Ein Kalif im Zweistromland, ein Zar in Russland, ein Religionskrieg und ein Kalter Krieg - die Geschichte holt uns ein, ein schwarzes Segel nähert sich von hinten. Nein, es wiederholt sich nichts. Doch in Zeiten wie diesen nehmen wir sie wieder war, die lange Dünung der Zeit, den ewigen Wechsel von Wellenkämmen und Wellentälern, und wir fühlen, wie das Deck unseres Narrenschiffs unter unseren Füßen vibriert.
Schauen wir zurück - was sehen wir?
… Vor 3200 Jahren wurde Ugarit von den Seevölkern zerstört. Ugarit war Mittelpunkt eines blühenden Handelsstaats an der syrischen Küste - hochentwickelt, reich und zu seiner Verteidigung auf den Schutz stärkerer Nachbarn angewiesen. Diese Nachbarn waren zur Zeit des Angriffs mit eigenen Problemen beschäftigt - und hatten dazu sogar die Krieger Ugarits als Vasallentruppe zu sich befohlen. Die Stadt war somit wehrlos. Sie wurde geplündert, dem Erdboden gleich gemacht und nie wieder aufgebaut. Dramatisches Beispiel einer völlig verfehlten Sicherheitspolitik. (1186 vor Christus)
Vor 2500 Jahren wurde in China der erste Abschnitt des Kaiserkanals gebaut. Der Kanal, der über einen Zeitraum von 1800 Jahren nach und nach verlängert und erweitert wurde, verband Nord- und Südchina und war der zentrale Verkehrsweg des Reichs. Er war ein strategisches Leuchtturmprojekt, an dem viele Generationen arbeiteten. Wer eine Zivilisation bauen will, braucht einen langen Atem. Der Euro ist jetzt 16 Jahre alt – gebt ihm noch 1000 Jahre. (486 vor Christus)
Vor 2400 Jahren wurde der Königsfrieden geschlossen, der den Korinthischen Krieg zwischen Sparta und anderen Griechenstädten beendete. Der Königsfrieden war der erste sogenannte Allgemeine Frieden. Erstmals wurde nicht der Krieg, sondern der Frieden als Normalzustand betrachtet. Zuvor wurden Friedensverträge meist zwischen zwei konkreten Staaten für eine befristete Zeit geschlossen. Danach und daneben galt der kriegerische Urzustand, in dem jeder Staat jederzeit gegen seinen Nachbarn zu den Waffen greifen konnte. Der neuartige Frieden nun sollte grundsätzlich für alle Staaten der Region gelten; er sollte für unbegrenzte Zeit gelten; und er garantierte allen Staaten ihre Unabhängigkeit und Gleichberechtigung. Durchgesetzt werden sollte der Frieden durch eine äußere Garantiemacht – das Perserreich. Der Königsfrieden hielt nicht lange. Aber seither ist die Idee des dauerhaften, gerechten Friedens in der Welt. Ihr verdanken wir unter anderem die Vereinten Nationen. (386 vor Christus)
Vor 2350 Jahren wurde Alexander, den man später den Großen nennen sollte, König von Makedonien. Alexander, der Zerstörer und Unterwerfer des Perserreiches, ist das Urbild des großen Feldherrn und Eroberers: Seit über zwei Jahrtausenden inspiriert er Nachahmer. Wenige historische Persönlichkeiten haben eine ähnlich verheerende moralische Nachwirkung gehabt. Cäsar, Napoleon, Hitler – allesamt Epigonen Alexanders. Noch heute imitieren Präsidenten, die auf Panzern posieren, unbewusst den Makedonenkönig: den strahlenden Helden an der Spitze seiner Truppen. (336 vor Christus)
Vor 2200 Jahren ließ der römische Senat den Kult des Bacchus mit brutaler Gewalt unterdrücken. Die Anhänger des Kultes waren für ihre ausschweifenden Orgien berüchtigt, die den moralischen Furor der Mehrheitsgesellschaft auf den Plan riefen. Mehrere tausend Menschen wurden hingerichtet. Der Wert der Religionsfreiheit ist in der säkularen Gesellschaft nicht mehr jedem klar; so mancher selbsternannte Aufklärer würde für Muslime, Juden oder auch Christen ganz gerne seine höchstpersönliche Version der Vernunft verpflichtend machen. Aber Religionsfreiheit dient auch dem Schutz von Minderheiten gegen das angeblich gesunde Volksempfinden – und gegen die Durchschnittsvernunft der Durchschnittsaufklärer. (186 vor Christus)
