Thorsten Kleinschmidt, 28. Januar 2022
 

In der Ukraine droht Krieg. Nein: In der Ukraine droht Russland. Und zwar uns allen. Über 100.000 russische Soldaten stehen bis an die Zähne bewaffnet an den ukrainischen Grenzen, und Russland stellt Forderungen. Nicht an die Ukraine, wie man vielleicht erwarten könnte; sondern an uns.

Wenn wir nicht schriftlich zusichern, die Ukraine niemals in die NATO aufzunehmen, dann … könnte irgendetwas passieren. Das gleiche gilt für alle anderen Länder des Planeten: Wir müssen schriftlich zusichern, dass wir sie niemals in die NATO aufnehmen; ja, Sie haben richtig gelesen, die NATO darf nie mehr irgendein anderes Land aufnehmen, sonst … könnte jetzt in der Ukraine irgendetwas passieren. Also liebe Finnen, Schweden, Österreicher, Iren: Solltet ihr irgendwann auch in die NATO wollen, weil irgendein Staat in Europa sich aggressiv gebärdet und Truppen an Grenzen zusammenzieht – geht nicht … sonst ist die Ukraine dran. Oder ihr.

Ach so, da sind ja noch mehr russische Forderungen. Wenn die Nordamerikaner und wir Westeuropäer nicht zusichern, niemals Soldaten oder Waffen in irgendeinem anderen europäischen Land zu stationieren, dann … könnte irgendwas passieren. Das betrifft nicht nur die NATO, sondern auch die EU und alle anderen Formen militärischer Zusammenarbeit in Europa. Gemeinsame Luftraumkontrolle der Europäer? Gemeinsam betriebene Militärbasen? Geteilte Ausrüstung? Multinationale Verbände? Europäische Armee? Nix da! Sonst ist die Ukraine fällig. Aber halt! Russland ist großzügig, es gibt ja eine wichtige Ausnahme. Wenn ein Land in seiner Sicherheit bedroht ist, dann dürfen wir unsere Truppen zu Hilfe schicken – wir müssen halt nur vorher in Moskau um Erlaubnis bitten. Also konkret: Wenn, sagen wir mal, Russland 100.000 Mann an der Grenze des NATO- und EU-Lands Estland aufmarschieren lässt, dann sollen wir Russland fragen, ob wir den Esten helfen dürfen. 

Das alles ist kein Kabarett, das ist russische Politik. Wir sollen den Bock zum Gärtner machen und uns gleichzeitig verpflichten, unseren Garten nie mehr ohne Erlaubnis des Bocks zu betreten.

Diese einzigartige Kombination aus Aggressivität, Chuzpe und Bösartigkeit überfordert die Deutschen. Viele brave Mitteleuropäer können sich nicht vorstellen, dass Menschen tatsächlich so peinlich unzivilisiert sein können, erstens, ihre nackten Machtinteressen über Anstand und Moral zu stellen, zweitens, ungeniert mit erpresserischer Gewalt zu drohen und, drittens, diese Drohungen vielleicht sogar noch wahrzumachen.

Und weil die Deutschen sich das nicht vorstellen können, suchen viele nach allerlei Entschuldigungen und verharmlosenden Erklärungen für das Verhalten der russischen Regierung. Sie lügen sich in die Tasche, weil sie der beunruhigenden Wirklichkeit nicht ins Auge sehen wollen.

