Thorsten Kleinschmidt, 13. Oktober 2012
 

Die Europäische Union erhält den Friedensnobelpreis des Jahres 2012. Wir meinen: zu Recht. Aber wir wissen, dass nicht alle unsere Meinung teilen. In England werden viele sich des üblichen grimmigen Hohnlachens nicht enthalten wollen, das dortzulande seit über 300 Jahren als chic gilt, sobald die Rede auf etwas kommt, das ein Franzose erfunden hat. Aus den USA dürften ein paar verkrampft herablassende Kommentare aus der Ecke jener ertönen, die alles Gute und so auch den Frieden im dekadenten Europa nur als Folge tugenddurchleuchteten amerikanischen Wirkens  sich vorstellen möchten. In Griechenland werden etliche Fahnenverbrenner der EU ihre eigene Gewaltbereitschaft in die Schuhe schieben wollen. Und auch hier in Deutschland werden einige versuchen, die Verdienste der europäischen Integration kleinzureden, um nicht zugeben zu müssen, dass Europa aller deutschen Nettozahlerei zum Trotz ein Segen für dieses Land war – und ist.

Was also haben die Europäische Union und vor ihr die Europäische Gemeinschaft für den Frieden getan?

1. Die europäische Integration hat den alten Konflikt zwischen Frankreich und Deutschland – genauer: zwischen den politischen und wirtschaftlichen Eliten beider Länder – nachhaltig entschärft. Die beiderseitige Abgabe von Souveränität an eine supranationale Organisation, die von beiden gemeinsam kontrolliert wurde, führte schnell zu einem weitgehenden Abbau des beiderseitigen Misstrauens. Deutsche und Franzosen erhielten über den europäischen Mechanismus soviel Einfluss auf Politik und Wirtschaft der jeweils anderen, dass keiner mehr befürchten musste, von den anderen überfahren zu werden. Ganz im Gegenteil: Da man weite Bereiche der Wirtschaft nun gemeinsam regelte und also im selben Boot saß, entwickelten sich sogar gemeinsame Interessen.

Mit der Entspannung auf der Ebene der Eliten einher ging eine emotionale Entschärfung der wechselseitigen Wahrnehmung auf der Ebene der Normalbürger. Die ehemals sorgsam kultivierte „Erbfeindschaft“ löste sich einfach auf. An die Stelle von Krieger- und Veteranenvereinen traten Städtepartnerschaften.

Europaskeptiker der traditionellen Sorte behaupten gerne, die Befriedung Europas sei vor allem Verdienst der NATO (und damit der USA). Aber wie hätte die NATO hergebrachten Nationalhass auf der Ebene der Bevölkerungen im Zaum halten können? Ein Bündnis, das nicht einmal ein kleines Land wie Afghanistan befrieden kann? Umgekehrt wird ein Schuh draus: Die von der europäischen Integration beförderte deutsch-französische Aussöhnung machte ein Funktionieren der NATO erst möglich. Wie hätte wohl ein sich durch Frankreich immer noch bedroht fühlendes Deutschland auf die französischen Pluton-Atomraketen reagiert, die nur bundesdeutsches Territorium treffen konnten?


2. Die europäische Integration beendete den außenpolitischen Sonderweg Deutschlands. Der Verlierer des Zweiten Weltkriegs wurde keine zehn Jahre nach Kriegsende umfassend in die politischen Strukturen Westeuropas eingebunden – anders als nach 1918 wurde Deutschland diesmal nicht durch Siegergewalt in einen wirtschaftlich ruinösen, politisch gefährlichen Alleingang getrieben. Innerhalb der EG war Deutschland von Anfang an gleichberechtigter Partner und durfte sogar seinen alten Erzfeind Frankreich mitkontrollieren. Im Ergebnis identifizierte sich kein anderes Land so stark mit den übernationalen, kooperativen Zielen der Integration wie Deutschland – es wurde zum pazifistischsten Land Europas.

