Thorsten Kleinschmidt, 11. November 2021
 

Koalitionsverhandlungen, Regierungsbildung. Je älter man wird, desto mehr vergällen einem Déjà-vus die Hoffnung auf die Zukunft. Vor vier Jahren haben wir hier die Herausforderungen skizziert, denen die damals um einen Koalitionsvertrag ringenden Parteien in ihrem Regierungsprogramm – und vor allem in ihrem künftigen Regierungshandeln – sich würden stellen müssen. Die deutsche Gesellschaft zerfiel in Milieus; Weltwirtschaft und Weltkultur standen vor einem technologischen Sprung; neue Völkerwanderungen standen bevor; ehrgeizige Weltmächte versuchten, ihre Interessen auf unsere Kosten durchzusetzen; unser europäischer Sicherheitsraum war durch eine Erosion der EU bedroht; und unsere natürliche Umwelt veränderte sich in Folge des Klimawandels.

So war das damals. So ist es heute. Denn auf kein einziges dieser Probleme hat die letzte Regierung Merkel dann eine überzeugende Antwort gefunden. Natürlich wäre es vermessen gewesen, für eine einzelne Legislaturperiode eine Lösung der nationalen und globalen Probleme zu fordern. Aber die ein oder andere Idee, den ein oder anderen Plan, den ein oder anderen energischen Schritt in eine als richtig erkannte Richtung – das hätte man schon erwarten dürfen. Damit die Dinge wenigstens langsam besser werden können. Doch nein. Zu verhindern, dass die Dinge schnell schlimmer werden, hat dieser Regierung immer gereicht. Darüber hinaus navigierten die Steuerleute des deutschen Staatsschiffs nach der erprobten Faustregel „Wer nicht weiß, wo er hinwill, kann sich nie verirren.“

So, und jetzt wollen wir den Mantel der Barmherzigkeit über das Vergangene decken und es doch noch einmal mit Hoffnung auf die Zukunft versuchen. Oder zumindest mit Wünschen. Mit einem einzigen. Vielleicht hilft es ja. Also: Lassen Sie uns zusammen wünschen, dass deutsche Politiker ihrer Politik – und damit uns allen – nicht länger so mittelmäßige Ziele setzen mögen.

 

Wider die Mittelmäßigkeit in der Politik


Politiker – und wir alle – könnten große Ziele haben, könnten viel wollen – die Welt heil machen oder sie doch zumindest ein gutes Wegstück voranbringen. Die meisten politisch denkenden Menschen träumen von politischen Heldentaten, und das ist gut so.

Aber wir sind mit Mittelmäßigem zufrieden. „Politik ist die Kunst des Möglichen“, haben wir von Bismarck gelernt und nehmen das als Vorwand, Großes gar nicht erst anzustreben. Dabei weiß man doch erst, was möglich ist, wenn man ernsthaft etwas versucht hat, das sich als nicht möglich erwies. Wer von vornherein niedrig zielt, erspart sich Mühe und Enttäuschung, richtet sich aber gerade nicht am Kriterium der Menschenmöglichkeit aus, sondern an denen der Bequemlichkeit und der Sicherheit. Bequem ist eine Politik, die uns keine Überzeugungsarbeit bei politischen Partnern, politischen Gegnern oder beim Wahlvolk abverlangt. Sicher ist eine Politik, die kein Scheitern, keinen Ansehens- oder Machtverlust befürchten lässt.

Deutschland ist ein Land, in dem gewohnheitsmäßig niedrig gezielt wird. Zum Jagen muss man uns tragen. Es ist ein seltsamer Widerspruch: Zwar sind wir nie zufrieden, dennoch geben wir uns schnell zufrieden.
 

Klimakrise:
„Emissionsziele für den Sanktnimmerleinstag festlegen? – Na also, schon ist die Kuh vom Eis.“

Kriege in der Nachbarschaft:
„Andere sagen, sie kümmern sich? – Dann ist doch gut.“

EU-Krise:
„Vielleicht mal ein Mini-Reförmchen anregen? – O.K., mehr ist doch eh nicht zu erreichen.“

NATO-Krise:
„Arbeitskreis? – Reicht.“

Angst vor Altersarmut:
„Mini-Grundrente? – Thema erledigt.“

Ungerechtes Steuersystem:
„Winzige Erhöhung der Freibeträge? – Vorsicht, muss ja alles berechenbar bleiben“.