Vor 2000 Jahren unternahm eine starke römische Armee unter Nero Claudius Germanicus einen großangelegten Feldzug ins Innere Germaniens, um die Niederlage der Armee des Varus sechs Jahre zuvor zu rächen und im zweiten Anlauf die Germanen unter römische Herrschaft zu bringen. Die Römer verwüsteten weite Landstriche und töteten zahllose Menschen, mussten sich schließlich aber nach schweren Kämpfen zurückziehen. Die rechtsrheinischen Germanen blieben frei. Die Siege über den Imperialismus Roms prägten später viele Jahrhunderte lang das deutsche Nationalbewusstsein. Erstaunlich, dass es heute in Deutschland so viele Freunde des Neuen Roms (Washington) und des Dritten Roms (Moskau) gibt. (15 nach Christus)
Vor 1650 Jahren wurde der römische Heermeister und Politiker Stilicho geboren. Er ist eine exemplarische Figur für die Endzeit des Römischen Reichs. Selbst von germanischer Abkunft, versuchte er das Reich zusammenzuhalten, das an allen Enden von Barbaren bedroht und im Inneren durch den Kampf zwischen Westrom und Ostrom gelähmt war. Er führte zahllose Kriege, schmiedete hinterhältige Intrigen, verbündete sich heute mit den Feinden von gestern und bekämpfte sie morgen wieder, bestach und bedrohte, verteidigte und versöhnte, regierte das Reich eine Zeit lang selbst, weil kein anderer in der Lage war, diesen Tiger zu reiten – und wurde schließlich gestürzt und hingerichtet. Das Reich ging dann trotzdem unter. Und seit 1500 Jahren fragen wir uns, was man hätte tun können, um es zu bewahren. (365)
Vor 1200 Jahren wurde in Griechenland der Slawenapostel Method geboren. Zusammen mit seinem Bruder Kyrill missionierte er bei den Tschechen im Großmährischen Reich. Seine Schüler setzten sein Werk bei den Kroaten und Bulgaren fort, später auch bei Serben, Polen und Russen. Method und Kyrill schufen eine eigene slawische Schrift, übersetzten das Evangelium ins Slawische und schufen eine slawische Liturgie in Konkurrenz zur vorherrschenden lateinischen. Damit legten sie die Grundlage für ein späteres kulturelles Sonderbewusstsein der Slawen, das sich in Russland bis heute gehalten hat – und dessen Glaubenssätze uns in vulgarisierter Form von den russischen Staatsmedien ständig um die Ohren geschlagen werden. (815)
Vor 1000 Jahren starb Wladimir der Heilige, der Großfürst, unter dessen Führung die Kiewer Rus, das mittelalterliche Reich der Ostslawen, das Christentum annahm. Er ist einer der Nationalheiligen des christlichen Russland. Aber er war kein Russe – Russen im heutigen Sinne gab es damals noch nicht. Wladimir war Waräger – Abkömmling jener schwedischen Wikinger, die im 9. und 10. Jahrhundert Herrschaften über die slawischen Stämme Osteuropas errichteten. Aus seinen slawischen Untertanen und seinen warägischen Vasallen bildeten sich Jahrhunderte später die Völker der Russen, Ukrainer und Weißrussen. So genau sollten wir heute sein. Seine Taufe besiegelte übrigens ein Bündnis mit Byzanz und war für sein Reich die Eintrittskarte in die europäische Staatengemeinschaft. (1015)
