Thorsten Kleinschmidt, 25. Januar 2018

Alles Widerstreben hat nicht geholfen - der Sog der Zeit hat uns ins Jahr 2018 gezogen. Wie die Sandkörner in der Eieruhr haben wir die Engstelle des Jahreswechsels passiert und fallen ungebremst in die Zukunft. Unsere Lebenszeit verrauscht, und die Welt um uns herum verändert sich von Sekunde zu Sekunde.

Nur im politischen Berlin hat man scheints schon das verklärte Stadium der Olympischen Götter erreicht, die in Ewigkeit unwandelbar über den Welten thronen, unbeirrbar ihren seligen Obliegenheiten nachgehend; und wenn unten tief in den Tälern Königreiche zerfallen und Menschenwerke vergehen, dann ist ihnen das nur Tand, verglichen mit den Herausforderungen ihrer göttlichen Zwistigkeiten und Eifersüchteleien.

Wie schön und heiter muss eine Existenz sein, in der die Frage nach der strategischen Positionierung der Partei X bei der Wahl Y im Jahr Z wichtiger ist als die großen und kleinen Daseinsfragen der Sterblichen, als die Angst vor dem Schwinden der Lebenschancen, vor Not und vielleicht sogar vor Krieg.

Wie beglückend muss eine Daseinsform sein, die es ermöglicht, hoch über dem Schlamm der braunscholligen Erde auf elysischen Wolken zu schweben und Unterhalt wie Rechtfertigung in nichts anderem zu finden als im ewigen Gespräch, dessen unsterbliche Form von der irdischen Bürde der Effektivität so gründlich befreit ist wie politische Schönsprecherei von der Last der Verantwortung.
 

Seit bald vier Monaten wird in Deutschland nicht mehr ernsthaft regiert
 

Ausfahrt Zukunft
Wo, bittschön, geht's hier in die Zukunft?

Seit bald vier Monaten wird in Deutschland nicht mehr ernsthaft regiert – solange liegt die Bundestagswahl schon zurück, deren Ergebnis die führenden Politiker des Landes völlig überfordert. Da wird sondiert, diskutiert, enerviert, lamentiert. Und dann gebiert der Berg eine Maus: ein Sondierungspapier, das im Wesentlichen wie eine Fortschreibung der Vergangenheit aussieht: ein wenig am Soli schrauben, ein bisschen an der Krankenversicherung herumbasteln, ein Quäntchen mehr Altersversorgung versprechen, nochmal zu einem Einwanderungsgesetz Anlauf nehmen,  eine gefühlte Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen aufs geduldige Papier bringen, ganz doll irgendein nicht näher ausgeführtes Engagement für Europa versprechen und was der freundlichen Nichtig-, Kleinig- oder Selbstverständlichkeiten noch so sind.  Da ist vieles schön und gut und manches auch längst fällig.

Längst fällig – das sagt man, wenn mit Verzögerung auf diejenigen Herausforderungen von gestern reagiert wird, die auch heute noch einer Antwort harren. Aber was ist mit den Herausforderungen von morgen?
 

Sondierungspapiere und Koalitionsverhandlungen – Zukunft findet hier nicht statt
 

Zukunft findet hier nicht statt. Die großenteils älteren Herrschaften, denen wir das Papier verdanken, scheinen sich damit begnügen zu wollen, lediglich ein paar ihrer Versäumnisse aus den letzten Jahren aufzuarbeiten. Sollte auf dieser Grundlage eine Regierung gebildet werden, so dürfte die Ära Merkel unter demselben Mehltau der Gedankensteife ihrem Ende entgegenkümmern wie einst die Ära Kohl. Nur dass dann keine andere Volkspartei mehr bereit steht, um die Landschaften wieder zum Blühen zu bringen.

Dass wir uns nicht falsch verstehen: Deutschland geht es gut. Aber das wird nicht so bleiben, wenn die Welt sich ändert, wir aber nicht. Die Zukunft fordert uns heraus, und wir sollten uns endlich stellen.
 

Deutschland – Herausforderungen der Zukunft
 

1. Die deutsche Gesellschaft zerfällt in Milieus – ökonomische, demographische, ethnische, geographische und kulturelle.

Boni-Banker und Flaschensammler, Kreuzfahrt-Rentner und Alleinerziehende, Heimatfundamentalisten und Heimatlose, Altdeutsche und Neubürger, Areligiöse und Islamisten, Starnberger und Ruhrpottler, Linksgrünbewegte und Pegidaner – das ohnehin Ungleiche wird seit Jahren immer ungleicher. Und das ist nicht gut so, denn eine Spirale der Entfremdung wird allzu schnell zu einer Spirale der Gewalt, zunächst struktureller, dann verbaler, irgendwann physischer. Flüchtlingsheime haben ja schon gebrannt.

Dagegen helfen Reformprojekte, die zum einen symbolisch alle Bürger und Bewohner dieses Landes einbeziehen und zum anderen verhindern, dass die Milieus materiell noch weiter auseinanderdriften. Wir brauchen nicht weniger als einen Neubau des Sozialsystems und die Mutter aller Steuerreformen. Das wissen wir alle auch eigentlich seit anderthalb Jahrzehnten. Nur passiert ist nichts. Und jetzt wieder nicht.

 
2. Weltwirtschaft und Weltkultur stehen vor einem technologischen Sprung.

Nicht nur die Digitalisierung ist geeignet, unsere Welt tiefgreifend zu verändern. Entwicklungen in Medizin und Genetik – und daran anschließend in der Gentechnik – könnten zu noch größeren Umbrüchen in unserem Leben und in unseren Weltbildern führen. Auch die Entwicklung bei den erneuerbaren Energien ist noch für manche Überraschung gut.

