Thorsten Kleinschmidt, 31. März 2020
 

Manchmal werfen besondere Ereignisse Schlaglichter auf Dinge, die zuvor in der Dämmerung des Halbbewussten zwar nicht unserer Wahrnehmung, aber unserer Aufmerksamkeit entzogen waren. Und wie ein persönlicher Schicksalsschlag uns mit einem Mal die Sackgasse unseres Lebenswegs vor Augen führen kann, so vermag eine gesellschaftliche Krise uns auf Verwerfungen
in unserem Gemeinwesen zu weisen, über die wir an der Oberfläche des gesellschaftlichen Alltags sonst hinwegschreiten.

Die Covid-19-Pandemie ist eine solche Krise. Längst haben wir erkannt, dass die Krankheit nicht nur Leben zerstört, sondern auch unser gesellschaftliches Gefüge erschüttert. Und während wir uns um Kranke sorgen, während wir um Tote trauern und mit ihren Angehörigen fühlen, finden wir vielleicht Gelegenheit, einige Widersprüche zu betrachten, die unter dem Brennglas der Krise grell ins Auge springen.

 

Corona-Viren
 


1. Europa: Gemeinschaft oder Grenzen?

Die Grenzen sind wieder zu in Europa - und kaum jemand regt sich darüber auf. Solange jedenfalls nicht, bis bestellte Infektionsschutzausrüstungen in Grenzkontrollen hängen bleiben oder dringend benötigte Pflegekräfte nicht mehr einreisen können.

Die Europäische Kommission setzt den Stabilitätspakt aus, die Europäische Zentralbank verkündet ein gewaltiges Programm zum Ankauf von Staatsanleihen, das Thema „Eurobonds‟ steht plötzlich wieder auf der Tagesordnung – und kaum jemand mag sich entrüsten. Solange jedenfalls nicht, wie nordeuropäische Besitzbürger mehr Angst vor der Seuche haben als vor südeuropäischen Finanzpolitikern.

Dieses Hin und Her und Auf und Zu verweist uns auf das ungeklärte Verhältnis zwischen der europäischen Integration und dem Nationalstaat. Offensichtlich kann man sowohl europäische Errungenschaften wieder aufgeben als auch Zugeständnisse an Nationalstaaten wieder zurücknehmen, und das interessanterweise sogar gleichzeitig. Und beides kann überdies gleichermaßen sinnvoll sein.

Sollten wir daraus nicht vermuten, dass all die Diskussionen der Vergangenheit um „Europäisierung‟, „Integrationssprünge‟, „Schuldenvergemeinschaftung‟; um „Alternativen für … (setzten sie hier das Land ihrer Wahl ein)‟, „die Rückkehr der Vaterländer‟, „Sicherung der Grenzen‟; dass all diese Meinungsschlachten vor allem eines waren: nutzlose Eruptionen von Ideologie?

Der pragmatische Blick erkennt, dass die Strukturen des Nationalstaats sowohl als die Strukturen der Europäischen Union vor allem Werkzeugkästen sind. Je nach der Natur des zu lösenden Problems greift man mal in den einen, mal in den anderen. Europa und die Nation hängen voneinander ab. Der Streit, ob unsere Loyalität mehr dem einen oder mehr der anderen gelten solle, gehört in die Sphäre ideologischer Autoerotik.

 

2. Asoziale Freiheit oder Freiheit in Verantwortung?

Wir sind alle Individualisten und wollen alle frei sein. Wir dürfen es auch und sollen es sogar – das ist der Kernkonsens der westlichen Gesellschaften.

Nun erkennen wir aber: Es gibt einen Konflikt zwischen dem Freiheitsversprechen der westlichen Gesellschaft und den Erfordernissen bei der Bewältigung schwerer Notlagen. Es gibt Notwendigkeiten, die eine Einschränkung der Freiheit verlangen. Sind westliche Gesellschaften dazu fähig?

Um eine Seuche einzudämmen, sollten Menschen möglichst daheim bleiben. In unserer Freiheitsgesellschaft sollten sie das frei-willig tun – was aber, wenn sie nicht frei wollen? Dann müssen sie wohl gezwungen werden, wenn wir nicht das Leben vieler Menschen aufs Spiel zu setzen bereit sind.

Das heißt nicht, das Ideal der freiheitlichen Gesellschaft aufzugeben. Es bedeutet aber, eine Unterscheidung zu treffen zwischen legitimer Freiheit und asozialer Freiheit, derjenigen, die die Grundlagen des Zusammenlebens gefährdet. Diese Unterscheidung ist ohnehin die Voraussetzung allen Strafrechts; man wird sie vielleicht in Bereiche fortführen müssen, von denen man bislang geglaubt hat, hier sollten die Individuen im eigenen Ermessen über ihr Verhältnis zur Gemeinschaft entscheiden.