Überlastetes Gesundheitssystem:
„Bitte mehr Wertschätzung fürs Personal: Alle einmal klatschen! – Ja gut, für mehr reicht das Geld ja eh nicht.“

 

Und so weiter. Eine Politik, die die Probleme nachhaltig zu lösen versucht, wäre für Politiktreibende wie Politikkonsumierende ja unbequem und unsicher. Weltpolitische Selbstertüchtigung der Europäer? Neubau der Alterssicherung, gar des Sozialstaats insgesamt? Klimaschutzfahrplan bis 2030? Fundamentalreform der EU? Initiativen für eine neue Sicherheitsarchitektur ums Mittelmeer herum und in Osteuropa? Nachhaltiger Umbau des Steuersystems? Uiuiui …

Zur Begründung unserer mittelmäßigen Ziele behaupten wir gerne, mehr sei nicht durchzusetzen, man müsse halt Kompromisse machen. Oder: Dies sei der Preis der Stabilität. Aber das kann vielleicht eine Begründung für mittelmäßige Ergebnisse sein, niemals aber für mittelmäßige Ziele. Das Artikulieren ehrgeiziger Ziele hat einen Wert, der über politische Pragmatik hinausgeht. Es zeigt Wege in die Zukunft, vermittelt Orientierung, mobilisiert Menschen und schafft ein Klima für Exzellenz.

Es macht einen Unterschied, ob man sagt: „Wir wollen in eine glänzende Zukunft, wir wissen auch den Weg, es ist prinzipiell machbar, heute haben wir noch nicht genug Mitstreiter, aber vielleicht morgen. Macht alle mit und sagt, was ihr denkt!“

Oder aber: „Die Zukunft ist schwierig und nichts Genaues weiß man nicht. Deshalb bringt es auch nichts, sich viele Gedanken zu machen und viel zu unternehmen. Es könnte sich ja alles als falsch erweisen. Machen wir lieber nur das, von dem wir genau wissen, dass es was bringt, und machen wir dabei bloß niemanden unruhig. Denken überlassen wir den Kühen, die haben einen größeren Kopf. In Zukunft wird es bestimmt schwierig, aber heute ist es doch noch ganz schön. Und vielleicht geht es ja irgendwie gut, wäre doch möglich.“

Mittelmäßige Politik ist etwas anderes als maßvolle Politik – sie ist das Gegenteil davon! Wenn Fanatismus ein Radikalismus des Wollens ist, der die Wirklichkeit ignoriert, ist Mittelmäßigkeit ein Extremismus der Gleichgültigkeit. Der Mittelmäßigkeit mangelt es schon am Willen selbst: Ist ja alles nicht so wichtig, deshalb brauchen wir auch nicht groß was zu tun, bringt ja wahrscheinlich eh nichts, Hauptsache das Büro ist im Winter gut geheizt.

Ich will keine Politiker, die mir sagen: „Ja, wir haben die Probleme erkannt, aber es ist ja so schwierig, deshalb machen wir nur ein bisschen was.“ Ich hörte lieber: „Ja, wir haben die Probleme erkannt, und es ist schwierig, aber wir wissen, was da zu machen ist, nämlich das, dies und jenes. Es gibt viel zu tun, und wir haben keine Zeit zu verlieren. Kommt, was meint ihr, wo sind eure Vorschläge?“

Liebe Ampel-Politiker! Es gibt in Deutschland und Europa so viele zukunftsweisende Vorschläge, so viele ehrgeizige Ideen. Irgendjemand muss endlich anfangen, einige davon umzusetzen. Ihr.

 

 

Noch keine Kommentare

Kommentar schreiben

Die angegebene E-Mail-Adresse wird nicht dargestellt, sondern nur für eventuelle Benachrichtigungen verwendet.

Um maschinelle und automatische Übertragung von Spamkommentaren zu verhindern, bitte die Zeichenfolge im dargestellten Bild in der Eingabemaske eintragen. Nur wenn die Zeichenfolge richtig eingegeben wurde, kann der Kommentar angenommen werden. Bitte beachten Sie, dass Ihr Browser Cookies unterstützen muss, um dieses Verfahren anzuwenden.
CAPTCHA

Standard-Text Smilies wie :-) und ;-) werden zu Bildern konvertiert.
BBCode-Formatierung erlaubt