Auch dies hätten NATO und USA nicht erreichen können.

 Denn anders als in den europäischen Strukturen war die Bundesrepublik in der NATO gerade nicht gleichberechtigt; eher war sie ein Militärprotektorat der Westmächte mit Zwang zur Truppenstellung. Ohne die parallel aufgebaute EG hätte die NATO den Deutschen mit einigem Grund als Unterdrückungsinstrument erscheinen können.


3. Die europäische Integration stabilisierte seit den späten Siebzigern die zerbrechlichen Demokratien Spaniens, Portugals und Griechenlands, indem sie den Menschen eine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Perspektive aufzeigte. Nirgends gab es einen Rückfall in faschistische oder nationalistisch-diktatorische Verhältnisse. Die Eliten dieser Länder orientierten sich nach dem Beitritt sehr schnell an den Formen politischer Konfliktregelung, wie sie sie bei den alten EG-Ländern vorfanden.


4. Nach dem Ende des Kalten Kriegs stabilisierte die EU die aus den friedlichen Revolutionen hervorgegangenen Demokratien der postkommunistischen Staatenwelt in ähnlicher Weise, wie dies zuvor in Südeuropa der Fall gewesen war. Die EU setzte erfolgreich westeuropäische politische Standards in der Osthälfte des Kontinents durch, indem sie den von den Ländern des Ostens angestrebten Beitritt als Lock- und Druckmittel benutzte. Damit entschärfte sie die meisten alten Nationalitätenkonflikte und befriedete letztlich die gesamte Region westlich der ehemaligen Sowjetunion. Eine Ausnahme war zunächst das Gebiet des ehemaligen Jugoslawien, das sich dem Einfluss der EU  entzog und in blutige Kriege abglitt. Nach dem Eingreifen der NATO geriet aber auch der westliche Balkan in den Sog der EU.

5. Die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Perspektive Europas trug auch zur Entschärfung der sozialen Konflikte innerhalb der europäischen Staaten bei. Die Aussicht auf allgemeinen Wohlstand in einem grenzenlosen Europa nahm dem früher so genannten Klassenkampf den militanten Stachel, was vor allem für die ärmeren Länder bedeutsam war.


6. Die EU inspirierte oder beeinflusste als Vorbild eine Reihe regionaler Staaten-Zusammenschlüsse in Afrika, Amerika und Asien, die allesamt die wirtschaftliche und politische Stabilisierung und Entwicklung ihrer Regionen zum Ziel haben. Damit reicht die befriedende Wirkung der EU weit über Europa hinaus. Erwähnt seien hier z.B. die Afrikanische Union, der Mercosur, die ASEAN, die GUS.


Die EU und vor ihr die EG haben sich also zweifelsohne um den Frieden in Europa und der Welt höchst verdient gemacht – jedweden Preis wollen wir ihr gönnen. Bleibt nur die Frage, wie es um die Friedenstaten der Europäer im letzten Jahr aussieht, denn Alfred Nobel wollte seinen Preis an denjenigen verliehen sehen, der „im vergangenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen erbracht hat“. Nun, die Europäische Union hat schon bessere Jahre gesehen, will uns scheinen, und es ist wohl nicht das in den vergangenen zwölf Monaten tatsächlich Erreichte, was die EU preiswürdig erscheinen lässt.

Vielleicht ist es eher das Streben, das hier geehrt wird: der Versuch von 27 europäischen Staaten, inmitten einer schweren Wirtschafts- und Vertrauenskrise am mühsam zur Geltung gebrachten Prinzip der Zusammenarbeit und wechselseitigen Unterstützung festzuhalten; der Wille, sich ernsthaft aufeinander einzulassen und nach Lösungen zu suchen, die für alle tragbar sind. Dieses Streben, dieser Wille machen eigentlich Friedensfähigkeit aus. Und Friedensfähigkeit muss sich gerade in der Krise bewähren.


 

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