Das wirft Fragen wieder auf, die wir uns vor einigen Jahren schon einmal gestellt, dann aber wieder vergessen haben. Wenn wir Quarantänebrecher sanktionieren, weil sie mutwillig die Gesundheit ihrer Mitmenschen gefährden; was machen wir dann z.B. mit Bankern und Spekulanten, die mutwillig den Wohlstand ganzer Gesellschaften aufs Spiel setzen? Oder aber auch nur mit Vermietern, die durch Mieterhöhungen das, sagen wir, wirtschaftliche Überleben einer Familie in Frage stellen? Die Sache wird schnell schwierig.

Wie weit kann man die individuelle Freiheit auf Ziele der Gemeinschaft verpflichten? Das Problem ist ewig ungelöst und insofern banal. Wir sollten uns aber klar machen, dass es ungelöst ist. Was wir dürfen und was wir müssen, versteht sich nicht von selbst; wir müssen uns verbindlich absprechen. Die Frage nach dem rechten Maß bei der Verhängung von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen gehört daher weder vors Verfassungsgericht, noch in die Fachkonferenz der Epidemiologen, noch etwa ins Philosophieseminar – sie gehört ins Parlament.

 

3. Wettbewerb der Generationen, Wettbewerb der Verantwortungslosigkeit?

Gong frei zur nächsten Runde im Kampf der Generationen. Neulich noch zieh die Generation Greta die Generation der Boomer der kollektiven Verantwortungslosigkeit angesichts der fortschreitenden Erderwärmung – How dare you? Heute fühlen sich die Boomer durch verantwortungslose Corona-Partys von Angehörigen der Generation Greta bedroht (neulich selbst gehört: „Ist doch gut, wenn die ganzen Alten mal weg sind.‟) – How dare you?

Wir haben heute die Chance zu erkennen, dass Verantwortungslosigkeit kein Spezifikum einzelner Generationen ist. Ethische oder intellektuelle Höher- oder Minderbefähigung von Menschen an der Zugehörigkeit zu Alterskohorten festmachen zu wollen, ist seit jeher eine der absurdesten Arten von Stammesdenken – schließlich haben die Alten die Jungen erzogen, geprägt und gebildet. Die Jungen sind, was die Alten aus ihnen gemacht haben; und die Alten sind die Hauptquelle des Weltwissens der Jungen.

Schluss mit dem Generationenblödsinn.

 

4. Wirtschaftseffizienz und das Wohlergehen der Gesellschaft

Seit den Neunzigerjahren hatten die Ökonomen die Lufthoheit, wenn schon nicht über den Stamm-, so doch über den Schreib- und Kabinettstischen. Das Streben nach optimaler Ressourcenallokation, nach Abbau von Handels- und Investitionshemmnissen war common sense und führte zu einem gewaltigen Globalisierungsschub.

Heute erkennen wir – und viele sind anscheinend  überrascht – , dass eine ökonomische Globalisierung, die nicht von einer politischen flankiert wird, zu gefährlichen Abhängigkeiten führt. Etwa wenn in Asien günstiger produzierte Medikamente uns im Notfall nicht mehr zur Verfügung stehen, oder globale Lieferketten zusammenbrechen, weil es in einer entlegenen Ecke des Planeten Produktionsausfälle gibt. Solange es nicht möglich ist, politisch das Funktionieren des globalen Marktes auch in Krisenzeiten zu gewährleisten, ist die Abhängigkeit von diesem globalen Marktgeschehen ein möglicherweise tödliches Risiko.

Die als vermeintliche Zaubersalbe in alle Poren des Gesellschaftskörpers eingedrungene Ökonomenmär, dass wirtschaftliche Effizienz, dass der Markt all unsere Probleme lösen könne, ist falsch. Das wissen heute eigentlich auch alle, sogar Wirtschaftswissenschaftler. Spätestens in der Krise kommt die Politik zurück, um durch Wirtschaftshandeln bewirkte Fehlentwicklungen mit großer Kraftanstrengung zu korrigieren. Man wird z.B. – marktwidrig – redundante wirtschaftliche Strukturen schaffen müssen, um für den Fall einer Störung des globalen Marktes wenigstens regionale Märkte funktionsfähig halten zu können. So könnten Pharmaunternehmen, die in Europa verkaufen wollen, verpflichtet werden, Produktionskapazitäten in Europa zu unterhalten. Störungen des globalen Marktes werden weiterhin auftreten – dieses Jahr ist es eine Seuche, in fünf Jahren kann es ein Krieg sein.