Bislang gab es so gut wie keinen politischen Willen, diese Entwicklungen in Deutschland zu gestalten. Wir hätten das wissenschaftliche und technische Vermögen, auf vielen Gebieten voranzugehen, und hinken doch meistens hinterher. Datensicherheit, öffentlich-rechtliches Internet, E-Demokratie, autonomes Fahren, E-Mobilität, Zukunft der Arbeit, Energiesicherheit, Umweltschutz in einer Welt mit zehn Milliarden Menschen – das alles sind Themen, für die dieses Land mehr als die meisten anderen eine historisch gewachsene kulturelle und technische Kompetenz haben sollte. Unsere Gesellschaft ist allerdings so zaghaft-träge, dass wir den Staat als Motor für große Entwicklungsprojekte brauchen.  Also politische Führung bitte!


3. Neue Völkerwanderungen stehen uns bevor.

Die Flüchtlingskrise von 2015 war erst der Anfang. Solange Europa reich und sicher, Afrika und Westasien arm und unsicher bleiben, werden sich noch Millionen Menschen auf den Weg zu uns machen. Unkontrollierte Massenmigration bedroht sowohl die Stabilität der Aufnahme- als auch die der Herkunftsländer. Und mit ein paar Maschendrahtzäunen werden sich die Probleme nicht lösen lassen.

Wir müssen eine ganze Erdregion stabilisieren; zwischen Mauretanien im Westen und Afghanistan im Osten. Eine Aufgabe für Generationen. Bis dahin werden wir ein Einwanderungsland sein. Wir brauchen eine Strategie zur Gestaltung von Einwanderung und die Instrumente zu deren Umsetzung. Wir brauchen einen echten europäischen Grenzschutz. Und eine Politik, die sich dieser Aufgaben annimmt.


4. Ehrgeizige neue und alte Weltmächte werden versuchen, ihre Interessen auf unsere Kosten durchzusetzen.

Ob Russland, China oder die USA, ob Pakistan, der Iran oder Saudi-Arabien – in der globalisierten Welt wird der Kreis der Staaten, deren Politik unmittelbar Einfluss auf unsere Sicherheit und unseren Wohlstand hat, immer größer.  Oft kollidiert das, was die Eliten dieser Staaten als ihre Interessen ansehen, mit dem, was wir für die unsrigen halten. Und je mächtiger sie sind, desto stärker sind die Länder versucht, ihre Interessen mit Zwang und Gewalt durchzusetzen. „Dialog‟ ist nur dann eine erfolgversprechende Vorgehensweise, wenn beide Seiten annähernd gleich stark sind.

Die deutsche Politik muss sich in die Lage setzen, Machtpolitik zu betreiben, um anderen immer auf Augenhöhe begegnen zu können. Dazu brauchen wir in der Außenpolitik Machtmittel und Strategien zu deren Anwendung. Also nicht nur „Partnerschaft‟, „Verlässlichkeit‟ und „Dialogbereitschaft‟, sondern Entschlossenheit und Ellenbogen.
 

5. Unser europäischer Sicherheits- und Wirtschaftsraum ist durch eine Erosion der EU bedroht.

Dank der Existenz der EU ist Deutschland sicher, wohlhabend und einflussreich wie nie zuvor in seiner Geschichte. Ohne die EU dagegen würden wir all dies verlieren und zurückgeworfen auf den Stand von vor 1914.

Wir brauchen eine Reform der EU an Haupt und Gliedern. Eigentlich wissen das auch alle, behaupten auch, es zu wollen. Französische Vorschläge liegen auf dem Tisch. Die braucht man nicht gut zu finden; allein wo sind deutsche Ideen? Martin Schulz behauptet, sie zu haben. Na, denn mal tau!


6. Unsere natürliche Umwelt verändert sich in Folge des Klimawandels.

Das ist bekannt. Was man dagegen tun kann, auch.  Deutschland hat sich einst zum Vorreiter beim Klimaschutz erklärt. Jetzt, wo an manchen Orten, vor allem in den USA, beim Klimaschutz wieder zurückgeritten wird, schwindet auch hierzulande sichtlich die Lust, weiter vorzupreschen.

Wir müssen den Ehrgeiz wiederfinden, zu zeigen, dass man Klimaschutzziele einhalten kann, ohne an Wohlstand einzubüßen. Politischer Ehrgeiz? Also politischer Ehrgeiz, der sich nicht im Erreichen von Karrierezielen erschöpft? Gestaltungsehrgeiz? Nicht im GroKo-Deutschland. Oder doch?



Bedarf an politischen Zukunftsvisionen ist im Übermaß vorhanden. Wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen, tönte einst Helmut Schmidt. Aber der Mann hat sich zuweilen überschätzt. Tatsächlich ist es so:

Wer nicht weiß, wo er hinwill, kann sich nicht verirren – das halten die Schmidts und Merkels sich immer zugute. Er wird aber auch nie irgendwo ankommen, wo er bleiben mag.
 

So – und jetzt sollen Koalitionsverhandlungen beginnen. Gibt es denn tatsächlich etwas in den Plänen der Parteien, über das zu verhandeln sich lohnt?

 

Thorsten Kleinschmidt, 25. Januar 2018

 

Bild:
By Abfahrt_Harburg.jpg: NordNordWest derivative work: Cornelius Kibelka (WMDE) 
(This file was derived from  Abfahrt Harburg.jpg:) 
[CC BY-SA 3.0 de (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)], 
via Wikimedia Commons

 

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