Süleyman der PrächtigeIst sie jetzt endlich vorbei? Die Böhmermann-Erdoğan-Merkel-Werte-Debatte? - Wenn man das konfuse Hin-und-Her-Geschimpfe der vergangenen Wochen denn als Debatte bezeichnen möchte. Ein Satiriker zieht über einen ausländischen Politiker her; der beschwert sich bei der Bundeskanzlerin; die sucht ihn zu beschwichtigen, indem sie ihm gut zuredet und so tut, als würde sie höchstpersönlich den Übeltäter zur Rechenschaft ziehen.  Wer Kinder hat, die beim übellaunigen Nachbarn schon einmal Kirschen stibitzt haben, kennt die Situation. Daraufhin bricht nun aber ein Sturm der Entrüstung los, als hätte Angela Merkel soeben das christliche Abendland den Osmanen ausgeliefert. Wer sich die hitzigen Talkshowdiskussionen, die kämpferischen Pressekommentare und die hysterischen Internet-Postings antut, muss zu dem Eindruck gelangen, dass die Türken schon wieder vor Wien stehen.

Was wirft man Merkel vor?

1. Sie gefährde die Kunst- und Meinungsfreiheit.
Das ist Unsinn. Über deren Auslegung entscheiden in Deutschland die Gerichte, nicht die Kanzlerin. Genau das wird jetzt geschehen, unter Maßgabe des Grundgesetzes und der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Und kein Politiker aus dem In- oder Ausland wird hier mitentscheiden.

2. Sie lasse sich von einer ausländischen Regierung  erpressen.
Das ist Politik: ein geregelter Interessenausgleich unter Einsatz von Macht. Je mehr Machtmittel eine Seite in der Hand hat, desto besser kann sie ihre Interessen durchsetzen – im Rahmen anerkannter Regeln. Der türkische Präsident weiß, dass er im Machtpoker derzeit sehr gute Karten hat, da die Deutschen möchten, dass die Türkei den Flüchtlingsstrom stoppt. Diese Karten spielt er aus. Dabei verletzt er keine Regeln: Er nutzt eine Möglichkeit, die das deutsche Recht ihm bietet. Es waren ja nicht türkische Politiker, die die Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupter in Deutschland unter Strafe gestellt haben. Also kein Grund zur Empörung.  Merkel nun hat unter diesen Umständen pragmatisch entschieden, dem türkischen Präsidenten einen PR-Sieg zuzugestehen, um deutsche Staatsinteressen nicht zu gefährden. Das ist sicher nicht zwingend, aber nachvollziehbar. Auch hier kein Grund zur Empörung.

3. Sie opfere höhere Werte um eines schnöden politischen Vorteils willen.
Das ist wieder Unsinn. Zum einen opfert sie keine Werte, da man nichts opfern kann, auf das man gar keinen Zugriff hat; die Kunstfreiheit wird vor den Gerichten verhandelt, nicht im Kanzleramt. Zum anderen ist dieser politische Vorteil nichts Geringeres als existentielles deutsches Staatsinteresse: die Sicherung der deutschen und europäischen Grenzen gegen unkontrollierte Zuwanderung, die ja zuletzt zu politischer Radikalisierung in Deutschland geführt hat, bis hin zu Brandanschlägen auf schlafende Menschen.

An diesen drei Vorwürfen also ist wenig dran. Sachgründe können es kaum sein, aus denen die hitzige Debatte erwachsen ist. Nein, deren Wurzeln ziehen ihre Nahrung doch eher aus tieferliegenden Befindlichkeiten, Ängsten und Ressentiments.

Die tieferliegenden Ursachen der Erdoğan-Debatte: Luther, die Nation und der böse Muslim


Da ist zunächst die Flüchtlingskrise: Vielen passt die ganze Richtung nicht. Das Einprügeln auf Merkel und Erdoğan fungiert als Ventil für aufgestauten Unmut. Merkel und Erdoğan sind die idealen Feindbilder: „die volksferne, abgehobene Politikerin“ und „der böse, männliche Muslim“.