Der Primat der Politik wird natürlich die Bedeutung der Ökonomie für das Wohlergehen der Gesellschaft nicht aufheben. Wenn etwa die Wirtschaft aufgrund politisch beschlossener Schutzmaßnahmen gegen die Seuche zusammenbräche, litte die Gesellschaft im Nachgang wohl noch stärker als unter der Katastrophe, gegen die sie sich zu schützen suchte.

Die historische Situation verlangt vielleicht nach einem neuen Ausgleich zwischen ökonomischen und anderen gesellschaftlichen Werten. Das Ideal der Effizienz – des besonders günstigen Verhältnisses zwischen dem Einsatz von Ressourcen und den erzielten Ergebnissen – ist zu eng gefasst, wenn wir es einseitig der Wirtschaft zum Maß machen. Was wirtschaftlich effizient ist, kann gesamtgesellschaftlich schädlich sein: Bei der Bewertung wirtschaftlicher Erträge müssen gesellschaftliche Kosten gegengerechnet werden. Wir brauchen weniger eine „wirtschaftliche Effizienz“ als eine „wirtschaftliche Effektivität“, die Teil einer übergreifenden „gesellschaftlichen Effizienz“ ist: eines Zustands, in dem vielfältige menschliche Bedürfnisse vernünftig austariert werden und ein gesellschaftliches – kein ökonomisches – Optimum angestrebt wird.

 

5. Staat und Gesellschaft – Wieviel Freiheit, wieviel Autorität?

Die Verfechter des Neoliberalismus der Achtziger- und Neunzigerjahre wollten den Staat bekanntlich aus der Wirtschaft verbannen. Libertäre Freiheitsfreunde wollten ihn auch so weit wie irgend möglich aus dem gesellschaftlichen Leben heraushalten. Man schimpfte über den nanny state und hielt Steuerhinterziehung für einen Akt der Notwehr.

Schon in der Weltfinanzkrise mussten die Neoliberalen nach der Hilfe des Staates rufen. In der Covid-19-Krise nun ist völlig klar: Ohne den Staat geht nichts mehr. Nur der Staat kann die Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie einleiten und koordinieren; nur der Staat kann den Zusammenbruch weiter Bereiche der Wirtschaft verhindern. In der Krise zeigt sich: Neoliberalismus und Libertarismus sind nur Schönwetterideologien, luxuriöse Hirngespinste der Satten und Sicheren.

Die um ihre Freiheit tanzten wie um das Goldene Kalb, sie sind auf einmal fußlahm. Dafür ist – vorerst noch ganz schwach – der Schwefelgeruch eines neuen Autoritarismus wahrzunehmen. China versucht sich der Welt als Vorbild zu präsentieren – bei der Krisenbewältigung und überhaupt. Eine Politik der starken Hand, kompromisslose Aufhebung von Freiheitsrechten, zentralistisches Durchregieren, umfassende Überwachung durch neueste Technik – so bekomme man die Lage in den Griff. Wohin dagegen der westliche Liberalismus geführt habe, das sehe man ja in Italien und den USA. Das chinesische Vorbild wird in Europa aufmerksam beobachtet, über Smartphone-Überwachung wird diskutiert und rechtsgerichtete Parteien scheinen erstmals seit langem mit der
Politik gar nicht mehr so unzufrieden.

Dabei hat doch gerade der autoritäre Politikstil Chinas aus einer lokalen Krise eine Pandemie werden lassen. Weil er Pekinger Politikern nicht ins Bild passte, wurde der Krankheitsausbruch zunächst unter den Teppich gekehrt, die Bekämpfung zu lange verschleppt.

Individuelle Freiheit gegen staatliche Autorität – das Verhältnis bleibt schwierig. Der Weg der Mitte, der Kurs zwischen den Klippen der Extreme hat die europäischen Gesellschaften in den letzten siebzig Jahren zu vorher ungekannter Stabilität und unerreichtem Wohlstand geführt. Wir sollten uns nicht in schwieriges Gelände locken lassen und weder extremistischen Freiheitsphantasien von jenseits des Atlantik folgen noch dem Ammenmärchen von einem aufgeklärten Ein-Partei-Absolutismus jenseits der Wüste Gobi.

