die Welt rational zu begreifen und zu gestalten, wie es in der Erfindung der modernen Wissenschaft und Technik greifbar ist – und gleichzeitig der Respekt vor der Fülle der menschlichen Persönlichkeit mit ihren Gefühlen und Leidenschaften, Träumen und Sehnsüchten, inneren Widersprüchen und Unzulänglichkeiten. Das Nebeneinander von Aufklärung und Romantik, von Technologie und Psychoanalyse, von Selbstoptimierung und Achtsamkeit.

Der europäische way of life, nein: die europäische Lebensart versucht dies alles zusammenzubringen. In der harmonischen Versöhnung dieser Gegensätze sehen wir Europäer die gute Gesellschaft und das gute Leben.

Das ist weiß Gott ein ehrgeiziges Vorhaben. Seine Umsetzung ist ein ständiger Kampf, der nie dauerhaft von Erfolg gekrönt ist. Dies europäische Ideal ist denn auch nicht deswegen europäisch, weil wir Europäer tatsächlich so leben, sondern weil wir ihm unser Leben lang nachstreben. Wir wollen hochindividualistisch sein und uns gleichzeitig in unseren Gemeinschaften sicher aufgehoben fühlen. Wir wären gerne die Speerspitze des Fortschritts und lieben es, uns im Glanz unserer Traditionen zu sonnen. Wir wollen wirtschaftlich erfolgreich sein und lehnen gleichzeitig Materialismus ab, als kultivierte Bildungsbürger, überzeugte Christen oder engagierte Klimaretter. Wir sehen uns als aufgeklärte, rational handelnde Menschen und wollen doch auch sämtliche Regungen unseres empfindsamen Seelenlebens ernst genommen wissen.

Erstaunlicherweise gelingt es Europäern immer wieder, das alles eine Zeit lang zu vereinen. Auf der persönlichen Ebene ist dies oft leichter als im Felde der Politik. Hier ist die Herausforderung: Wie muss ein politisches Gemeinwesen aussehen, das diese Widersprüche nicht nur aushält, sondern sie in eine gute Gesellschaftsordnung verwandelt? Und zwar nicht nur für die einzelne Nation, die heute immer zu stimmschwach für die Weltbühne ist, sondern für den ganzen Kontinent?

Damit müssen wir uns im nächsten Jahr beschäftigen.

 

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