Selbstbetrug 1: Alles nur Taktik!
Da ist zunächst der beschwichtigende Versuch, Russlands Verhalten auf reine Taktik zu reduzieren. Mit dem Truppenaufmarsch wolle man halt Aufmerksamkeit erregen, und die absurden Forderungen seien nur eine Maximalposition für Verhandlungen, in denen dann aber natürlich nichts so heiß gegessen wie gekocht werde. Diese Ansicht trifft sicher einen wahren Kern, aber sie übersieht völlig, dass es Taktiken gibt, die unabhängig von ihrem Erfolg an sich schon völlig inakzeptabel sind. Ein Truppenaufmarsch an der Grenze ist die außenpolitische Form dessen, was im Zivilleben eine Morddrohung ist. Forderungen, die auf absurde Weise die natürlichen Interessen des Gegenübers ignorieren und zudem mit vorgehaltener Waffe vorgetragen werden, sind das moralische Äquivalent zu einem bewaffneten Raubüberfall. Morddrohungen und Raubüberfälle aber darf man weder im bürgerlichen Leben noch in der internationalen Politik achselzuckend akzeptieren, da sie die Grundlagen gedeihlichen Miteinanders zerstören. Selbst wenn die russischen Forderungen inhaltlich berechtigt wären – die Form, in der sie vorgetragen werden, macht sie inakzeptabel. Verbrechen darf sich nicht lohnen, selbst wenn der Täter eigentlich ein guter Kerl ist.

Selbstbetrug 2: Die NATO hat angefangen!
Eine andere Form der Relativierung russischen Verhaltens ist die Übernahme der russischen Propaganda-Erzählung „Die NATO hat ja angefangen.“ Demnach sei eigentlich die NATO der aggressive Part, da sie sich in Bruch eines früheren Versprechens immer weiter nach Osten ausdehne und von der Ukraine aus Moskau mit Raketen ins Visier nehmen könne. Das Märchen ist leicht durchschaubar. Sein Ursprung ist die deutsche Wiedervereinigung 1990, als vertraglich festgeschrieben wurde, dass keine nichtdeutschen NATO-Truppen auf einstigem DDR-Gebiet stationiert werden sollten. Das ist auch niemals geschehen. Von anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks war aber nie die Rede – die waren damals nämlich alle noch Mitglieder des Warschauer Pakts. Die NATO hat sich auch nicht imperial ausgedehnt – die Initiative ging immer von einzelnen Ländern aus, die gerne Mitglied werden wollten. Und die NATO hat auch keineswegs alle Anträge akzeptiert – gerade der Mitgliedswunsch der Ukraine wurde aus Rücksicht auf Russland 2008 auf die lange Bank geschoben. Da liegt er bis heute, denn niemand in der NATO hat ein Interesse daran, die Ukraine militärisch verteidigen zu müssen. Und was nun Raketen angeht, die Moskau erreichen könnten: Um den Kreml zu beschießen, bräuchten die Amerikaner sicher keine Basen in der Ukraine; Interkontinentalraketen gibt es schon seit 60 Jahren. Aber davon abgesehen: Warum zum Henker sollten sie das tun und einen nuklearen Gegenschlag der Russen provozieren?

Selbstbetrug 3: Aber die Amerikaner!
Relativierung Teil 3: „Die Amerikaner machen es doch auch.“ Jetzt wird’s deprimierend, weil unintelligent und unanständig. Es sei nicht so schlimm, wenn „die Russen“ aggressive imperialistische Politik machten, denn „die Amerikaner“ machten das ja auch und da sage nie einer was. Es stimmt, dass „die Amerikaner“ „das“ allzu oft auch machen. Es stimmt nicht, dass „da nie einer was“ sage – seit dem Vietnamkrieg wird die internationale Politik der USA gnadenlos argwöhnisch beobachtet und ständig kritisiert. Aber das nur am Rande. Wichtiger als die Faktenlücke ist der Denkfehler. Wenn einer sich falsch verhält, folgt daraus nicht, dass alle anderen sich auch falsch verhalten dürfen. Im Gegenteil: Korrektes Verhalten ist sogar noch wichtiger geworden, damit die Verhaltensregel nicht noch weiter geschwächt wird. Nein, ich darf nicht alte Damen ausrauben, weil mein Nachbar das auch getan hat. Niemand darf das – weder Joe noch Wladimir. Und Angriffskriege dürfen sie auch nicht führen.