 

6. Eliten und Volk, oder „Ich weiß, dass ich nichts weiß‟

Eben noch haben sie auf die Funktionseliten in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Verwaltung geschimpft, die an allem schuld waren: an Stuttgart21 und dem Berliner Flughafen, an maroden Straßen und Brücken, an Windrädern und Stromtrassen, an Flüchtlingen und Mietpreisen und am Wetter natürlich auch. Wer sich auf eine Expertenmeinung berief, konnte sarkastischer Kommentare gewiss sein. Experten galten vielen als käuflich, Politiker als fremdgesteuert, Beamte als verbohrt.

Und auf einmal hängen alle an den Lippen von Epidemiologen, verfolgen gebannt Pressekonferenzen von Ministerpräsidenten, klammern sich an die Weisheit von Verwaltungserlassen. Was ist geschehen? Das bedrohliche Unbekannte ist in unser beschauliches Leben eingebrochen, und auf einmal erkennen wir wieder, wie wenig wir eigentlich wissen, und wie dünn die Social-Media-Lebensberatung ist, auf die viele sich verlassen.

Wenn die Menschen Orientierung suchen, stehen die Funktionseliten auf einmal wieder hoch im Kurs. Dabei unterscheiden sie sich vom Volk ja nur durch den niedrigeren Grad ihres Nichtwissens. Aber das macht nichts. Wenn die bedrohlichen Geräusche immer näher kommen, machen die Blinden den Einäugigen wieder zum König.

Und das ist gut so. Eine aufgeklärte Gesellschaft muss wissenschaftsfreundlich sein; eine demokratische Gesellschaft muss die Legitimität gewählter Politiker anerkennen; eine rechtsstaatlich verfasste Gesellschaft muss die rechtlich verbürgte Regelungskompetenz der Verwaltung akzeptieren.

Belassen wir es dabei.

 

7. Globalisierung – Hochgeschwindigkeitszug ohne Notstoppeinrichtung?

Zum Narrativ der Globalisierung gehört die Vorstellung, dass sie unaufhaltsam sei, unbeschränkbar und unumkehrbar. Wenn das stimmt, dann haben wir ein Problem; denn, wie wir sehen, kann nicht nur Wohlstand sich global verbreiten, sondern auch Krankheit und Krise. Das wissen wir schon seit der Weltfinanzkrise, nein: eigentlich schon seit den Weltkriegen. Aber der Zug der Globalisierung rast immer schneller dahin. Steigende Geschwindigkeit von Verkehrs- und Kommunikationsmitteln führt dazu, dass der Weg vom lokalen Problem zum globalen Desaster immer kürzer wird.

Damit sollten wir uns nicht abfinden. Können wir nicht so etwas wie Notstoppeinrichtungen für die Globalisierung ersinnen? Maßnahmen und Routinen, die das Tempo aus den Prozessen herausnehmen und es z.B. dem Rest der Welt ermöglichen sich vorzubereiten, wenn in China eine Seuche ausbricht?

Es klingt radikal: Was wäre geschehen, wenn China bei den ersten Anzeichen für eine gefährliche Epidemie nach einer international festgelegten Prozedur die eigenen Grenzen dicht gemacht hätte? Was, wenn bei den ersten Anzeichen für ein Übergreifen der Epidemie auf Nachbarländer der komplette Flugverkehr in die, aus der und innerhalb der Region eingestellt worden wäre? Nicht nur begrenzt, komplett eingestellt. Die Kosten wären hoch gewesen, aber sicher geringer als die Kosten einer weltweit ausgreifenden Krankheit, die wir jetzt zu tragen haben.

Notstoppeinrichtungen für die Globalisierung – genau betrachtet, wäre das auch gar keine Umkehr, sondern eine Weiterentwicklung der Globalisierung, hin zu einem globalen Reaktionsmechanismus für Katastrophenfälle. Wir müssen den Gedanken wohl ausarbeiten.

 

 

Damit soll es der Versuche genug sein, aus einer Katastrophe ein paar fruchtbringende Überlegungen zu retten. Die wirklich bedeutenden Ideen werden ja zurzeit – hoffentlich – in pharmazeutischen Labors entwickelt. Wenn dies alles vorbei ist, kommen wir aber sicher auf die hier angeschnittenen Themen zurück.

Bis dahin wünsche ich Ihnen Gesundheit und den Blick des Dr. Rieux aus Albert Camus' Roman „Die Pest‟ , der angesichts einer Pestepidemie in Algerien erkannte,

„was man in den Heimsuchungen lernen kann, nämlich dass es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt.‟

 

Bild: Corona-Viren. CDC/Dr. Fred Murphy / Public domain. Via Wikimedia Commons.

 

 

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