Thorsten Kleinschmidt, 12. November 2011
 

Dem Nationalen sind wir nun wirklich nicht abgeneigt. Und für das Provinzielle, wir gestehen’s, haben wir eine gar nicht so heimliche Schwäche. Was uns aber in letzter Zeit an nationalprovinziellem Bramarbasieren in den Leserkommentaren bei führenden deutschen Internetmedien begegnet, ist selbst uns zuviel.

... „ohne Europa wäre Deutschland besser dran“, „Deutschland füttert den Rest Europas durch“, „Wir sind die einzigen, die richtig arbeiten“, „Wir schmeißen die faulen Südländer raus aus dem Euro“, „Europa ist ein Klotz am Bein“, „Europa ist eine Verschwörung der Politiker gegen das Volk“, „wir müssen raus aus der EU und wie die Schweiz werden“, „die europäische Integration ist 60 Jahre nach dem Krieg nicht mehr nötig“, „wir schaffen die EU ab und kooperieren dann nur noch mit den Ländern, die wir uns aussuchen“...

Das ist die Meinung des Volkes, nein: die Meinung des querulierenden Teils desselben. Uns scheint es hier an der Zeit, noch einmal zusammenzutragen, warum die europäische Integration in Deutschlands vitalem nationalen Interesse ist. Einige dieser Gründe werden oft schamhaft verschwiegen, wir wollen sie gleichwohl aufs Tapet bringen.

Also: Was bringt die europäische Integration?

  1. Sicherung Deutschlands gegen seine Nachbarn
  2. Sicherung deutschen Einflusses in Europa
  3. Sicherung Deutschlands gegen Übergriffe außereuropäischer Staaten und Akteure
  4. Wahrung und Vergrößerung deutscher Einflussmöglichkeiten weltweit
  5. Befriedung der europäischen Peripherie
  6. Schaffung eines großen einheitlichen Wirtschaftsraums für die deutschen Unternehmen und den deutschen Verbraucher
  7. Vergrößerung des persönlichen Lebensraums für den einzelnen deutschen Bürger
  8. Ermöglichung nachhaltiger Kooperation auf vielen Gebieten

          
1. Sicherung Deutschlands gegen seine Nachbarn
    

Deutschland ist in Europa das mächtigste Land westlich des Njemen; seine Mittellage bringt es mit sich, dass es von vielen Nachbarn in allen Himmelsrichtungen als eine mögliche politische und wirtschaftliche Bedrohung wahrgenommen wird. Nichts läge für diese argwöhnischen Nachbarn näher, als sich zu antideutschen Koalitionen zusammenzuschließen. Genau das ist seit dem 16. Jahrhundert immer wieder geschehen; wir verdanken dieser Konstellation unter anderem den Dreißigjährigen Krieg und den Ersten Weltkrieg. Die europäische Integration ist aus deutscher Sicht eine große vertrauensbildende Maßnahme. Sie vermittelt Deutschlands Nachbarn den Eindruck, einen gewissen Einfluss auf Deutschlands Kurs nehmen zu können, ohne zu antideutschen Zusammenschlüssen und zur Konfrontation Zuflucht nehmen zu müssen. Die Erfolge eines europäisch eingebundenen Deutschlands kommen auch den Nachbarn zugute, so dass diese sogar ein Interesse an unserem Wohlergehen haben. In einem integrierten Europa kommt es so zu einer Annäherung politischer Identitäten und Interessen.
Ohne die europäische Integration wäre Deutschland im Nu von einer informellen französisch-britisch-polnisch-italienisch-amerikanischen Allianz umzingelt, die sich alle Mühe geben würde, Deutschlands politische und ökonomische Entwicklung zu behindern.

                
2. Sicherung deutschen Einflusses in Europa

Dies ist gewissermaßen die Umkehrung des ersten Punkts. So wie Deutschlands Nachbarn durch die Integration Einfluss auf Deutschlands Kurs bekommen, so kann auch Deutschland die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Europa in seinem Sinne beeinflussen.  Und das nicht zu knapp: Deutschland verdonnert gerade südeuropäische Staaten zu drastischen Sparprogrammen, um deutschen Banken Verluste zu ersparen.  Deutschland hat seinerzeit die EU-Osterweiterung durchgesetzt, um sein östliches Vorfeld zu stabilisieren – mit gesamteuropäischen Ressourcen! Umgekehrt hat man Frankreichs Projekt der Mittelmeerunion gebremst und damit den Abfluss gesamteuropäischer Gelder nach Süden verhindert.
Dank der europäischen Integration hat Deutschland heute in Europa mehr Einfluss als irgendwann zu Friedenszeiten in den letzten 500 Jahren. Wer darauf verzichten will, sollte genau wissen, was er tut!

