Thorsten Kleinschmidt, 29. Dezember 2015

 

Europafahne

Das Jahr geht zu Ende, die Probleme bleiben.  In Europa, und das heißt in Deutschland.

Nach wie vor treiben Krieg und Elend im Nahen und im Mittleren Osten, in Nord- und in Ostafrika Flüchtlinge in großer Zahl nach Europa. Und die Europäer werden sich nicht einig, wie man dem Ansturm begegnen soll.

Nach wie vor leiden viele Menschen im Süden und Westen Europas unter den Folgen der Rosskur, die die Doktor-Eisenbärte der Eurozone und des Internationalen Währungsfonds den hoch verschuldeten Volkswirtschaften verordnet haben. Ein wirtschaftlicher Aufschwung ist nicht in Sicht, Menschen sehen ihre Lebensträume zerplatzen wie Seifenblasen und igeln sich in Ressentiments ein, was irgendwann auch Nordeuropa teuer zu stehen kommen wird. Und wir anderen Europäer wissen nicht, wie man Menschen in Griechenland oder Spanien die Zuversicht und Tatkraft zurückgeben kann, die die Voraussetzung für Wohlstand und Zufriedenheit sind.

Nach wie vor steigt der Nebel des Nationalismus aus den Sümpfen Osteuropas und treibt langsam westwärts. Russlands Präsident Putin betreibt die Zerstückelung der Ukraine so wie einst Stalin die Zerstückelung Deutschlands und Katharina II. die Zerstückelung Polens. Die Gefahr eines neuen Waffengangs in der Ukraine besteht fort, wie auch die Aussicht auf einen nationalistischen Terrorismus. Gleichzeitig beobachten Putin-Fans in Ungarn, Frankreich, auf dem Balkan und andernorts fasziniert, wie sich mit einer autoritären, nationalistischen Ideologie innenpolitisch Gefolgschaft und Macht gewinnen lässt. Und Europas Politik hat keinen überzeugenden Gegenentwurf zu diesem neuen Nationalismus; die Europäische Union zeigt Auflösungserscheinungen und scheint handlungsunfähig.

Nach wie vor gibt es in Europa Menschen, die vom Bürgerkrieg träumen und bereit sind, ihre Nachbarn zu erschießen oder in die Luft zu sprengen –  unter dem Vorwand, dass diese sich nicht zu einer Primitiv-Form des Islams bekennten, die jeder Beschreibung spottet. Es handelt sich hier um eine Idioten-Seuche, die auch in anderen Ecken der Gesellschaft Menschen infiziert, die sich ihrerseits dazu getrieben fühlen, Flüchtlingsheime anzustecken. Und Europas Politik weiß sich keinen Rat, wie man diese Epidemie eindämmen könnte.

Nach wie vor auch gibt es keine klare und sinnvolle Verteilung der politischen Kompetenzen zwischen Integrationseuropa und den Nationalstaaten; und deshalb gibt es keine klaren Entscheidungen; und deshalb gibt es keine gute Politik; und deshalb genießt „Europa“ wenig Vertrauen und Respekt; und deshalb wittern die Feinde Europas überall Morgenluft.

Was tun? Europa bedarf der Führung, und will doch nichts weniger als geführt werden. Das erinnert je länger desto mehr an die Zustände im Alten Reich, dem Heiligen Römischen deutscher Nation, das vor 209 Jahren unterging und dessen ideeller Nachfolger die Europäische Union ist. Und hier gibt es einiges für uns zu lernen, denn nicht nur ähnelt Europa dem Reich, es ähnelt auch die Rolle Deutschlands der Rolle des Kaisers in diesem Reich:

Wappen des Heiligen Römischen Kaisers

Auch das Reich war oft bedroht: von imperialistischen Nachbarn wie den Osmanen oder Franzosen, von aggressiv ehrgeizigen Teilstaaten in seiner Mitte wie Bayern oder Preußen, von systemsprengenden Ideologien wie dem Protestantismus oder dem demokratischen Nationalismus. Eine verhängnisvolle Kombination dieser Faktoren führte schließlich zum Zusammenbruch des Reiches. Auch das Reich mit seinen Hunderten mehr oder weniger souveräner Staaten, Städte und Ländchen wollte nicht geführt werden. In den endlosen Debatten und Verhandlungen des Reichstags verteidigten die Landesfürsten mit Klauen und Zähnen ihre Kirchturminteressen. Noch als die Türken schon vor Wien standen, hielten die meisten Reichsstände ihr Pulver trocken und ließen die Süddeutschen alleine kämpfen.

Und dennoch hatte das Reich über viele Jahrhunderte hinweg Bestand. Zum einen, weil eine gemeinsame Rechts- und Verteidigungsordnung in Mitteleuropa letztlich doch im Interesse aller Mitgliedsländer war. Zum anderen, weil es eine Kraft gab, die ihr Möglichstes tat, das Reich zusammenzuhalten: den Kaiser, der meist vom Haus Habsburg gestellt wurde. Der Kaiser spielte eine Doppelrolle: Als Haupt seiner Dynastie hatte er zuvörderst das Interesse seiner Habsburger Länder, zusammengefasst unter dem Begriff „Österreich“, im Auge. Gleichzeitig setzte er sich als Reichsoberhaupt für den Bestand und Zusammenhalt des Reiches ein. Zuweilen kollidierten beide Aufgaben, und als der Kaiser im 17. Jahrhundert versuchte, die Macht des Hauses Habsburg auf Kosten der anderen Reichsstände zu vergrößern, verbündete sich das halbe Reich gegen ihn, und der Dreißigjährigen Krieg begann. Aber meistens war man in „Österreich“ der Ansicht: Was gut ist für das Reich, das ist auch gut für uns.

