Thorsten Kleinschmidt, 11. April 2022
Um zu verstehen, dass der Krieg furchtbar ist, brauchen wir Clausewitz nicht. Dazu müssen wir nur unsere Familienerinnerungen befragen. Zwar reichen unsere Wurzeln in viele verschiedene Regionen der Erde – aber egal, aus welcher Richtung wir oder unsere Vorfahren einst den Weg nach Mitteleuropa gefunden haben, vom Krieg haben alle unsere Familien mehr erfahren, als uns lieb sein kann. Ob Warschau 1939, Schlesien 1945, Budapest 1956, der Libanon 1975, Kurdistan 1984, Bosnien 1993, Kosovo 1998 oder Syrien 2011 – unsere Familiengeschichten erinnern an Kampf und Flucht, an Gewalt und Tod, an Mord und Misshandlung, an Hass und Verzweiflung, an Angst und Verlust, zum Glück auch an Tatkraft und Mut.
Wenn Betroffenheit und Erschütterung ausreichen würden, den Krieg so weit zu verstehen, dass wir ihn beenden oder gar verhindern können, dann gäbe es ihn längst nicht mehr. Davon aber kann keine Rede sein, und so stößt uns unsere Fassungslosigkeit angesichts des russischen Mordanschlags auf die Ukraine, angesichts des Mordens und des notwendigen Widertötens, auf unsere Ratlosigkeit: Was in aller Welt geschieht hier?
Es ist ja in Deutschland seit einigen Jahrzehnten schöner Brauch, bei derlei unschönen Gelegenheiten den Kopf tief in den Sand zu stecken und sich dabei nichtsdestoweniger tüchtig aufzuplustern. Viele Zeitgenossen sehen der Wirklichkeit ungern ins Gesicht und sind gleichzeitig stolz auf ihre empfindsamen Seelen samt deren makelloser Unschuld. Nun ist ein gutes Gewissen sicher eine runde Sache, aber wenn jetzt ein paar Sandkörner zwischen Ihren Zähnen knirschen, dann verdanken Sie Ihren ruhigen Schlaf vielleicht eher einer unnatürlichen Position Ihres Kopfes als Ihrer eigenen Rechtschaffenheit.
Außerhalb der Geborgenheit des Sandhaufens haben wir Gelegenheit, dem Krieg, wenn schon hoffentlich nicht ins Gesicht zu blicken, so doch ihn als eine Erscheinung menschlichen Lebens ernst zu nehmen, die wichtiger ist als Tempolimits, Rentenbescheide und Querdenkerspaziergänge.
Vielleicht kommen wir jetzt doch auf Clausewitz zurück, denn wer den Krieg ernst nimmt, sollte versuchen ihn zu verstehen, und dazu ist das viel zitierte und kaum gelesene „Vom Kriege“ (Berlin 1832) der Klassiker. Lassen Sie uns kurz aufblättern:
„Der Krieg ist … eine wunderliche Dreifaltigkeit, zusammengesetzt
• aus der ursprünglichen Gewaltsamkeit seines Elements, dem Hass und der Feindschaft, die wie ein blinder Naturtrieb anzusehen sind,
• aus dem Spiel der Wahrscheinlichkeiten und des Zufalls, die ihn zu einer freien Seelentätigkeit machen,
• und aus der untergeordneten Natur eines politischen Werkzeugs, wodurch er dem bloßen Verstande anheimfällt.“
Die Sprache ist uns heute gewöhnungsbedürftig, deshalb wollen wir ein wenig übersetzen.
Der Krieg hat drei Dimensionen, die immer gleichzeitig vorhanden sind.
1. Die emotionale Dimension
Im Krieg sind immer starke Gefühle am Werk; Leidenschaften wie Hass, Wut, Angst und Stolz. Sie spielen schon beim Ausbruch des Krieges eine Rolle – erinnern Sie sich an Putins mühsam beherrschte Wut, als er seine Brandrede gegen die Ukraine verlas? Hat der Krieg einmal begonnen, entzünden sich die Leidenschaften von Tag zu Tag mehr. Gewalt erzeugt Hass, Hass erzeugt neue Gewalt, und wir geraten sehr schnell in eine Eskalationsspirale der Emotionen. Diese Leidenschaften kann niemand kontrollieren, und deshalb entzieht sich auch der Kriegsverlauf sehr bald der Lenkung durch Politiker und Generäle. Niemand kann die Wirkungen von Angst und Hass über längere Zeit voraussagen.
