Europa macht zurzeit nicht den Eindruck einer kommenden Supermacht. Vor allem in der angelsächsischen Ecke des Internets glauben wieder zahlreiche Kommentatoren, den unabwendbaren Untergang der Alten Welt konstatieren zu müssen – oder zu dürfen.

(Eine zufällige Auswahl: Bret Stephens prophezeit für das Wall Street Journal die Explosion des Europäischen Projekts. Joel Kotkin weiß, dass Europa aus demografischen Gründen keine Zukunft hat. Die Inseleuropäer Peter Obourne und Frances Weaver vom britischen Spectator tanzen auf dem Grab des Euro und möchten alle Europhilen gleich mit begraben.)

Stattdessen ist China gerade wieder sehr en vogue. Pepe Escobar macht sich Gedanken darüber, ob China und die anderen aufstrebenden Schwellenländer Europa retten werden. Das Istituto Affari Internazionali beleuchtet Chinas „proiezione strategica“. Und US-Vizepräsident Joe Biden warb letzten Monat in Chengdu für eine chinesisch-amerikanische Kooperation in strategischen Fragen.

Jetzt sollen es wieder die USA und China sein, die in stillschweigendem Übereinkommen gemeinsam die Welt führen. Oder in Bidens diplomatischer Sprache: "For many of the world’s most pressing challenges, it is a simple fact that when the United States and China are not at the table, the solution to the problem is less possible.” Diese Idee ist in den letzten Jahren unter dem Schlagwort “G-2” populär geworden – vor allem in der amerikanischen Publizistik. Hintergrund ist einerseits die zunehmende wirtschaftliche Verflechtung der beiden Staaten, andererseits eine vermeintliche wirtschaftliche, politische und militärische Übermacht gegenüber dem Rest der Welt. Das soll den USA und China Motivation und Gelegenheit geben, gemeinsam die Führungsrolle bei der Lösung großer internationaler Probleme zu übernehmen.

Für einen nüchternen Betrachter, der der in den letzten zwanzig Jahren zu beobachtenden imperialen Mythenbildung in den USA kritisch begegnet, ist diese Idee der G-2, vorsichtig formuliert, originell.

Wir können hier sehr schön einige typische Mechanismen erkennen, mit deren Hilfe Menschen sich ihr politisches Weltbild so zusammenbasteln, dass es ihnen gefällt.

1. Projektion einmaliger historischer Konstellationen auf Gegenwart und Zukunft

Die Idee der "G-2" ist ein Abziehbild des amerikanisch-sowjetischen Dualismus des Kalten Kriegs. Wie damals USA und UdSSR werden heute USA und China als unbestrittene Führungsmächte in der Welt gesehen, um die herum sich die anderen Staaten zu Lagern gruppieren. Entscheidungen der Führungsmächte werden vermeintlich damals wie heute von den sich unterordnenden Staaten akzeptiert und nachvollzogen. Daraus ergibt sich eine vermeintliche Berufung der zwei Topmächte zur Führung.

Muss man betonen, wie illusionär das ist? Anders als zur Zeit des Kalten Kriegs gibt es heute mehr als zwei Machtzentren. Warum etwa Indien, Russland, Brasilien oder auch die Europäer den Führungsanspruch der „G-2“ akzeptieren sollten, ist rätselhaft. Die USA können nicht mal mehr im Kernbereich der Sicherheitspolitik auf europäische Gefolgschaft bauen, und China ist nicht einmal in der Lage, Nordkorea zu kontrollieren.


2. Lineare Fortschreibung vermeintlicher Trends und Erscheinungen der Gegenwart in die Zukunft

 
Die Logik der geistigen Trägheit, nach dem Muster: „Europa zeigt seit einem Jahr Zeichen der Desintegration – also wird sich das fortsetzen, der Machtverbund EU sich folglich auflösen.“
Oder: „Indien zeigt heute keine überregionalen Ambitionen und definiert seine Interessen nicht im Gegensatz zu amerikanischen – also wird das auch künftig so sein.“
Oder: „China versucht heute nicht, innenpolitische Schwierigkeiten durch außenpolitische Abenteuer zu kompensieren – also wird das auch künftig nicht so sein.“ 

Das ist außenpolitisches Wunschdenken auf pseudo-empirischer Basis.

