Karte Osteuropas 1920Der Staub legt sich allmählich nach dem Showdown in Vilnius. Der ukrainische Präsident Janukowitsch hat das Abkommen mit der EU spektakulär platzen lassen und versucht nun, sich seine Widerborstigkeit bei Verhandlungen mit Russlands Putin versilbern zu lassen. Die ukrainische Opposition demonstriert noch, aber die Medienkarawane zieht schon weiter – Zentralafrika steht auf dem Flugplan.

Wir nun sind mit dem Thema noch nicht durch: Weil das Verhältnis zur Ukraine tatsächlich wichtig für Deutschland ist. In Frage steht nicht weniger als die Sicherheitsarchitektur in Osteuropa; die Frage, ob von Osteuropa in den kommenden Jahrzehnten Gefahr für Deutschland ausgeht oder nicht.

Die Länder östlich von Polen sind die neue Schütterzone des europäischen Kontinents. Die postsowjetischen Staatsbauten stehen hier auf unsicherem Grund; mancherlei Verwerfungen gefährden die gesellschaftliche Stabilität:

  • Eine ungesunde Abhängigkeit vom Energie- und Rohstoffsektor bedroht die wirtschaftliche Entwicklung mit dauerhafter Unsicherheit. Russlands Entwicklung hängt viel zu sehr davon ab, welche Preise es für seine Energierohstoffe erzielen kann; die Entwicklung der Ukraine und Weißrusslands hängt viel zu sehr davon ab, welche Gaspreise ihnen Russland berechnet.

  • Unproduktiven Industrien, die dem disziplinierenden Markt teilweise seit beinah einem Jahrhundert entzogen sind, tritt allmählich ein neuer Mittelstand gegenüber, der an liberalen Reformen interessiert ist.

  • Osteuropäische Wirtschaftseliten schielen einerseits auf westeuropäische Märkte, haben andererseits aber Angst vor westlicher Konkurrenz auf einem freien Markt. Sie wünschen sich ein Europa, das ihnen den Pelz wäscht, ohne sie nass zu machen.
  • Ein Teil der Bevölkerung ist traumatisiert durch den wirtschaftlichen Absturz der Neunzigerjahre und fürchtet den Zusammenbruch hergebrachter politischer und wirtschaftlicher Strukturen. Andere haben den Wohlstand und die Freiheit Mitteleuropas vor Augen und möchten daran teilhaben – diese wünschen sich genau die radikale Veränderung, die jene fürchten.

  • Alte politische Eliten treffen auf neue politische Kräfte. Die Alten verdanken ihre Karrieren den noch aus altsowjetischem Gestein sprudelnden Quellen von Geld und Macht, den Großindustrien und Sicherheitsapparaten; sie empfinden Demokratisierung als Bedrohung. Die Neuen erwachsen aus der entstehenden Mittelschicht, sie wollen das Machtmonopol des alten politisch-ökonomischen Komplexes aufbrechen, weil sie ihre eigenen Interessen von diesem nicht vertreten sehen. 

  • Und viele Menschen, wohl die meisten, stehen orientierungslos oder doch unentschieden zwischen all diesen Kräften und Tendenzen. Wenn sie sich irgendwann entscheiden und in Bewegung setzen, kann ein politischer und gesellschaftlicher Erdrutsch die Folge sein, dessen Ausläufer bis nach Berlin, München und Köln reichen.

    Das EU-Projekt der Östlichen Partnerschaft, das versucht, die Länder im Osten über Assoziierungsabkommen an die Union heranzuführen, ist ein Instrument zur Stabilisierung Osteuropas. Es bietet eine Art „Europäisierung light“ an, die den reformorientierten Kräften  in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Hoffnung geben soll, ohne die Konservativen zu verschrecken. Das hat jetzt mit Moldau und Georgien funktioniert, mit der Ukraine aber nicht. Die alten Eliten in Wirtschaft und Politik waren nur halb von dem Abkommen überzeugt, das sie da mit der EU ausgehandelt hatten – einige drohende Worte aus Russland reichten dann, um die Stimmung vollends kippen zu lassen. Sie haben den Sprung vom Zehn-Meter-Brett nicht gewagt.

    Was nun? Die alten Kräfte in der Ukraine trauen sich nicht. Die in Weißrussland stecken den Kopf in den Sand. Und die in Russland suchen seit zwanzig Jahren hektisch nach dem großen nationalen Projekt, das ihnen die Zuneigung der Bevölkerung bewahren und so Reformen ersparen kann. („Die Wiedergeburt des Imperiums“? „Das Land der wahren Gläubigen“? „Die eurasische Zivilisationsachse mit China, Kasachstan, Weißrussland usw.“? „Das Kuweit des Nordens“? „Das Land des guten Zaren gegen die bösen Könige des Westens?“)

    Derweil wächst die Unzufriedenheit derjenigen, die Veränderungen wollen, schneller als die Volkswirtschaft. Mit Geld werden die Regierenden die Konflikte nicht befrieden können – Russland ist halt doch nicht Kuweit, und der Stahl aus Donezk wird die Ukraine nicht zu einem reichen Land machen.

    Wenn wir nicht wollen, dass halb Osteuropa von einer Zukunft in Berlin oder München träumt; wenn wir nicht wollen, dass konservative Regierungen im Osten wie weiland die Regierung Milošević auf dem Balkan künftig zu gefährlichen außenpolitischen Abenteuern Zuflucht nehmen, um ihre Bevölkerung von eigenen Problemen abzulenken – dann muss Deutschland Osteuropa zu einer außenpolitischen Priorität machen.

    Und noch ein Hinweis für den Fall, dass unser nächster Außenminister aus der SPD kommt: Männerfreundschaften von SPD-Politikern mit russischen Zaren haben Osteuropa nicht weitergebracht.







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