2. Die motivierende Dimension
Krieg ist unberechenbar – hinter der nächsten Ecke kann der Tod warten oder der Triumph, das Ende oder die Erfüllung aller Hoffnungen auf Sieg, Ruhm, Ehre und Status. Die seelischen und geistigen Kräfte werden aufs Äußerste herausgefordert. Diese Spannung zwischen der größten Katastrophe und der erhebendsten Euphorie kann Menschen enorm motivieren. In jedem Krieg gibt es Menschen, die sich hier wie in ihrem Element fühlen: die geltungssüchtigen Politiker, die sich auf den Höhen historischer Bedeutung sonnen; die unscheinbaren Zivilisten, die zu Helden werden; die kleinen Angestellten, die auf einmal anderen befehlen dürfen; die unterdrückten Alltagsseelen, die sich zu Herren über Leben und Tod aufschwingen; all die Verkannten, die endlich einmal zeigen können, was in ihnen steckt; die Berufssöldner, die nichts anderes gelernt haben als zu kämpfen; und natürlich auch die gewieften Geschäftsleute, die sich vom Krieg das Geschäft ihres Lebens erhoffen. Es gibt Menschen, die mögen den Krieg – und sie wollen nicht, dass er so bald wieder aufhört. Mit ihnen müssen wir rechnen, wenn wir uns um Frieden bemühen.
3. Die rationale, politische Dimension
Der Krieg ist – wie Clausewitz in seiner berühmtesten Wendung an anderer Stelle schreibt – eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Wer einen Krieg beginnt, wird weder einfach von seinen Hassgefühlen übermannt noch möchte er nur den Reiz eines interessanteren Lebens spüren – er hat immer ein rationales, ein politisches Ziel. Das wird in der Regel ein Ziel sein, das er mit friedlichen Mitteln nicht glaubt erreichen zu können. Je nachdem wie der Krieg verläuft, können sich politische Ziele ändern – etwa wenn der Kriegführer feststellt, dass seine Gewaltmittel zu schwach sind, um die ursprünglichen Ziele zu erreichen; aber auch wenn er auf einmal den Eindruck bekommt, er könne hier viel mehr gewinnen als zunächst gedacht. Wer einen Krieg – erfolgreich – beenden will, wird immer versuchen, auf die Zielkalkulation seines Gegners Einfluss zu nehmen, und ihn dazu zu bringen, sich mit möglichst wenig zufrieden zu geben. Im Idealfall ist der Gegner irgendwann schon damit zufrieden, einfach nur zu überleben – dann wird er bedingungslos kapitulieren.
Wenn wir einen Krieg führen oder einen beenden wollen, dürfen wir nie vergessen, dass alle diese Dimensionen zusammen das Kriegsgeschehen bestimmen. Wir müssen versuchen, ihre jeweilige Wirkungsstärke einzuschätzen und unser Handeln entsprechend ausrichten.
Schauen wir, wie wir dies auf den Krieg in der Ukraine übertragen können.
Einige haben in den letzten Wochen dafür plädiert, den Krieg möglichst schnell zu beenden, in dem man Russland die meisten seiner Ziele ohne weiteren Kampf gewährt. Dabei wird vorausgesetzt, dass die ukrainische Regierung ihre eigenen Ziele herunterzuschrauben bereit sei. Ohne den Realitätsgehalt dieser Voraussetzung weiter zu prüfen, können wir festhalten, dass der Vorschlag ohnehin illusorisch ist. Denn er orientiert sich allein an der rationalen Dimension, ignoriert aber die emotionale. Nach über einem Monat brutalen Angriffskriegs und nachgewiesenen Kriegsverbrechen sind in großen Teilen der ukrainischen Gesellschaft der Hass auf die Angreifer einerseits, die Angst vor einer völkermörderischen Besatzung andererseits so groß, dass eine Kapitulation für sie nicht in Frage kommt. Fehlt noch die motivierende Dimension: Sie scheint derzeit nicht sehr relevant. Einige tausend ausländische Freiwillige haben sich wohl in der Ukraine zusammengefunden – Menschen, die diesen Krieg mögen. Militärisch spielen sie derzeit wohl keine große Rolle. Ansonsten finden sich Kriegsfreunde ja meist auf der Seite, die gerade zu gewinnen scheint. Da dieser Kampf derzeit auf Messers Schneide steht, wären im Moment vermutlich alle froh, wenn der Krieg niemals begonnen worden wäre. Das gilt auch für Politiker und Militärs der NATO.