Des Weiteren bestärkt die offensichtliche Diskrepanz zwischen den politischen Werten des türkischen Präsidenten und den unseren die alten deutschen Ängste vor kultureller und politischer Überfremdung. Diese Ängste haben eine lange Tradition in Deutschland. Im 18. und 19. Jahrhundert bezogen sie sich auf die kulturelle Ausstrahlung und den politischen Imperialismus Frankreichs, im 20. auf eine vermeintliche Amerikanisierung des Landes und derzeit sorgt man sich vor einer Islamisierung nicht nur Deutschlands, sondern ganz Europas. Erdoğan ist Projektionsfläche für einen Anti-Islamismus, der ein Schwager des Antiamerikanismus und ein Urenkel der alten Franzosenfeindschaft ist.

Überdies können wir hier auch eine nationale Dimension erkennen: Die Deutschen als politische Gemeinschaft, als Nation, sind traumatisiert durch die Erfahrung der politischen Ohnmacht nach der Niederlage des Zweiten Weltkriegs und durch den Souveränitätsverlust aus Besatzung und deutscher Teilung. Wahrscheinlich ist dieses Trauma sogar noch viel älter, denn politische Ohnmacht war eine Grunderfahrung vieler deutscher Kleinstaaten vor der Reichseinigung 1871. Nach 1990 hat sich Deutschland endlich wieder in eine Position zurückgearbeitet, in der es seine Interessen robust nach außen vertreten kann, zuletzt zu beobachten in der Eurokrise. Und gerade in dem Moment, wo viele Deutsche zum ersten Mal das Gefühl haben „Wir sind wieder wer!“,  kommt der Präsident eines Schwellenlandes, führt die deutsche Regierungschefin am Ring durch die Manege und versucht in Deutschland mitzuregieren. Das tut weh, und der Aufschrei verletzten Nationalstolzes war zu erwarten.

Zu guter Letzt ist da auch noch der alte lutherische Idealismus. „Man darf doch nicht einfach aus Gründen pragmatischer Vernunft auf das Predigen seiner Ideale verzichten!  Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Und wenn sich unsere hehren Ideen mit der Wirklichkeit nicht vertragen, sind nicht die Ideen falsch, sondern die Wirklichkeit!“  Einmal auf die Menschenrechtsrhetorik verzichten, um ein höheres Ziel zu erreichen? Also um des Flüchtlingsabkommens willen einmal darauf verzichten, Herrn Erdoğan moralisch zu belehren? Pfui! ruft da der kleine Luther, der in jedem wackeren Deutschen steckt.

So führt uns die Böhmermann-Erdoğan-Merkel-Werte-Debatte schließlich in die Tiefenschichten der deutschen Kultur. Das nun wäre eigentlich kein schlechter Endpunkt für die ganze Diskussion. Wir arbeiten uns an Herrn Erdoğan ab, um uns darüber klar zu werden, wer wir eigentlich sind.

Wir sind eine Nation, die sich ihres Platzes und ihrer Stärke keineswegs sicher ist. Wir haben Angst davor, wieder von anderen Mächten herumgestoßen zu werden; wir sind uns nicht sicher, ob unsere Kultur einen eigenen Wert hat, der nicht von anderen Kulturen einfach „ausgelöscht“ werden kann. Aber wir haben ein enormes Beharrungsvermögen. Das Banner unserer Ideen und Ideale halten wir hoch, auch wenn das Wasser uns schon bis zum Hals steht, und sogar dann, wenn diese Ideen und Ideale sich als falsch erweisen. Wir mögen oft ein wenig ängstlich und unflexibel sein, aber wir sind weiß Gott stur genug, um uns weder die Butter vom Brot nehmen noch den Schneid abkaufen zu lassen.

Herrn Erdoğan dürfen wir mit Gelassenheit begegnen, und Herr Böhmermann wird nicht als Galeerensklave in der Flotte des Sultans enden. Dafür werden wir schon sorgen. Ende der Debatte.

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