Thorsten Kleinschmidt, im März 2022

„Und auf einmal war Krieg …“ So wird es in dreißig Jahren in den Besinnungsaufsätzen stehen, die zum Gedenken an Putins Überfall auf die Ukraine zu lesen sein werden.

„Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.“ Dies legte sich dreißig Jahre nach einem anderen Krieg Johann Wolfgang Goethe selbst in den Mund; Goethe hatte 1792 erlebt, wie der Versuch, die französische Revolution auf preußische und hessische Bajonette zu spießen, im Schlamm und Kanonendonner der Schlacht von Valmy scheiterte.

Ja, der Krieg in der Ukraine, der viele Deutsche so überrascht hat, ist geeignet, eine neue Epoche der Weltgeschichte nicht nur zu markieren, sondern tatsächlich zu begründen. Er beendet die Epoche der hegemonialen Demokratie, die im November 1989 begonnen hatte.

Seit damals hatten die Staaten, die sich einem demokratischen Lager zugehörig fühlten, die Welt dominiert: politisch durch die Stärkung einer an Dialog und Zusammenarbeit orientierten sogenannten internationalen Rechtsordnung; ökonomisch durch den Erfolg global ausgerichteter liberaler Marktwirtschaften; kulturell durch eine konsumorientierte und digital instrumentierte nordamerikanisch-europäisch-pazifische Alltagskultur; militärisch durch die technologisch und ökonomisch begründete Übermacht des US-Militärs.

Kriege und Krisen hatte es auch in dieser Epoche immer gegeben, aber Wirtschaftskrisen hatten die etablierten Demokratien in der Regel besser überstanden als andere Länder, und Kriege waren fast nur in anderen Weltregionen geführt worden. Tatsächlich hatte es seit dem Überfall Argentiniens auf die britischen Falkland-Inseln 1982 keinen einzigen kriegerischen Angriff eines äußeren Gegners auf die Souveränität und territoriale Integrität eines demokratischen Landes gegeben. Russlands Interventionen in Georgien 2008 und der Ukraine 2014 waren skrupellos, trugen aber eher den Charakter gewaltsamer Einmischung in innere Konflikte dieser Länder, die als Demokratien damals außerdem nicht ganz für voll genommen wurden; auch verlief die Annexion der Krim ohne Kampf.

So kam es, dass viele Menschen in den sich als zivilisatorisch fortschrittlich betrachtenden Weltregionen zu der Auffassung gelangten, Kriege seien Erscheinungen der Vergangenheit: Wie Faxgeräte oder Kassettenrekorder waren sie in einigen rückständigen Regionen der Erde tatsächlich noch zu sehen, würden wie jene aber irgendwann von selbst verschwinden. Jedenfalls dann, wenn demokratische Staaten nicht den Fehler machten, Waffen in diese Regionen zu liefern oder sich gar selbst in diese Konflikte hineinziehen zu lassen. Die Hegemonie der Demokratien führte zuweilen zu einer absurden Selbstüberschätzung von Demokraten: "Die nicht-demokratischen („nicht-westlichen“) Länder sind so unfähig, die könnten nicht mal ihre Kriege führen, wenn wir ihnen keine Waffen dazu verkauften – oder ihnen beim Schießen nicht hälfen." Den Weltfrieden zu erreichen, schien aus dieser Perspektive so einfach: Handel treiben, außer mit Waffen – die Anderen durch gutes Zureden („Dialog“) zu zivilisierten Menschen erziehen – und immer friedfertig bleiben.

Das hat nicht geklappt.

Die Entwicklung von Ländern wie China oder Saudi-Arabien zu wirtschaftlich und politisch sehr erfolgreichen, aber nach wie vor undemokratischen und gewalt-affinen Staaten ließ schon länger die Einsicht dämmern, dass Wohlstand keineswegs automatisch eine heiße Liebe zu Gerechtigkeit und Frieden nach sich zieht. Dass die Menschheitsgeschichte mit der Entwicklung der westlichen Demokratie keineswegs ihren Höhe- und Endpunkt erreicht hat, schwante uns also schon länger. Trotzdem fühlten wir uns lange Zeit zu Hause sicher mit unserer Freiheit und unserem Wohlleben. Vielleicht würde die Entwicklung in einigen fernen Ländern doch nicht so reibungslos harmonisch verlaufen, wie wir das einmal gedacht hatten, aber hier war der Fortschritt doch so felsenfest verankert, dass man Warnungen vor Krieg und Unfreiheit als Erscheinungsformen politischer Hypochondrie wahrnehmen konnte.