3. Sicherung Deutschlands gegen Übergriffe außereuropäischer Staaten und Akteure
So groß Deutschland im europäischen Umfeld wirkt, so klein ist es doch in weltweiter Betrachtung. Wäre Deutschland auf sich allein gestellt in der Lage, seine politischen, wirtschaftlichen, sozialen Interessen künftig gegen die Elefanten in der weltpolitischen Arena zu behaupten? Also gegen die USA, China, Indien, Russland, Brasilien oder einen möglicherweise wieder erstarkenden arabischen Raum? Hätte Deutschland eine realistische Chance, seinen Vorstellungen zur weltweiten Regulierung nichtstaatlicher Wirtschaftsakteure Gehör und Beachtung zu verschaffen?
Nein. Ohne die Bündelung europäischer Machtressourcen in der EU wäre Deutschland weltpolitisch ein Zwerg – und so ohnmächtig wie die zu Unrecht beneidete Schweiz, die sich in den letzten Jahren von USA und EU die Neuregelung ihres berühmten Bankgeheimnisses diktieren lassen musste.

4. Wahrung und Vergrößerung deutscher Einflussmöglichkeiten weltweit
Dies schließt an den vorigen Punkt an. Wenn in den großen Arenen der internationalen Politik über die künftige Gestaltung der Welt verhandelt wird, möchten wir unsere Interessen und Ideen mitberücksichtigt sehen. Das betrifft eine Vielzahl von Themenfeldern; vom Klimaschutz über die Begrenzung der Auswüchse des Kapitalismus und das Vorgehen gegen Steueroasen bis zur Bekämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Bei diesen und tausend anderen Fragen zählt die Stimme Einzeldeutschlands wenig bis nichts. Nur in Verbindung mit dem Gewicht der anderen europäischen Staaten wiegt unser Einfluss schwer genug, um etwas bewirken zu können.

5. Befriedung der europäischen Peripherie
Die Deutschen haben ein vitales Interesse daran, in einem friedlichen, prosperierenden internationalen Umfeld zu leben. Das betrifft nicht nur Deutschlands unmittelbare Nachbarländer: Wirtschaftliche Instabilität, Flüchtlingsströme, organisierte Kriminalität, Terrorismus und andere Kollateralschäden inner- und zwischenstaatlicher Konflikte wirken auch über größere Entfernungen auf Deutschland. Die Europäische Union stabilisiert für Deutschland Osteuropa, balanciert Russland aus, befriedet den Balkan und könnte künftig die Demokratisierung und wirtschaftliche Entwicklung im arabisch-islamischen Raum fördern.
Sollte Deutschland das alleine bewerkstelligen, müssten wir enorme Ressourcen aufwenden – politische, wirtschaftliche, militärische. Und der Erfolg wäre trotzdem zweifelhaft.

6. Schaffung eines großen einheitlichen Wirtschaftsraums für die deutschen Unternehmen und den deutschen Verbraucher
Sowohl die deutsche Wirtschaft im Allgemeinen als auch die deutschen Verbraucher im Besonderen profitieren vom großen Wirtschaftsraum Integrationseuropas, der exzellente Absatzmöglichkeiten und tendenziell niedrigere Preise gewährleistet. Dass im Gegenzug durch verstärkten Wettbewerbsdruck auch deutsche Arbeitsplätze und Lohnniveaus in Gefahr geraten können, ist an sich kein Gegenargument – schließlich bietet die europäische Integration auch den Gewerkschaften die Möglichkeit zur europaweiten Vernetzung. Dass diese aus dieser Chance bisher wenig gemacht haben, steht auf einem anderen Blatt und ist nicht Schuld der EU.
Aber kommt nicht etwa die Schweiz hervorragend ohne europäische Integration aus? Ganz und gar nicht. Die Schweiz profitiert als Trittbrettfahrerin seit jeher vom gemeinsamen europäischen Markt. Sie ist de facto Teil des Binnenmarkts und muss nolens volens Brüsseler Regelungen ebenfalls umsetzen, will sie ihren Zugang zu diesem Markt nicht verlieren. Ohne die europäische Integration müsste die Schweiz mit jedem europäischen Staat einzeln um ein Handelsabkommen feilschen. Und das müsste Deutschland auch.