Vor 800 Jahren unterzeichnete der englische König Johann Ohneland die Magna Charta Libertatum, die die Freiheitsrechte des englischen Adels gegenüber der Krone verbriefte. Darüber hinaus – und das ist wichtiger – setzte sie fest, dass Übergriffe auf Leib und Leben, Freiheit und Eigentum nur nach Beschluss eines legitimen Gerichts erfolgen durften. Sie sicherte also die Menschen gegen königliche Willkür. Für Leibeigene, die damals die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten, galt dies allerdings nicht. Trotzdem spielt das Dokument bis heute für das Selbstverständnis Großbritanniens und der USA als Mutterländer der modernen Demokratie eine wichtige Rolle. (1215)
Vor 700 Jahren besiegten Schweizer Bauern ein habsburgisches Ritterheer in der Schlacht von Morgarten. Das war der Auftakt zu einer Reihe blutiger Kämpfe, in denen die Habsburger versuchten, die widerständigen Bauern der Innerschweiz wieder ihrem Herrschaftsanspruch zu unterwerfen. Ohne Krieg war die Freiheit für die Schweizer nicht zu haben. Kein Wandel durch Annäherung. (1315)
Vor 650 Jahren wurde die Universität Wien gegründet, die älteste noch existierende Universität im deutschen Sprachraum. Gratulation! (1365)
Vor 600 Jahren wurde in Konstanz der tschechische Kirchenreformator Jan Hus verbrannt. Gestützt auf die Heilige Schrift, hatte er die Kirche an Haupt und Gliedern reformieren wollen. Gleichzeitig wurde er als Sprachrohr der Tschechen gegen die deutsche Oberschicht in Böhmen wahrgenommen. Seine Hinrichtung wies auf düstere Zeiten religiösen und nationalen Hasses in Mitteleuropa voraus. (1415)
Ebenfalls vor 600 Jahren eroberten portugiesische Truppen die marokkanische Stadt Ceuta. Die europäische Expansion nach Übersee begann, bis heute eines der erstaunlichsten Phänomene in der Geschichte der Menschheit. (1415)
Vor 500 Jahren gründeten Spanier die erste ständige europäische Siedlung in Südamerika: Cumaná in Venezuela (1515). 50 Jahre später, also vor 450 Jahren, folgte die Gründung der ersten ständigen europäischen Siedlung in Nordamerika: St. Augustine in Florida (1565). Seither kommen Europa und Amerika nicht mehr voneinander los.
Vor 300 Jahren starb der französische König Ludwig XIV. - der Sonnenkönig. Unter seiner Herrschaft wurde Frankreich zur Hypermacht Europas. Das Land hatte die größte Bevölkerungszahl, das modernste Staatswesen mit der leistungsfähigsten Verwaltung, die stärkste Wirtschaft, die besten Streitkräfte, war wissenschaftlich und technisch führend. Und es gebot über eine soft power, die wir uns heute kaum noch vorstellen können – überall in Europa versuchten Gebildete französische Lebensart zu kopieren, bis hin zum Gebrauch der französischen Sprache in Privatbriefen an Familienangehörige. Aber Ludwigs Frankreich war auch ein imperialistischer Moloch. Krieg auf Krieg zettelte der König an, um sein Territorium auf Kosten der Nachbarländer zu vergrößern. In Deutschland und den Niederlanden haben seine Truppen besonders schlimm gehaust – der spätere Franzosenhass der Deutschen hat seine Wurzel in Ludwigs Angriffskriegen. Bei seinem Tod war Frankreich als Folge der Kriege hoch verschuldet. Die Dynamik der französischen Wirtschaft füllte die Staatskasse aber bald wieder auf. Es ist ein frommer Irrtum, dass aggressive Großmachtpolitik zwangsläufig zu wirtschaftlichem Niedergang führen müsse. (1715)