 

3. Überschätzung der eigenen Handlungsfreiheit: die Illusion „Alles, was ich mir vornehme, kann ich auch umsetzen“

Clausewitz würde sagen: Unterschätzung der Friktion. Der Führungsanspruch der „G-2“ setzt voraus, dass China und die USA über freie Ressourcen verfügen, die sie zur politischen und wirtschaftlichen Machtprojektion einsetzen können. Dieser Annahme stehen aber mannigfaltige Unwägbarkeiten entgegen. Wie wirkt sich die amerikanische Staatsverschuldung aus? Wie entwickelt sich die Wirtschaft in China und den USA im Verhältnis zur Weltwirtschaft? Wie entwickelt sich die innenpolitische Lage in China, wie die Bevölkerungsstatistik? Und vor allem: Wie entwickeln sich die anderen Akteure der Weltpolitik? Oder: Wie viele Ressourcen wird man künftig überhaupt aufbringen müssen, um die Welt „führen“ zu können?

 

4. Interpretation der Handlungen anderer Akteure in der Weise, die dem eigenen Ego am schmeichelhaftesten ist

Das ist menschlich, allzumenschlich. So menschlich, dass man diese Art des Urteilens führenden Politikern und kühlen Analysten eigentlich nicht zutrauen mag. Trotzdem stößt man immer wieder darauf. Etwa in diesem Ton:

„Indien, Brasilien, die EU zeigen wenig weltpolitischen Ehrgeiz. – Das zeugt von einer im Vergleich mit den USA politischen, wirtschaftlichen, militärischen, konzeptionellen, moralischen Unterlegenheit.“
Es könnte aber auch ressourcensparende Klugheit sein, die diesen Akteuren ermöglicht, unbehelligt ihre Ressourcenbasis zu vergrößern, während die USA ihre Ressourcen verschleudern.

„Die Europäer haben statt einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nur ein chaotisches Nebeneinander von disparaten politischen Strukturen. – Das zeugt von einer genetischen politisch-kulturellen Schwäche der Alten Welt und bedeutet, dass die Europäer sich letztlich glücklich schätzen, von den USA geführt zu werden.“
Es könnte aber auch sein, dass die Europäer nach dem Prinzip Versuch und Irrtum hart um die Bildung neuer politischer Strukturen ringen, die dem Kontinent gerade machtpolitische Unabhängigkeit von den USA und anderen Weltmächten ermöglichen sollen.

Illusionen aus Eitelkeit – eine der ältesten Schwächen der Menschheit.

 

5. Ausblendung der Handlungsoptionen anderer politischer Akteure, Unterschätzung von deren Kreativität und deren Autonomie in der Beurteilung politischer Situationen

Die Vorstellung der „G-2“ denkt sich alle anderen weltpolitischen Akteure letztlich als statisch. Sie unterschätzt deren Autonomie in der Beurteilung politischer Situationen und deren Kreativität bei der Suche nach eigenen politischen Strategien.

Im Klartext: Die Befürworter eines Führungsduos namens „G-2“ können sich nicht vorstellen, dass, erstens, einflussreiche andere Mächte zu dem Urteil kommen könnten, eine Führung durch die USA und China sei mit ihren eigenen Interessen nicht vereinbar und müsse daher verhindert werden.

Zweitens ziehen sie nicht in Betracht, dass diese anderen Mächte effektive politische Strategien entwickeln könnten, um den Führungsanspruch der „G-2“ abzuweisen.

Es ist aber eine Illusion zu glauben, es stünde in der Macht der USA oder Chinas nach Gusto den politischen Meinungsbildungsprozess in Drittstaaten zu determinieren.

