Die Krisen um Deutschland herum haben sich nicht ganz so schlimm entwickelt, wie sie es hätten tun können. Wer will, darf daraus Trost ziehen.



Die dem Jahr zugemessene Zeit verfließt wie der Adventstee aus der Kanne; schon ist der Zeitstrudel zu spüren, der uns alle ins Jahr 2015 hinüberziehen will. Seltsam still ist es geworden um viele Dinge, die uns so lange in Atem gehalten haben.

Die Eurokrise macht Pause – dabei ist Europas Wirtschaft alles andere als in einem guten Zustand, und die grundlegenden Fragen, die die Zeitläufte an Sinn, Zweck und Struktur des europäischen Integrationswerks stellen, sind völlig unbeantwortet. 

Wird in der Ostukraine eigentlich noch geschossen? Hin und wieder, wir haben uns daran gewöhnt, und Schnee bedeckt mittlerweile die Frontlinie im Bürgerkrieg. Aber nicht einmal die Umrisse einer Lösung zeichnen sich ab für den gefährlichsten europäischen Konflikt seit dem Einmarsch des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei 1968. 

Für den Nahen Osten ohnehin nicht: Hier tobt einer der schlimmsten Kriege seit hundert Jahren, aber wir halten es mittlerweile für ausgemacht, dass wir dagegen nichts tun können, und hätten diese unschönen Dinge längst verdrängt, wenn die Orgien der Gewalt im Orient nicht Flüchtlinge zu uns treiben würden, gegen die zu demonstrieren einige von uns sich nicht entblöden mögen.
Auch über scheinbar mindere Themen – eine gescheiterte Klimakonferenz etwa oder amerikanisches Herrenmenschengebaren in geheimen Folterkellern – kann sich Deutschland nicht mehr gescheit aufregen. Dafür ist das alles zu wenig überraschend.

Und so dämmern wir denn dem Weihnachtsbaum entgegen. Zwar ist die Welt schlecht, aber vielleicht gibt es gute Geschenke.

Nun, Geschenke sind keine schlechte Sache, und gar so schlecht ist vielleicht auch der Zustand der Welt nicht. Zumindest kann man die Ereignisse dieses Jahres auch anders bewerten als oben angedeutet.

Die Europäische Union und die Eurozone sind für den Moment wieder in ruhigen Fahrwassern. Die uninspirierte, träg-bürokratische Handhabung der Euro-, Finanz- und Strukturkrise Europas durch die Politik hat zwar keineswegs zu dauerhaften Lösungen geführt; sie hat aber die Nerven beruhigt und den hysterischen Nationalismus wieder eingeschläfert, der sich zeitweise in Europas Medien und auf den Straßen Südeuropas auszubreiten drohte. Das war die Voraussetzung dafür, dass überhaupt ernsthaft über die Organisation unseres einigen Europas nachgedacht werden kann. Diese Voraussetzung ist nun geschaffen, und das ist bei Lichte betrachtet keine ganz kleine Leistung. Vor hundert Jahren sind wir aus weitaus nichtigerem Anlass schwerbewaffnet übereinander hergefallen. Im Jahre 2015 (und 2016 und 2017... ) kann und muss der Umbau von Integrationseuropa nun ernsthaft angegangen werden.

Die Ukraine ist zwar kein befriedetes Land, aber Europa bleibt ein befriedeter Kontinent. Die kontrollierte Scharfmacherei auf allen Seiten hat nicht zu einem zwischenstaatlichen Krieg geführt, und der von Einigen beschworene neue Kalte Krieg ist der wärmste Kalte Krieg aller Zeiten – ohne Eisernen Vorhang, ohne Rüstungswettlauf, ohne Kriegsvorbereitungen.  Einreiseverbote, Gerede über höhere Militärausgaben, spontan angesetzte Manöver: Das ist wenig mehr als Show. Alle Seiten wissen, was auf dem Spiel steht, und dementsprechend schrecken auch alle vor der letzten Konsequenz bei der Verfolgung ihrer Machtinteressen zurück. Russland verzichtet darauf, die ukrainische Regierungsarmee ernsthaft anzugreifen; die in der NATO vereinigten Staaten verzichten darauf, die Ukraine ernsthaft militärisch zu unterstützen.  Und allmählich setzt auch hier jene seelische Gewöhnung an den Konflikt ein, die eine Gewähr bietet, dass es hüben wie drüben nicht mehr zu emotionalen Überreaktionen kommt. Alle ahnen längst, worauf das Ganze hinausläuft: Russland wird mit der Einverleibung der Krim davonkommen, und die von Kiew regierte Kern-Ukraine wird sich künftig eng an EU und NATO anlehnen, ohne offiziell Mitglied in einer der Organisationen zu werden. Die Separatisten im Osten des Landes werden sich mit einem internationalen Pariastatus zufriedengeben, vergleichbar mit Nordzypern, das den Weg Kern-Zyperns in die Arme der EU auch nicht aufhalten konnte.  Damit können unterm Strich alle Seiten einigermaßen leben, so dass fürderhin eigentlich niemand mehr in den Krieg ziehen muss. 

Das kann man vom Nahen Osten wahrlich nicht sagen, wo Menschen um das Überleben ihrer Familien kämpfen. Mit dem IS ist dort eine Macht entstanden, die die Greueltaten aller regionalen Despoten in kürzester Zeit in den Schatten gestellt hat. Aber es sieht mittlerweile doch so aus, als hätten die Radikalislamisten den Scheitelpunkt ihres Erfolgs überschritten. Die anderen Mächte der Region haben die Gefahr erkannt und die unheiligen Krieger einstweilen in die Verteidigung gedrängt.  Der Krieg in Syrien und im Irak ist noch lange nicht vorbei, aber die schwarzbeflaggten Gefolgsleute des neuen Kalifen werden nicht den ganzen Nahen Osten überrennen, wie vor über tausend Jahren die Wüstenreiter der alten Kalifen. 2015 werden wir Abendländer noch mehr Flüchtlingen eine Heimstatt oder zumindest Obdach geben müssen; eine Wiederholung der Kreuzzüge aber steht nicht an.

Die Dinge sind also nicht gar so schlimm, wie sie sein könnten – wer will, darf daraus Trost ziehen. Was er nicht darf, ist, die Dynamik von Krisen unterschätzen. Da Weihnachten auch die Zeit der Gedichte ist, dürfen wir zum Beschluss unseren Hausheiligen Joseph von Eichendorff zitieren:

Was heut müde gehet unter,
Hebt sich morgen neu geboren.
Manches bleibt in Nacht verloren -
Hüte dich, bleib’ wach und munter!



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