Thorsten Kleinschmidt, 1. August 2023
Die Zeiten sind turbulent: Krieg in Europa, Klimawandel überall, Kabbeleien um Heizungen, Einwanderer, Gendersprache und was nicht noch alles. Und ganz viel Identität: Es wimmelt nur so von bekennenden Veganern, Bayern, LGBTQ+-Menschen, Patrioten, PoC, Schalke-Fans, Linken, Leistungsträgern und AWIs (Anders-Wichtigen). Identität ist prima, jeder sollte eine haben, oder am besten gleich mehrere; aber die ständige Bekennerei kann einem auch auf die Nerven gehen.
Gruppenidentität: Status-Booster für die gesellschaftliche Kommunikation
Vielleicht ist sie Symptom zweier gesellschaftlicher Tatsachen: Unsere Gesellschaft ist, erstens, so heterogen geworden, so vielfältig und unübersichtlich, dass viele Menschen anscheinend das Bedürfnis haben, sich ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu versichern, von der sie sich Unterstützung oder gar Schutz versprechen und die ihnen einen – hoffentlich – gesicherten Status verleiht. Besonders wichtig ist das für Menschen, die schon einmal Diskriminierung erfahren haben.
Gleichzeitig zeigt, zweitens, die Konjunktur der Bekenntnisse noch etwas anderes: Es gibt ein ungebrochenes Zutrauen in die Sinnhaftigkeit des Gesprächs mit Menschen, die anders sind als man selbst. Denn in einer freiheitlichen Gesellschaft ist ein identitäres Bekenntnis meist auch ein Versuch, sich anderen zu erklären und um Respekt für sich zu werben. „Ich bin Eichhörnchenschutzaktivist, und das ist gut so – respektiere mich also.“
Respekt für die Gruppe oder für den Einzelnen?
Bliebe zu klären, ob der allseitige Rückzug hinter die Brustwehr einer Gruppenzugehörigkeit tatsächlich geeignet ist, Menschen zu respektierten Mitgliedern der Gesellschaft zu machen. Wie gesagt: Identitätshuberei nervt, und nicht jeder empfindet jede Gruppe als gleichermaßen respektabel – was er auch nicht braucht. Nicht jede Minderheit ist als solche schützenswert und nicht jede Gesinnungsgemeinschaft ein Gewinn für die Menschheit.
Ohnehin besteht die Gesellschaft an ihrer Basis nicht aus Gruppen – die sind fast immer Sekundärkonstruktionen – sondern aus Individuen. Wenn es uns gelänge, einander als Einzelne zu achten, bräuchten wir uns über Respekt vor Gruppenidentitäten überhaupt nicht den Kopf zu zerbrechen.
Meinen Nachbarn Hamsa respektiere ich nicht, weil (oder obwohl) er Muslim, Veganer, Mann oder Bayern-Fan ist, sondern weil er mein Mitmensch und Mitbürger Hamsa ist. Meine Kollegin Lea liebt Frauen, gendert am Limit, hat eine Deutschlandflagge am Auto und verteilt obsessiv Tierschutzbroschüren; mich geht das nichts an – ich respektiere sie als meinen Mitmenschen und meine Mitbürgerin Lea.
Wenn wir diesen Gedanken weiterdenken, wird der Umgang, den wir miteinander pflegen, in vielerlei Hinsicht entspannter. Wir fühlen uns dann nicht mehr genötigt, all die Urteile, die wir zu Recht oder Unrecht gestern über Mitglieder einer Gruppe gefällt haben, auf jeden unglückseligen Einzelnen zu übertragen, der sich uns heute oder morgen als Mitglied dieser Gruppe vorstellt. Es ist dann nicht „Noch so ein Veganer!“ – es ist Hamsa, mein Mitbürger. Wir werden vermutlich feststellen, dass wir uns viel weniger aufregen.
Macht Anerkennung des Einzelnen Gruppenidentitäten überflüssig?
Vielleicht werden dann irgendwann auch die Identitätsbekenntnisse seltener und in der Form milder werden. Wenn ich auch als ich selbst anerkannt werde, brauche ich mich nicht mehr als Angehöriger einer verkannten Minderheit, die aber die Welt rettet und überhaupt alles viel richtiger macht als andere, zu profilieren (Schalke-Fans und Veganer aufgepasst!)