Dann begannen die Dinge sich auch bei uns zu verändern. 2015 kamen auf einmal anderthalb Millionen Menschen in Mitteleuropa an, auf der Flucht vor Krieg, Gewalt und Not, und wir waren erstaunt. Populistische Bewegungen riefen in vielen demokratischen Ländern nach starken Männern (manchmal auch Frauen) und verbreiteten Hass auf Andersdenkende, und wir waren empört. Großmächte versuchten durch systematische Lügen unsere Medienöffentlichkeit zu manipulieren, und wir waren verwirrt. Aber immer noch glaubten viele, die Überlegenheit unseres demokratischen Systems werde sich irgendwie von selbst geltend machen. Wir nahmen die Flüchtlinge auf, aber den Kriegen, vor denen sie flohen, sahen wir weiter tatenlos zu. Die Populisten kritisierten wir als populistisch, ihre Beziehungen zu auswärtigen Demokratiefeinden und ihre Flirts mit politischer Gewalt ließen wir ihnen aber durchgehen. Bezahlte Trolle und Lügenmeldungen fanden wir unerhört, die Urheber der Propaganda hofierten wir missmutig weiter, denn wir wollten weiter mit ihnen Handel treiben.

Und jetzt ist Krieg in Europa. Unter überaus albernen Vorwänden hat das autokratische Russland die demokratische Ukraine überfallen, mit dem erklärten Ziel, sie als Staat zu zerstören. Ein Eroberungskrieg, wie wir ihn in Europa zuletzt 1941 erlebt haben, als das Dritte Reich die Sowjetunion „zerschlagen“ wollte. Der Angriff gilt aber nicht nur dem ukrainischen Staat: Er soll auf lange Sicht die USA aus Europa vertreiben, den demokratischen Teil Europas destabilisieren und reif für eine imperiale russische Teile-und-herrsche-Politik machen. Russland dürfte für die Rolle, in der sein Präsident es sehen möchte, zu schwach sein; hinter Russland aber steht China, derzeit noch etwas unentschlossen, aber durchaus fähig, irgendwann von einem erschöpften Russland zu übernehmen.

Die Hegemonie der Demokratie ist beendet. Was nun?

Der Zeitenwende müssen wir mit einer Wende im Denken begegnen. Wir in Deutschland und Europa müssen uns von Illusionen verabschieden, uns auf vergessene Tugenden besinnen und wieder anfangen, aus Erfahrungen zu lernen.

Die Zeitläufte legen uns einige Erkenntnisse nahe:

Viele Menschen glauben an den Nutzen von Gewalt und Unterdrückung. Denn viele Menschen profitieren von Kriegen – und manchmal ist das sogar gut.
Das alte Pazifisten-Mantra „Kriege nutzen am Ende niemandem“ ist nichts als ein frommes Märchen, und ein dummes dazu. Die Führungseliten der Sieger profitieren immer – und auch für die normalen Menschen auf der siegreichen Seite fällt meist irgendetwas ab – und sei es nur eine gefühlte Aufwertung der persönlichen Identität als Angehörige einer „Siegernation“. Davon zehren manche Gesellschaften über viele Jahrzehnte (Großbritannien, Russland). Darüber hinaus und vor allem bedeutet jeder gewonnene Verteidigungskrieg aber auch die Bewahrung von Freiheit und Souveränität. In summa: Siege machen immer stolz, oft frei, manchmal reich und mächtig. Zwar nutzt das alles nur den Überlebenden; die Wahrscheinlichkeit, im Krieg zu sterben, ist meistens aber gar nicht so hoch – nicht hoch genug jedenfalls, um vom Kriege abzuschrecken.

