Thorsten Kleinschmidt, 23. Mai 2019
 

Am nächsten Wochenende wird das Europäische Parlament gewählt. „Europawahl‟? - Es würde ja höchste Zeit, dass Deutschland endlich Europa wählte.

Rhetorisch gibt sich die amtierende Bundesregierung so europäisch wie nur irgendeine vor ihr. Faktisch steigt Deutschland seit dem Schock der Eurokrise jedesmal mit beiden Füßen panisch auf die Bremse, sobald irgendjemand in Brüssel oder Paris das Steuer des blau-gelben Prunkwagens in Richtung „EU-Reform‟ bewegen möchte.
 

Europa ist schön, aber ausländisch

Prinzipiell sind der deutsche Michel und die deutsche Michaela natürlich immer „für Europa‟ - irgendwie. Wenn's dann aber mal politisch konkret werden soll mit der Europäisierung – Wirtschaftsregierung, Industriepolitik, Grenzschutz, Armee, Nordafrikapolitik – dann bekommen die Leitartikler, Internetforisten und auch viele Offline-Deutsche weiche Knie. „Sozialismus à la française‟ und „Ausbeutung des deutschen Steuerzahlers‟ entrüstet es sich in der einen Ecke, „Militarisierung‟ und „Neoliberalismus‟ schallt es alarmiert aus einer anderen. Und auch dies darf in keiner deutschen Räsoniererei über Europa fehlen: „Die Franzosen wollen, dass wir für Ihre Großmachtträume bezahlen.‟ Auch über 200 Jahre nachdem Napoleon aus Deutschland vertrieben wurde, fürchten Michel und Michaela immer noch, für einen neuen Russlandfeldzug zur Kasse gebeten zu werden – als hätte irgendein französischer Politiker die Macht, 27 anderen Ländern französische Interessenpolitik aufzuzwingen. In Frankreich scheint es von Imperialisten nur so zu wimmeln, so wie in Südeuropa von Sozialschmarotzern und auf der britischen Insel von Finanzkapitalisten.

Vielleicht kann man diesen Europa-Alarmismus von hüben und drüben auf folgenden Nenner bringen:

„Europa ist schön, aber zu ausländisch. All diese Ausländer wollen die Deutschen nur ausbeuten. Deshalb sollte die EU nur die deutschen Interessen und nur die deutsche Weltsicht berücksichtigen. Die EU muss genau wie Deutschland werden, nur mit mehr Sonne und mediterraner Küche.‟

Mit dieser Haltung werden wir wohl nicht weit kommen.
 

Die EU ist wichtig

Aber Europa ist wichtig. Nein, nicht Europa, die EU ist wichtig. Wir leben in einer Zeit, in der die Großmächte des Planeten mit demselben Prädatorenblick auf die Länder unseres Kontinents schauen wie die europäischen Kolonialmächte im 19. Jahrhundert auf das Reich der Mitte, Vietnam oder Siam. Wenn wir uns weiterhin weigern, unsere Souveränität mit unseren europäischen Nachbarn zu teilen, könnten wir sie irgendwann im Laufe des Jahrhunderts ganz verlieren – an imperiale Regierungen in Peking, Washington oder Moskau.
 

Souveränität teilen

Souveränität mit den Nachbarn teilen – das bedeutet, die Interessen und Ansichten der Anderen für genauso legitim zu halten wie die eigenen. Ja, die französischen Interessen in Afrika sind genauso legitim wie die deutschen in Osteuropa. Ja, die Interessen griechischer Rentner sind genauso legitim wie die deutscher Banken oder deutscher Steuerzahler. Ja, die Idee, ein Land durch militärische Intervention zu stabilisieren, ist genauso legitim wie der Versuch, dasselbe Ziel durch mitfühlendes Nichtstun zu erreichen. Man muss halt Kompromisse suchen.

Aber wenn dann tatsächlich andere versuchen, Deutschland „auszunutzen‟? Dann macht das nichts, denn es wird ihnen nicht gelingen. Wir sind ja nicht doof. Die ständige Sorge, von anderen über den Tisch gezogen zu werden, zeugt nicht von Realismus, sondern von einem infantilen Mangel an Selbstbewusstsein.

Europawahl.

Deutschland muss endlich Europa wählen.

 


Zum Thema Europa gibt es so viel zu sagen – und das meiste ist auch schon gesagt worden. Hier auf reichsfrei.de :

Grundlegendes

Vom Nutzen und Nachteil Europas für das Leben – 12.11.2011
Friedensnobelpreis – Was hat die EU für den Frieden getan? - 13.10.2012

 

Deutschlands Rolle in der EU

Krisenjahre – Kann Deutschland das Heilige Europäische Reich führen? - 29.12.2015
Ist Europa zu deutsch? - 25.10.2014

 

Zahlmeister Deutschland – ein kapitales Missverständnis

Deutschland zählt Erbsen, oder: Was kostet uns Europa? - 2.7.2011

 

Das Elend mit der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik

Gemeinsame Sicherheit und Verteidigung, oder: Europa wartet aufs Christkind – 21.12.2013

 

 

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