Möglicherweise sind wir irgendwann dann auch alle so entspannt, dass wir erkennen: Identitäten sind Privatsache, vielleicht die privateste, die es gibt. Man macht sie mit sich selbst ab und belästigt seine Mitmenschen nicht damit.
Mitbürger und Mitmenschen
Klingt Ihnen das alles zu simpel? Sie haben Recht, das ist es wohl. Es wird uns nicht gelingen, die Menschen dazu zu bringen, bei der wechselseitigen Beurteilung von Gruppenzugehörigkeiten abzusehen. Aber wir alle könnten uns zumindest das Leben leichter machen, wenn wir verstehen: Beim Aufeinandertreffen einander persönlich unbekannter Personen gibt es nur ganz wenige Gruppenzugehörigkeiten, die für den respektvollen Umgang wichtig sind.
Eigentlich sind es nur zwei, und auch die zielen nicht auf irgendeine Kollektividentität, sondern auf den Anderen als Einzelnen ab.
Die eine Zugehörigkeitsfrage ist: Bist du ein Mitbürger oder eine Mitbürgerin? In dem Falle hast du dieselben Rechte auf politische Mitgestaltung dieser Gesellschaft wie ich, und wir müssen uns irgendwie einigen, wenn einer oder beide von uns irgendetwas in dieser Gesellschaft anders oder neu gestalten möchten.
Die andere Frage ist: Bist du ein Mitmensch? Und die ist natürlich immer zu bejahen. Das „Ja“ bedeutet, dass wir beide ganz elementare Rechte haben, die wir gegenüber dem jeweils anderen (und auch allen anderen Menschen) geltend machen können.
Respekt: Was wir einander schulden
Was bedeutet das für die Frage des Respekts, die uns hierhergeführt hat?
Einem Menschen, den ich nicht persönlich kenne, schulde ich den Respekt vor dem Mitmenschen und vor dem Mitbürger. Nicht aber den Respekt vor irgendeinem abstrakten Kollektiv, mit dem sie oder er sich zufällig identifiziert. Ich brauche weder vor seiner Weltanschauung noch vor seiner Religion, weder vor ihrer Nation noch vor ihrer Herkunft, weder vor seiner Opfergruppen- noch vor seiner Genderidentität, weder vor ihrer Partei noch vor ihrer Aktivistenzelle ehrfurchtsvoll den Hut zu ziehen – aber er und sie haben Anspruch auf meinen Respekt vor ihren Eigenschaften als Mitmenschen und Mitbürger.
Respekt vor dem Mitmenschen bedeutet Achtung der elementaren Rechte eines jeden Menschen in jeder Gemeinschaft: Achtung der Freiheit des Anderen und Gewährung elementarer menschlicher Solidarität in der Not.
Respekt vor dem Mitbürger bedeutet Anerkennung, dass ich mich mit dem Anderen verständigen muss, wenn ich unsere gemeinsame Gesellschaft verändern möchte. Ich darf mein Gegenüber weder bevormunden noch übergehen.
Dies ist der Respekt, den wir alle einander schulden, dem Inhalt nach. Die Form, in der wir diesen Respekt am glaubwürdigsten beweisen, heißt Höflichkeit. Sie ist kein Relikt aus ständischen Zeiten, sondern gerade in einer modernen heterogenen Gesellschaft unverzichtbar – als das gemeinsame Medium, über das die so verschiedenen Menschen sich dennoch miteinander verständigen können.
- Achtung der Freiheit
- Gewährung von Solidarität
- Respekt vor der Mündigkeit der Mitbürger
- Höflichkeit im Umgang
Diese Grundsätze sind sehr einfach und doch gleichzeitig so umfassend, dass wir weitere Umgangsregeln nicht brauchen. Solange wir sie beachten, können wir einander ohne großen Schaden mit unseren Identitäts- und Geltungsansprüchen wechselseitig auf die Nerven gehen. Aber vielleicht brauchen wir die dann gar nicht mehr.
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