In diesem Zusammenhang müssen wir kurz eine Randbemerkung zu den Kapitulationsphantasien loswerden, die, wie es scheint, vor allem in Deutschland einige Gemüter betören. Die Forderung, die Ukraine müsse schnell kapitulieren, um weiteres Leid zu verhindern, kann den KI-Test, den Test nach Maßgabe von Kants kategorischem Imperativ nicht bestehen: Wenn alle potenziellen Opfer von Verbrechen, und Russlands Krieg ist ein solches, von vornherein auf Widerstand verzichteten, dann würde die ganze Welt über kurz oder lang von skrupellosen Großkriminellen beherrscht und launisch terrorisiert, und dies scheint uns wenig erstrebenswert. Die ganze Debatte wirft übrigens ein schräges Licht auf die deutsche Vergangenheitsbewältigung. Es gibt Menschen, die haben aus dem Nationalsozialismus nichts anderes gelernt, als dass bedingungslose Kapitulation irgendwie nie verkehrt ist. Dieser humanitäre Defätismus, der die Menschenrechte bewahren will, indem er darauf verzichtet sie zu verteidigen, will uns ein wenig erbärmlich scheinen.
Zurück zum Krieg. Wie geht es weiter?
Politische Dimension. Derzeit scheinen beide Seiten zu glauben, ihre Ziele noch erreichen zu können, so dass kein rechter Anreiz für Verhandlungen besteht. Und doch werden Opfer und Verbrecher irgendwann verhandeln müssen, denn die ukrainische Armee wird nicht bis Moskau marschieren können, so reizvoll die Vorstellung auch ist.
Emotionale Dimension. Nach all den Verbrechen an der ukrainischen Zivilbevölkerung sind Hass und Angst auf ukrainischer Seite vermutlich so groß, dass ein Verständigungsfriede nicht mehr möglich ist. Auch nach einem Ende der Kampfhandlungen wird es bei Feindschaft bleiben. Einen Waffenstillstand werden Europäer und Amerikaner mit ihren Waffen garantieren müssen. Die Gefühle der russischen Zivilbevölkerung bleiben die große Unbekannte. Vielleicht wird noch kriegsentscheidend sein, ob Russen beginnen, Hass auf Ukrainer zu entwickeln – oder Hass auf ihre eigene Regierung.
Motivierende Dimension. Der Freunde dieses Krieges sind nicht mehr viele. Die Profiteure in Moskau hatten sich alles ganz anders vorgestellt, viel schöner und erhebender. Die NATO wird zwar wieder heiß geliebt, und in ihren Stäben wird inspiriert geplant und organisiert – aber die Aussicht auf einen Atomkrieg gegen Russland macht niemandem Freude. Sollten die Kämpfe noch lange dauern und vielleicht irgendwann wieder in einen Dauerkonflikt übergehen, in dem nur noch ab und zu geschossen wird, dürfen wir aber damit rechnen, dass die Anzahl und der Einfluss der Profiteure wachsen. Wo es Waffen, Beute, fremde Subsidien und rechtsfreie Räume gibt, lässt sich noch so manche schöne Karriere aufbauen. In den ostukrainischen Separatistengebieten kann man das schon seit 2014 studieren.
So stehen die Dinge, sie stehen nicht gut. Wir können diesen Krieg analytisch verstehen, die Menschen in der Ukraine müssen ihn durchleben. Wieder werden Familiengeschichten auf Generationen hinaus geprägt.
Die wichtigste aller Fragen haben wir übrigens noch nicht beantwortet: Wie beendet man einen Krieg?
Dazu könnten wir wieder absatzweise Clausewitz zitieren, oder bibliotheksweise Literatur der Friedens- und Konfliktforschung herbeischleppen. Der langen Reden kurzer Sinn: Das lässt sich nicht so einfach sagen, da jeder Krieg anders ist. Der Krieg sei „ein wahres Chamäleon“, meint C.
Nur zwei Wege beenden den Krieg sicher: Der Krieg ist aus, wenn man kapituliert – oder wenn man ihn gewinnt. Und jetzt Sie: Was ist Ihnen lieber?
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