Verlässliche Verbündete für den Kaiser waren die zahlreichen kleinen und mittleren Staaten im Reich. Sie wären ohne den Rechtsrahmen des Reiches nicht in der Lage gewesen, ihre Interessen gegen größere Nachbarn zu wahren. Ihre Unterstützung verlieh dem Kaiser  politische Legitimität, wenn er versuchte, die größeren Länder im Reich zu gemeinsamem Vorgehen zu bewegen. Das war ein wahrlich mühsames Geschäft, aber es funktionierte jahrhundertelang, und zwar mehr recht als schlecht. Als jedoch der Kaiser unter dem imperialistischen Druck des napoleonischen Frankreichs nicht mehr in der Lage war, die kleinen Länder gegen die Machtansprüche der großen zu schützen, ging das Reich unter.

Ist es vermessen, wenn man Deutschlands Rolle im Europa der Gegenwart mit der Rolle Habsburgs im Alten Reich vergleicht?  Wie Habsburgs Interessen mit dem Reich, so sind Deutschlands Interessen eng mit der Europäischen Union verknüpft . Wie Habsburg ist Deutschland der primus inter pares in einer Konföderation, deren Mitglieder oft ihre Partikularinteressen auf Kosten des großen Ganzen verfolgen. Wie seinerzeit die Reichsstände auf den Kaiser, schauen heute die anderen EU-Länder reflexartig auf Deutschland, wenn es eine Krise zu meistern und Opfer zu bringen gilt. Und wie einst sind auch heute die kleinen Länder oft die verlässlichsten Verbündeten, wenn es darum geht, das Funktionieren der Union zu sichern.

Deutschland ist weiß Gott nicht mehr berufen ein Heiliges Reich zu begründen, aber solange wir in Europa keine bessere Ordnung haben, sollten wir uns auf unsere historischen Erfahrungen stützen, um in Europa das große Ganze zusammenzuhalten. Das bedeutet:
 

  • Deutschland sollte für diese stürmischen Zeiten seine Führungsrolle akzeptieren und sich für den Zusammenhalt Europas verantwortlich fühlen. Viel mehr wird in einer Union, deren Mitglieder eigentlich nicht geführt werden möchten, nicht zu erreichen sein. Die Völkerfamilie irgendwie zusammenzuhalten, ist aber schon ein Ziel, das vieler Mühen wert ist. Deutschland sollte bereit sein, die Energie, das Geld und die weiteren Ressourcen aufzubringen, die dafür nötig sind. Auch den guten Willen. Wie sagte Mario Draghi? Whatever it takes.
     
  • Deutschland sollte sich zum Anwalt und notfalls zum Schirmherrn der kleinen und mittleren Staaten Europas machen. Das würde deutscher Politik Legitimität verleihen und der EU insgesamt ebenso. Denn dies ist der Begründungskern für die Idee der europäischen Integration: die Schwachen vor den Starken zu schützen. Wenn wir das aus den Augen verlieren, wird die Union auseinanderfallen.
     
  • Deutschland muss daher heute das Wohl Griechenlands und die Sicherheit der baltischen Staaten zu hochrangigen Zielen seiner Europapolitik erheben – und auch die Angst Ungarns oder der Slowakei vor Zuwanderung ernst nehmen.
     
  • Deutschland muss allen Versuchungen widerstehen, seine Interessen in der Union durch brachialen machtpolitischen Druck durchzusetzen, da es sonst über kurz oder lang antideutsche Allianzen der anderen großen Mitgliedsländer provoziert. Stattdessen sollte Deutschland beharrlich auf eine Reform der wirkungs- und demokratie-armen europäischen Strukturen drängen. Besonders sollte Deutschland sich immer mit Frankreich abstimmen.
     
  • Bei alldem darf Deutschland sich nicht verausgaben. Wir sind nur der primus inter pares, der Erste unter Gleichen – zwar stärker als die Anderen, aber immer noch viel zu schwach, um Europas Probleme im Alleingang zu lösen. Wenn Deutschland die Führungsrolle übernimmt, dann nur weil – und insoweit – ein geeintes Europa im Interesse der Deutschen liegt. Sich für Europa zu ruinieren, liegt nicht im Interesse der Deutschen. Zu führen heißt nicht, alles allein zu machen, sondern die Anderen zu gemeinsamem Vorgehen zu bewegen.

Fassen wir zusammen:

Deutschland sollte Europa führen, solange dieses Europa keine effektive politische Ordnung hat. Deutschland sollte, gestützt auf das Vertrauen der kleinen und mittleren Mitgliedsländer, die anderen europäischen Großen von Fall zu Fall zu gemeinsamem Vorgehen drängen. Dabei sollte Deutschland immer bereit sein, mehr einzubringen als die anderen, ohne sich auf Dauer zu übernehmen. Die Leitidee dabei sollte sein: Ziel und Zweck der europäischen Integration ist es, die Schwachen vor den Starken zu schützen.

Das ist nicht sehr genau oder griffig, zeigt jedoch eine Richtung an. Aber nicht vergessen: Das Alte Reich ist schließlich untergegangen, weil seine Mitglieder es nicht geschafft haben, ihm eine Ordnung zu geben, die einer neuen Zeit angemessen war. Auf Dauer wird Europa nicht bestehen, wenn es immer auf deutsche Führung angewiesen ist.

Und jetzt auf ins Jahr 2016 !


 

1 Kommentar

Linear

  • Amman  
    Naja es stimmt schon, dass Deutschland eine Führungsrolle einnehmen muss. Dabei muss man aber die Gesamtsituation betrachten.

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