Am 3. Oktober 2020 feiern wir ein Jubiläum: Vor 30 Jahren wurde Deutschland wiedervereinigt. 

Allerdings nicht zum ersten Mal. 

Die vorletzte Wiedervereinigung liegt 150 Jahre zurück, die vorvorletzte 205 Jahre, die vorvorvorletzte 372 Jahre, und wenn wir weiter zurückblicken, finden wir noch ein paar Reunionen mehr.

Wir haben hier in Mitteleuropa ein gewisses Problem, überregionale staatliche Strukturen auf Dauer zu stellen. Diverse fränkische Reichsteilungen, zahlreiche mittelalterliche Doppelkönigswahlen, das konfessionelle Auseinanderfallen des nie zu Ende reformierten Reichs, die dynastischen Kriege des 18. Jahrhunderts, die Selbstaufgabe des Reichs gegenüber Napoleon, der Zerfall des Deutschen Bundes im Krieg von 1866, schließlich die Teilung von 1949 - jeder Wiedervereinigung ging eine Spaltung voraus. Woher kommt diese Instabilität überregionaler politischer Strukturen?

Mächte und Mentalitäten

Gewiss spielt der Druck äußerer Großmächte eine Rolle, für den Deutschland aufgrund seiner Mittellage immer besonders anfällig war. Aber die Außenwelt hat meist nur Spaltungen ausgenutzt, die schon vorher da waren. Im Dreißigjährigen Krieg war das die konfessionelle Feindseligkeit der Deutschen untereinander;  Napoleon profitierte vom Unwillen der in dynastischer Nabelschau befangenen deutschen Staaten, das Reich gemeinsam zu verteidigen; und auch die Teilung von 1949 wurde erst durch die unversöhnliche Feindschaft der ideologischen Lager in Deutschland selbst ermöglicht.

Gibt es in Mitteleuropa ein Überangebot an politischen Identifikationsmöglichkeiten, die um die Loyalität der Menschen konkurrieren? Ein knappes Dutzend „Stämme“, wie sie bis ins 20. Jahrhundert hinein genannt wurden, mit sehr unterschiedlichen Dialekten; hunderte staatlich funktionsfähiger Territorien im Alten Reich mit eigenen politischen Traditionen; eine vielleicht bis in die Zeit der Christianisierung zurückgehende Neigung zur politischen Überhöhung von Konfession und Ideologie – die Voraussetzungen für die politische Einigung der Deutschen waren in der Tat schwierig. Regional tief verwurzelter, historisch über Generationen ansozialisierter, bekenntnishafter Selbstbehauptungswille, dazu das Spiel der Großmachtinteressen: Vielleicht sind wir hier auf der richtigen Spur. Die „innere Einheit“, deren endliche Wiederherstellung heute, dreißig Jahre nach der letzten Wiedervereinigung, viele einfordern zu müssen meinen – es hat sie in Deutschland noch nie gegeben. Sie ist die blaue Blume der politischen Romantik.
 

Preußen und Bayern

Und damit kommen wir zu Preußen und Bayern. Das Verhältnis der beiden Länder – oder handelt es sich um Weltanschauungen? – ist der Archetypus des regionalen Konflikts in Deutschland, in den alle oben genannten Dimensionen hineinspielen: Stammesdenken, kulturelles Sendungsbewusstsein, konfessionelle Verwurzelung, dynastische Interessen und kühle Machtpolitik. Wer Deutschland einigen will, so hätte man früher gesagt, muss zunächst diese zwei zusammenbringen.

Genau dies geschah vor 150 Jahren in Versailles, mitten im Krieg gegen Frankreich. Stifter der borussisch-bavarischen Verständigung war Preußens Kanzler Otto von Bismarck, dem es mit Zuckerbrot, Peitsche und mehreren Millionen Mark für die Privatschatulle des bayerischen Königs Ludwig gelang, den zähen Widerstand der Münchener politischen Eliten gegen das Projekt der deutschen Einheit zu überwinden. Andere preußische Politiker hätten wohl gerne Gewalt gegen die Bayern angewandt, um das Verfahren zu beschleunigen, aber Bismarck verstand, dass eine dauerhafte Einheit nur als Resultat eines Interessenausgleichs zu haben war.

Und so unterschrieb man am 23. November 1870 den Vertrag über den Beitritt Bayerns zum von Preußen geleiteten Deutschen Bund, der bald darauf in Deutsches Reich umbenannt wurde. Bayern sicherte sich eine lange Reihe von Sonderrechten als Gegenleistung für die Aufgabe seiner Souveränität. Dennoch wurde der Vertrag im Münchener Parlament mit nur einer Stimme über der erforderlichen Mehrheit ratifiziert. Zwar war das städtische Bürgertum in Bayern immer deutsch-patriotisch gesinnt; die politischen Eliten des Landes trauerten der Souveränität aber noch lange hinterher – einige trauern bis heute.

 

Vertrag zwischen Preußen und Bayern

Vertrag, betreffend den Beitritt Bayerns zur Verfassung des Deutschen Bundes

„Seine Majestät der König von Preußen im Namen des Norddeutschen Bundes und Seine Majestät der König von Bayern haben in der Absicht, die Sicherheit des Deutschen Gebietes zu gewährleisten, dem Deutschen Rechte eine gedeihliche Entwickelung zu sichern und die Wohlfahrt des Deutschen Volkes zu pflegen, beschlossen, über Gründung eines Deutschen Bundes Verhandlungen zu eröffnen. (…)

I. Die Staaten des Norddeutschen Bundes und das Königreich Bayern schließen einen ewigen Bund, welchem das Großherzogthum Baden und das Großherzogthum Hessen für dessen südlich des Main belegenes Staatsgebiet schon beigetreten sind und zu welchem der Beitritt des Königreichs Württemberg in Aussicht steht.
Dieser Bund heißt der Deutsche Bund.

II. Die Verfassung des Deutschen Bundes ist die des bisherigen Norddeutschen Bundes. (…)

III. Die vorstehend festgestellte Verfassung des Deutschen Bundes erleidet hinsichtlich ihrer Anwendung auf das Königreich Bayern nachstehende Beschränkungen:

(Es folgen zahlreiche Ausnahmebestimmungen. Unter anderem behält Bayern seine Armee, sein Post-, Telegraphen- und Eisenbahnwesen, sein Heimat- und Niederlassungsrecht, seine Bier- und Branntweinsteuer.) (…)

Gegenwärtiger Vertrag tritt mit dem 1. Januar 1871 in Wirksamkeit. (…)

So geschehen Versailles, den 23. November 1870“

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Der Wiedervereinigung von 1870/1871 folgte die Wiederteilung von 1949, dieser die Wiedervereinigung von 1990. Danach hörte man von allen Seiten den erleichterten Seufzer, nun sei die deutsche Frage endgültig gelöst. Das hatte man damals in Versailles auch gedacht.

Die Deutsche Einheit ist seit 1000 Jahren eine Baustelle. Die Hoffnung auf „innere Einheit“ gehört ins Reich der politischen Metaphysik: Sie hat es nie gegeben und sie wird es nie geben. Sorgen wir uns lieber um die äußere Einheit, und lesen wir noch einmal nach: Sie soll doch die Sicherheit des Deutschen Gebietes gewährleisten, dem Deutschen Rechte eine gedeihliche Entwickelung sichern und die Wohlfahrt des Deutschen Volkes pflegen. Wie steht’s damit?

 

Der gesamte Vertragstext bei Wikisource

 

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