Es ist ebenso eine Illusion zu glauben, es stünde im Vermögen der USA oder Chinas, alle möglichen kreativen Gegenstrategien anderer Mächte zu durchkreuzen, oder gar, sie vorauszusehen.

 

6. Rhetorische Vereinnahmung eines starken vermeintlichen Juniorpartners zur imaginären Ergänzung schwindender eigener Machtressourcen

Noch ein Stück politische Psychologie. Wenn die politische Klasse einer imperialen Großmacht die eigenen Machtressourcen schwinden sieht, sucht sie nicht selten ihr Heil in der Anlehnung an eine andere, vermeintlich aufsteigende Macht, in der Hoffnung, deren Machtressourcen für die eigenen imperialen Zwecke vereinnahmen zu können.

So suchten die Niederlande Ende des 17. Jahrhunderts das Bündnis mit England. Das schwächelnde britische Empire seinerseits suchte seit Anfang des 20. Jahrhunderts die Rückendeckung der USA. Frankreich, das nach dem Zweiten Weltkrieg die Marginalisierung durch die USA und die Sowjetunion fürchtete, hoffte durch das Bündnis mit der Bundesrepublik deutsche Ressourcen für französische Machtpolitik nutzen zu können.

Diese machtpolitischen Allianzen wurden rhetorisch zu dauerhaften politischen Gemeinschaften stilisiert: die „Seemächte“, die „special relationship“, die „Deutsch-französische Freundschaft“. Den relativen Niedergang der Altimperien haben sie nicht verhindert.

In diese Richtung zielt auch das Konzept der „G-2“. Das imperiale Selbstbewusstsein von Teilen der politischen Klasse der USA scheint angeschlagen, „the unipolar moment“ ist vorbei. Die Vorstellung der „G-2“ ermöglicht eine imaginäre Begrenzung und Kompensation des wahrgenommenen Machtverlusts, nach dem Motto: „Wenn wir schon die Weltherrschaft teilen müssen, dann aber nur mit einer anderen Macht und zwar mit einer, mit der wir eng zusammenarbeiten.“

Ausgeblendet wird dabei die zentrale Frage, ob der anvisierte Juniorpartner diese Rolle überhaupt zu spielen in der Lage und zu spielen bereit ist. Vertragen sich die langfristigen Ambitionen Chinas mit dem Konzept der „G-2“? Sind die Interessen der beiden Länder hinreichend in Deckung zu bringen? Reichen die Machtressourcen Chinas überhaupt aus, um einen möglichen Machtverlust der USA auszugleichen? Neigen nicht beide Länder zur Selbstüberschätzung?

Auch hier erkennen wir wieder viel Wunsch und wenig Wirklichkeit.

 

Summa
 
Das Konzept der G-2 erscheint uns als ein Gewächs aus dem Fabelreich der Illusion. Es wächst auf dem Boden von Abstiegsängsten und Eitelkeit, Selbstüberschätzung und Realitätsblindheit, Nostalgie und Provinzialismus.

Kurz: Es ist eine ganz normale politische Idee.

Europa hilft diese Erkenntnis übrigens nicht.

 

    

Noch keine Kommentare

Kommentar schreiben

Die angegebene E-Mail-Adresse wird nicht dargestellt, sondern nur für eventuelle Benachrichtigungen verwendet.

Um maschinelle und automatische Übertragung von Spamkommentaren zu verhindern, bitte die Zeichenfolge im dargestellten Bild in der Eingabemaske eintragen. Nur wenn die Zeichenfolge richtig eingegeben wurde, kann der Kommentar angenommen werden. Bitte beachten Sie, dass Ihr Browser Cookies unterstützen muss, um dieses Verfahren anzuwenden.
CAPTCHA

Standard-Text Smilies wie :-) und ;-) werden zu Bildern konvertiert.
BBCode-Formatierung erlaubt