Eine Tugend, die wir wiederentdecken müssen: Illusionslosigkeit.


Wir sind nicht sicher.
Wenn in benachbarten Weltregionen Diktatoren herrschen oder Kriege ausbrechen, geraten auch wir mittlerweile in Gefahr. Geheimdienstkommandos begehen Morde, Terroristen möchten uns in die Luft sprengen, Verkehrsflugzeuge werden abgeschossen, äußere Mächte finanzieren rechtsradikale Möchtegern-Putschisten, der Tyrann von nebenan schießt mit Marschflugkörpern in unsere Richtung oder droht mit Atomwaffen, weil wir ihm seine Kriege nicht gönnen.

Wir brauchen Realismus.


Wir können uns nicht auf andere verlassen.
Warum eigentlich sollten Menschen in anderen Ländern Risiken eingehen und Opfer bringen, um unser Leben sicherer zu machen als ihr eigenes? Warum sollten „die Amerikaner“, „die UNO“, „die NATO“, „die Europäer“, „die Großmächte“ für eine sichere Welt sorgen, wenn wir selbst dabei nicht mitmachen wollen? Wenn wir nicht bereit sind, uns selbst zu helfen, wird es irgendwann auch kein anderer mehr tun. Nichtstun und Zuschauen ist keine Option mehr.

Zu kultivierende Tugend: Selbständigkeit.


Die Zeit arbeitet nicht für uns.
Die Welt entwickelt sich nicht stetig in Richtung auf Freiheit, Sicherheit und Wohlstand – um Ordnung in dieses chaotische System zu bringen, müssen wir Energie aufwenden. Dabei reicht es nicht zu handeln. Wir müssen auch rechtzeitig handeln, und das heißt meist: schnell.

Kennen wir das noch? Entschlossenheit.


Dinge ändern sich oft schneller, als uns lieb ist.
Beleg: Unsere Überforderung in diesem unerwarteten Krieg.

Begegnen können wir dem mit Lernfähigkeit.


Krisen kommen unerwartet, und sie kommen immer wieder.
Wie jede Erfahrung zeigt. Wir aber glauben, die Welt durch salbungsvolle Worte gesundbeten zu können, und haben die gefährliche Gewohnheit, schlechte Prognosen harmlos zu reden.

Trainieren wir also die intellektuelle Fähigkeit des Weitblicks.


Veränderungen bergen manchmal ungeahnte Möglichkeiten.
Wenn alte Gewissheiten erschüttert werden, sind Menschen oft bereit für neue Wege. Diese Möglichkeiten muss man aber erkennen und nutzen wollen.

Wir brauchen, was bei den Soldaten früher Coup d’œuil hieß, den Blick für Chancen.


Geschichte ist kein Schicksal, sie wird von Menschen gemacht.
Nicht nur das Schlimme, auch das Gute ist Menschenwerk. Man muss es aber tun wollen.

Die hier geforderten Tugenden sind Mut, Ehrgeiz und Tatkraft.


Wir können die Welt besser machen.
Die Hegemonie der Demokratie (nicht zu verwechseln mit der Hegemonie „des Westens“!) kann wiederhergestellt werden. Unsere Gesellschaftsform ist nach wie vor sehr erfolgreich; sie entwickelt enorme Ressourcen und große Anziehungskraft. Menschen aus der Ukraine fliehen in den demokratischen Teil Europas, nicht nach Russland. Wir können vieles zum Guten wenden, wenn wir zur rechten Zeit das Richtige tun.

Üben wir uns in einer Tugend, die es in Deutschland nie leicht hat: der Zuversicht.
 

Da ist er, ein neuer Katalog politischer Tugenden:

Illusionslosigkeit, Realismus, Selbständigkeit, Entschlossenheit, Lernfähigkeit, Weitsicht, Blick für Chancen, Mut, Ehrgeiz, Tatkraft – und Zuversicht.

Alles wird gut, wenn wir es gut machen. Also los.

 

 

 

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