7. Vergrößerung des persönlichen Lebensraums für den einzelnen deutschen Bürger
Im integrierten Europa können deutsche Bürger reisen, wohin sie wollen; sie können sich niederlassen und arbeiten, wo sie wollen; sie können studieren, wo sie wollen; sie können unbehelligt von Zöllen einkaufen und verkaufen, wo sie wollen. Sie brauchen kein Bargeld zu tauschen, können problemlos Buchgeld in andere Teile Europas überweisen, haben europaweit Rechtssicherheit, dürfen auf kommunaler und europäischer Ebene wählen und sich selbst zur Wahl stellen. Und dergleichen mehr.
Es ist naiv zu glauben, solche Freiheiten ließen sich ohne gemeinsame Institutionen auf Dauer aufrechterhalten.

8. Ermöglichung nachhaltiger Kooperation auf vielen Gebieten
Dieser Punkt knüpft an den letzten Satz des vorigen Punkts an. Europaskeptiker behaupten gerne, ohne die europäische Integration würden die europäischen Staaten „einfach so“ kooperieren, so dass die wirklichen europäischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte gar nicht verloren gingen.
Das ist blauäugig. Jede Adhoc-Kooperation ohne stabilisierende Institutionen unterliegt den Zwängen des politischen Tagesgeschäfts. Wenn ich mir als Politiker bei der nächsten Wahl Vorteile davon verspreche, dann führe ich Grenzkontrollen mal eben wieder ein, hebe die Niederlassungsfreiheit auf, halte mich nicht an internationale Absprachen – und mache das Ganze nach der Wahl vielleicht wieder rückgängig oder auch nicht oder eventuell doch...
Nachhaltige internationale Zusammenarbeit bedarf der Institutionen, die unabhängig von den Wechselfällen des nationalen politischen Alltags Maßnahmen durchführen und Absprachen überwachen.
Ohne europäische Institutionen könnte Deutschland  noch viel weniger als heute darauf zählen, dass Nachbarländer sich an getroffene Vereinbarungen halten. Internationale Politik würde wieder zum reinen Machtspiel – und zum Glücksspiel.

       
Summa summarum: Die europäische Integration liegt im vitalen nationalen Interesse Deutschlands.

Das heißt nun aber nicht, dass wir mit dem Zustand der EU zufrieden sein sollten. Um Gottes willen!

Die EU ist in der Tat undemokratisch, undurchsichtig, unfair und uneffektiv. Sie ermöglicht keine demokratischen Willensbildungsprozesse und bietet keine faire Regelung des Zugangs zur Macht. Durch ihre chaotische Gestalt privilegiert sie bestimmte politische Strukturen und wirtschaftliche Interessengruppen zu Lasten breiter Schichten der Bevölkerung. Dinge, die sie regeln sollte, regelt sie schlecht; Dinge, die sie nicht regeln sollte, regelt sie allzu gut. Es gibt keine vernünftige  Aufgabenteilung zwischen der Union und den Mitgliedsstaaten, weshalb Europa und Nationen einander ständig im Weg stehen.

Was das heißt?

Deutschland braucht unbedingt eine Europäische Union – aber es braucht eine andere Europäische Union als die, die wir haben.
 

  

1 Trackback

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  • reichsfrei.de  
    Krisenjahre: Kann Deutschland das Heilige Europäische Reich führen?
    Das Jahr geht zu Ende, die Probleme bleiben. In Europa, und das heißt in Deutschland.Nach wie vor treiben Krieg und Elend im Nahen und im Mittleren Osten, in Nord- und in Ostafrika Flüchtlinge in großer Zahl nach Europa. Und die Europäer ...

2 Kommentare

Linear

  • carolus  
    Deutschland braucht unbedingt eine Europäische Union – aber es braucht eine andere Europäische Union als die, die wir haben.

    Ach ja, die Sache mit dem Spatz in der Hand und der Taube auf dem Dach... Wie soll denn diese andere Union Gestalt annehmen? Dazu müsste man die alten Verträge komplett streichen und einen neuen ausarbeiten. Und dann kämen wieder Referenden in allen möglichen europäischen Zwergstaaten und in irgendeinem Land würde die Mehrheit bestimmt wieder dagegen stimmen, weil sie ihrem Premierminister einen Denkzettel verpassen wollen, weil der gerade die Hundesteuer erhöht hat.

    Nee. Eine andere Union als die jetzige können wir nicht kriegen. Es ist ja paradox: Wir können keine bessere Union kriegen, weil die Leute, die ständig über die Fehler der jetzigen Union motzen, zu blöd sind, wenns drauf ankommt tatsächlich für eine bessere Union zu stimmen!!!
  • carolus  
    Nachtrag: Davon abgesehen, unterschreibe ich den Artikel.

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