Selbstbetrug 4: Russland will doch nur Respekt!
À propos unintellligent. Manche Deutsche finden, Russland wolle doch nur Respekt und auf Augenhöhe behandelt werden, und dafür müsse man schon Verständnis haben. Puh … Erstens: Nicht Staaten „wollen“ etwas, sondern die Menschen, die sie führen. Soll wirklich das Bedürfnis einzelner Politiker nach „Respekt“ oder „Bewunderung“ oder „historischer Bedeutung“ ausreichend sein, um Europa an den Rand eines Krieges bringen zu dürfen? Zweitens: Nicht nur russische Politiker wünschen sich Respekt, sondern auch Menschen in der Ukraine. Respekt darf nur einfordern, wer seinerseits anderen Respekt entgegenbringt. Wenn die russische Regierung „auf Augenhöhe“ behandelt werden möchte, möge sie endlich anfangen, die ukrainische Regierung auf Augenhöhe zu behandeln. Für den Anfang könnte sie aufhören, die Ukrainer mit Krieg zu bedrohen.

Selbstbetrug 5: Die Ukrainer sind doch Nazis!
À propos Ukrainer. Auch so ein seltsamer Versuch, sich russische Politik schönzulügen: „Die Ukrainer sind ja noch schlimmer“, tönt es zuweilen in deutschen Diskussionen, und auch das ist ein Echo russischer Regierungspropaganda. Demnach werde die Ukraine im Grunde von Nationalisten und Faschisten regiert, weswegen der russische Imperialismus in Wirklichkeit so etwas wie gelebter Antifaschismus sei. Solche Argumente kommen gerne aus der ganz linken Ecke. Aber die Ukraine wurde seit ihrer Unabhängigkeit nie von Nationalisten regiert – die derzeitige Regierungspartei verortet sich in der Polit-Region Mitte-Links. Wenn deutsche Linke sich hier rhetorisch auf die Seite eines militaristischen russischen National-Imperialismus schlagen, dann ist das schon ein erstaunliches Beispiel für Selbstverrat.
 

All diese etwas wirren Gedankenknäuel sind Formen des Selbstbetrugs. Andere Menschen in Deutschland sehen klarer und machen sich über Russland keine Illusionen, ziehen aber ängstlich den Kopf ein – oder träumen von nationaler Interessenpolitik wie anno 1885.
 

Ausrede 1: Alles ist besser als Krieg!
Da begegnet uns zunächst der verantwortungslose Pazifismus, für den Deutschland seit langem international berüchtigt ist: „Alles ist besser als Krieg; Gewalt ist keine Lösung; Waffenlieferungen verschärfen die Krise; wenn wir nur friedlich bleiben, werden die anderen sich schon beruhigen.“ Warum jeder einzelne dieser Sätze falsch ist, lässt sich aus der deutschen Geschichte leicht ablesen: Hätten Briten und Franzosen, Amerikaner und Sowjets sich 1939-1945 an diese Maximen gehalten, wären die Nazis in Deutschland immer noch an der Macht. Und wären die Mehrheitsdeutschen 1933-1934 NICHT so träge friedfertig gewesen, hätten die Nazis gar nicht erst die Demokratie beseitigen können – der deutsche Bequemlichkeitspazifismus trägt eine Mitschuld an der Machtergreifung Hitlers. Um nicht missverstanden zu werden: Ein NATO-Krieg gegen Russland wegen der Ukraine ist keine Option; beide Seiten verfügen schließlich über Atomwaffen. Aber das wissen die Russen ja auch – deshalb drohen sie auch nicht der NATO mit Krieg, sondern der Ukraine. Russland bereitet demonstrativ einen Stellvertreterkrieg vor und hat sich die Ukraine als leichtes Opfer ausgeguckt. Wer dieser Erpressung oder außenpolitischen Morddrohung nachgibt, ermutigt Nachahmer auf der ganzen Welt: Bei dem einen Fall wird es nicht bleiben. Mehr Pazifismus heute bedeutet mehr Krieg morgen.

