Nicht der IS, nicht Russland, nicht die Flüchtlinge: Unser größtes Problem ist die Ungleichheit

Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten und zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind. Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.
Lukas 1, 51-53

 
Seit zwei Jahrtausenden träumen Christen von Gerechtigkeit und singen im Advent den Lobgesang Mariens. Es hat wenig genutzt. 62 Superreiche sollen zusammen genauso viel besitzen wie die ganze ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Über die Zahl wird gestritten, aber auch wenn es nicht 62, sondern 62.000 Reiche wären: Es bliebe eine Schande für uns alle. Diese Form der Ungleichheit ist nutzlos und gefährlich; sie zuzulassen stellt daher der Intelligenz unserer Spezies kein gutes Zeugnis aus. Wenigstens empfinden aber die meisten Menschen solche Ungleichheit als „ungerecht“, und das ist gut so. Wo die Vernunft nicht hinreicht, weist zumindest das Bauchgefühl in die richtige Richtung.  
 

Warum Ungleichheit ungerecht ist

Bei vielen, die im Herzen voll Hochmut sind, will sich allerdings nicht einmal dieses Bauchgefühl einstellen. „Das hab ich doch verdient!“, „Die Anderen können halt nicht richtig arbeiten!“, „Gleichmacherei!“, „Sozialneid!“  sind die Floskeln, die einem da um die Ohren gehauen werden, sobald man etwa die Ansicht zu äußern wagt, dass niemandes Arbeitskraft 100.000 Euro im Jahr wert sei, oder auch nur erwähnt, dass man den Spitzensteuersatz nicht für zu hoch hält.  Andere beliebte Repliken sind „Ich trage ja auch Verantwortung“, „Ungleichheit ist Zeichen wirtschaftlicher Dynamik“, „Der Staat stellt ja eh nichts Gescheites mit dem Geld an“ und was der Sottisen mehr sind.

Dabei sind wir Menschen doch Gesellschaftswesen, die ohne ihre Gesellschaft so hilflos sind wie eine Ameise ohne ihr Volk. Niemand von uns könnte ohne die Hilfe der Anderen lange überleben. Der kulturelle und wirtschaftliche Fortschritt der Menschheit ist immer ein kollektiver Fortschritt. Was wir erwirtschaften, erwirtschaften wir gemeinsam – wie das Ameisenvolk. Es mag sein, dass eine  Ameise etwas „tüchtiger“ ist als eine andere.  Aber auch die „tüchtigste“ Ameise würde ohne die weniger tüchtigen nicht überleben. Umgekehrt würde es das Ameisenvolk als Ganzes kaum beeinträchtigen, wenn unsere supertüchtige Ameise von einem Vogel gefressen würde. Es mag die Superameise kränken, aber sie bedarf ihres Volkes viel mehr, als dieses ihrer bedarf.

Doch verlassen wir das Reich der Insekten. Was verdankt die Gesellschaft den so selbstbewussten selbsternannten Leistungsträgern? Im besten Falle Ideen, die sonst erst später gedacht, und Taten, die sonst erst später vollbracht worden wären.  Und was verdanken umgekehrt diese Tüchtigen der Gesellschaft? Nicht weniger als ihr Leben. Ohne die Anderen hätten sie nicht einmal ihre Kindheit überlebt, geschweige denn Bildung genossen, einen Beruf erlernt, ein Geschäft aufgebaut,  in Sicherheit Früchte ihrer Arbeit genossen und Kontrolle über ihr eigenes Leben gewonnen. Welches moralische Recht nun könnten sie dafür anführen, dass sie von den gemeinschaftlich erwirtschafteten Gütern einen um vieles höheren Anteil genießen dürfen als die Anderen?  Keines. Die Verteilung der Güter in der Gesellschaft ist Verhandlungssache. Die Wohlhabenden haben sich ihren Wohlstand nicht verdient, sie haben ihn sich erhandelt. Solche Verteilungsverhandlungen aber sind oft nicht fair, denn diejenigen, die schon viel besitzen, haben große Verhandlungsvorteile. Und damit sind wir bei den Gefahren wirtschaftlicher Ungleichheit.  
 

Warum Ungleichheit gefährlich ist

Große wirtschaftliche Ungleichheit ist eine Gefahr für die Demokratie.
Es ist ein Ärgernis, aber es bestätigt sich immer wieder: Reiche haben mehr Einfluss auf die Politik als Arme. Auch in einer Demokratie kann man sich bis zu einem gewissen Grade politische Macht kaufen.  Teure Lobby-Arbeit, geldgesteuerte Medienkampagnen, große Parteispenden, kostenaufwändige Karriereförderung für gefällige Politiker – es gibt verschiedene Transmissionsriemen zur Umwandlung wirtschaftlicher Macht in politische Macht. Wer reich ist, ist daher schnell auch mächtig. Wohlhabende haben eine deutlich größere Chance zur politischen Durchsetzung ihrer Interessen als Arme. Das läuft dem demokratischen Prinzip zuwider, nach dem alle volljährigen Bürger gleichberechtigt sind und gleichermaßen Zugang zur politischen Arena haben sollen. Deshalb gilt: Je größer die materielle Ungleichheit in einer Gesellschaft ist, desto schlechter funktioniert die Demokratie.  Denn die Erfahrung lehrt: Wo Menschen die Möglichkeit haben, ihre Macht zum eigenen Vorteil zu missbrauchen, da werden sie es auch irgendwann tun. Und daher bleiben die Reichen mühelos reich und die Armen chancenlos arm.