Vor 250 Jahren wurde Joseph II. zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation gekrönt. Er war ein beinahe fanatischer Anhänger der Aufklärung und wollte seine habsburgischen Länder quasi durch kaiserliches Dekret in die Moderne katapultieren. Viele seiner zahlreichen Reformen scheiterten am Unwillen seiner Untertanen, sich vorschreiben zu lassen, was gut für sie sei. Andere Projekte waren gut gemeint, doch schlecht gemacht. Wer Anschauungsmaterial dafür sucht, wie schwer es ist, eine ganze Gesellschaft „von oben“ zu modernisieren, wird bei Joseph reichlich fündig. Dennoch ist Joseph inspirierend: Selten ist in der deutschen Geschichte so mutig reformiert worden, und dieser Mut zum Scheitern ist unverzichtbar. (1765)
Vor 200 Jahren endete die Ära der französischen Hegemonie über Europa in der Schlacht von Waterloo. Deutsche, britische und niederländische Soldaten zogen einen blutigen Schlussstrich unter die Geschichte Napoleons, des aufgeklärten Tyrannen und Eroberers. Im Namen der Revolution und des Fortschritts hatten die Armeen des napoleonischen Frankreich alles erdenkliche Elend über die Menschen Europas gebracht. Napoleon vereinte den Reformmut eines Joseph mit dem Imperialismus eines Ludwig. Waterloo zeigt: So funktioniert Fortschritt nicht. (1815)
Ebenfalls vor 200 Jahren versuchte der Wiener Kongress nach den fürchterlichen napoleonischen Kriegen eine neue Grundlage für das Miteinander der europäischen Staaten zu legen. Er schuf ein System des Gleichgewichts der Großmächte, das im Wesentlichen so lange funktionierte, bis mit der Einigung Deutschlands einer der Mächte-Pole an Gewicht plötzlich dramatisch zulegte. Merke: Jedes internationale Ordnungssystem, dass nur an den Prinzipien Konkurrenz und Gleichgewicht orientiert ist, wird irgendwann instabil – denn die Geschichte verschiebt ständig die Gewichte. (1815)
Immer noch vor 200 Jahren wurde der Deutsche Bund gegründet. Nachdem Napoleon das Heilige Römische Reich deutscher Nation aufgelöst hatte, war die deutsche Frage entstanden: Sollte man das Alte Reich wiederbeleben? Sollte Deutschland in Einzelstaaten aufgelöst werden? Sollte es als Nationalstaat neu gegründet werden? Der Deutsche Bund war ein Kompromiss: Eine Konföderation, die stärkeren Zusammenhalt aufwies als das Alte Reich und die Sicherheit der deutschen Staaten gegen fremde Großmächte garantierte, den Einzelstaaten aber weitgehende Souveränität ließ. Die Hoffnungen vieler Menschen auf einen demokratischen Nationalstaat erfüllten sich nicht; verglichen mit dem Alten Reich war der Bund aber ein Fortschritt. (1815)
Vor 100 Jahren tobte der Erste Weltkrieg ins zweite Jahr, und auch die dümmsten Politiker, Soldaten und Publizisten konnten nun einsehen, dass dieser Krieg anders war als alle vorangegangenen. Genützt hat diese Einsicht nichts. (1915)
Vor 50 Jahren begann Frankreichs Präsident de Gaulle die Politik des leeren Stuhls in der Europäischen Gemeinschaft. Da ihm die Richtung der europäischen Integration nicht passte, blieb Frankreich einfach den Sitzungen des Ministerrats fern und blockierte dadurch sämtliche Beschlüsse. Seit dieser Zeit regen wir uns über „Europa“ auf. Die Anlässe wechseln, das Grundgefühl bleibt. Wir Europäer sind alle recht verschieden, und da wir kaum ernsthaft miteinander reden, werden wir einander nicht ähnlicher. (1965)
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Soweit der Blick zurück; diese Meere haben wir durchfahren. Auch heute ist der Seegang wieder rau. Aus der Kalmenzone sind wir heraus. Da hilft nur segeln.
Bild:
Carl Dahl: Fregat i en storm med rebede undersejl. Um 1846.
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