Ausrede 2: Die deutsche Geschichte!
Den Pazifisten verwandt sind die Geschichtsmoralisten. „Die deutsche Geschichte verbietet …“ An dieser Stelle können Sie alles einsetzen, was Ihnen nicht passt, denn natürlich verbietet die Geschichte alles und gar nichts. Meistens soll die deutsche Geschichte in diesen Tagen aber verbieten, Russland militärisch entgegenzutreten. Seltsamerweise hat die deutsche Geschichte eben dies während des Kalten Krieges nicht verboten, als eine halbe Million Bundeswehrsoldaten ständig bereitstand, um die Rote Armee von einem Überraschungsbesuch in Frankfurt oder Hamburg abzuschrecken. Damals haben uns Franzosen, Briten, Niederländer, Belgier, Dänen, Amerikaner militärisch unterstützt, obwohl wir sie allesamt kurz zuvor im Zweiten Weltkrieg angegriffen hatten. Heute wollen deutsche Geschichtsmoralisten die Ukraine, die jetzt in einer ganz ähnlichen Lage ist wie Deutschland vor 1989, NICHT unterstützen, obwohl wir auch die Ukraine im Zweiten Weltkrieg angegriffen und Millionen Ukrainer getötet haben. Und behaupten auch noch, sie hätten halt aus der Geschichte gelernt. Wenn das stimmt, dann haben sie ganz furchtbare Dinge gelernt: opportunistische Gewissenlosigkeit und schamlose Heuchelei.

Ausrede 3: Deutschlands nationale Interessen gegen die Kriegstreiber verteidigen!
Schließlich findet sich in den Debatten zuweilen auch noch die gute alte Bismarck-Denke. Wenn „der Balkan nicht die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert“ ist, dann kann uns sicher auch die Ukraine schnurzpiepegal sein, oder? Deutschland soll sich völlig raushalten, die „Kriegstreiber“ auf allen Seiten ignorieren, Russland ist halt Russland, und wo liegt eigentlich die Ukraine? Hauptsache, das russische Gas strömt weiter. Sollen die anderen sich doch um Russland kümmern, wenn sie unbedingt wollen. Wir sollten uns von „den Amerikanern“ da nicht hineinziehen lassen. So oder ähnlich tönt es immer mal wieder aus der nationalkonservativen Ecke. Die so reden, geben sich als nüchterne Realisten, aber tatsächlich haben sie von internationaler Politik so viel Ahnung wie der Fisch vom Reiten. Mit dem Beharren auf dem isolierten nationalen Interesse hat Deutschland sich Anfang des 20. Jahrhunderts eine breite antideutsche Koalition auf den Hals gezogen – Folge waren zwei verlorene Weltkriege. Damit das nicht wieder geschieht, hat Deutschland sich als zentrale Macht in zwei großen Allianzen etabliert, der EU und der NATO. Die Stabilität und die Effektivität dieser beiden Bündnisse sind deutsche Staatsräson, und genau die ist in der derzeitigen Krise bedroht. Wir haben hier gerade einen krachenden Zusammenstoß russischer und deutscher nationaler Interessen. Liebe Patrioten: Wollen Sie hier wirklich kampflos das Feld räumen?
 

Soweit unser Parforce-Ritt durch die deutschen Ukraine-Debatten. Wenn Sie jetzt beklagen, dass hier nur Positionen kritisiert wurden, die Russland entgegenkommen möchten, dann haben Sie Recht. Zugegeben: Auch auf der anderen Seite wird zuweilen Unsinn verbreitet. Aber ich meine tatsächlich, dass Russland in dieser Krise unser Problem ist; nicht die Ukraine, nicht die USA. Und Deutschlands Politik muss sich nüchtern am Problem orientieren, nicht an den eigenen ideologischen Obsessionen. Eine gewaltbereite Großmacht versucht einen Präzedenzfall für kriegerische Erpressung zu schaffen, der die europäische Friedensordnung zerstören, unsere Bündnisse destabilisieren und eben dadurch Sicherheit und Wohlstand Deutschlands auf Jahre gefährden würde. Oder anders formuliert: Russland versucht eine Welt zu schaffen, in der Gewalt sich wieder lohnt. Auf dieses Problem müssen wir eine Antwort finden. Schnell.

 

 

 

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