Große wirtschaftliche Ungleichheit bedroht die materielle Sicherheit breiter Bevölkerungskreise und damit die Souveränität der Menschen über ihr eigenes Leben.
Wenn ein Großteil des gesellschaftlichen Reichtums in der Hand der Wenigen ist, dann teilen sich die Vielen in den kleineren Teil. Je größer die Ungleichheit ist, desto größer ist die Zahl der Menschen, die in wirtschaftlicher Unsicherheit leben. Wer aber am Rande des Abgrunds steht, ist erpressbar: „Wenn du tust, was wir wollen, dann halten wir dich; wenn du tust, was du willst, dann stoßen wir dich.“  So klingt es einem entgegen, wenn man von unsicherem Grund aus verhandelt – mit Arbeitgebern, mit Banken, mit Behörden oder bösen Nachbarn. Vom Freiheitsversprechen der offenen Gesellschaft bleibt da wenig übrig. Ungleichheit schafft Unsicherheit schafft Unfreiheit.

Große wirtschaftliche Ungleichheit ist eine Gefahr für die Stabilität der Gesellschaft.
Wenn nun einerseits die Wohlhabenden die demokratischen Institutionen kapern, andererseits die Abgestürzten oder vom Absturz Bedrohten ihre Freiheit, das eigene Leben zu steuern, immer mehr schwinden sehen, dann wird die Gesellschaft instabil.

Irgendwann entziehen die Menschen unten der real existierenden Demokratie ihre Unterstützung, während die Menschen oben die Demokratie nur noch in ihrer korrumpierten Form sich vorzustellen vermögen. Dann haben wir eine Demokratie ohne Demokraten. Und dann schlägt die Stunde der Populisten, Demagogen und Ideologen.

Hier in Deutschland sollten wir uns damit auskennen. Nationalisten, Nazis, Straflagerkommunisten – wir haben sie alle gehabt, Kriege und totalitäre Regime inklusive. Heute versuchen Islamisten, die Ungleichheit zwischen Alteingesessenen und muslimischen Zuwanderern auszuschlachten. Und die Nationalisten kommen wieder.

Aber auch in anderen Ländern werden die Risse im Fundament der Gesellschaft größer. Die Popularität der Le Pens, Orbáns, Putins oder Trumps zeugt von gefährlichen Statikmängeln vieler Gesellschaften des abendländischen Kulturkreises.


Warum mehr Gleichheit gut für uns ist

Die Gleichheitsexzesse der totalitären Regime - „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ und die Zwangsproletarisierung im „Arbeiter-und-Bauern-Staat“: Sie waren paradoxerweise eine Folge der Ungleichheit – eine so verhängnisvolle wie verlogene Überreaktion auf ein wirkliches gesellschaftliches Übel.  Wir sollten nicht erneut warten, bis politische Haudraufs und Schlagetots sich des Problems der Ungerechtigkeit auf ihre Weise annehmen.

Schafft mehr materielle Gleichheit – macht die wirtschaftlichen Lebensverhältnisse der Menschen ähnlicher! Das gibt den Leuten Sicherheit und Weltvertrauen, macht die Demokratie demokratischer und die Gesellschaft stabiler. Gratis dazu gibt’s das gute Gefühl, in einer gerechten Ordnung zu leben, in der jeder die Achtung bekommt, die ihm zusteht. Übrigens auch die selbsternannten Leistungsträger – aber nicht so sehr für ihre Leistung als für ihre Bürgertugend, über die die meisten von ihnen durchaus verfügen.

Die Gesellschaft entwickelte allmählich wieder den Zusammenhalt, den es braucht, um von außen auf uns wirkenden Bedrohungen und Spaltungsversuchen zu widerstehen. Fremde Autokraten und Terroristen, einheimische Rattenfänger und Volksverdummer – wir würden leicht mit ihnen fertig.

Adventsgedanken.

 

Was nehmen wir als Vorsatz mit ins neue Jahr?

Wir müssen die Gewinne der Globalisierung, die wir wie die Ameisen kollektiv erwirtschaftet haben, viel gleichmäßiger verteilen. Dazu müssen wir uns viel mehr für die Verteilungsverhandlungen interessieren und dürfen nicht länger auf die selbsterklärten Superameisen hereinfallen, die da behaupten, sie hätten alles gemacht. Sorgen müssen wir auch dafür, dass überhaupt über Verteilung verhandelt wird, damit die Superameisen die Gewinne nicht unter der Hand untereinander aufteilen. So demokratisch, dass dies möglich ist, sollte unsere Demokratie allemal noch sein.

Amen.

 

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