1815

Deutschlands Beruf

Ja, Herz Europens sollst du, o Deutschland, sein!
  So dein Beruf! Es strömt die Empfindung dir
    aus vollen Adern, kehret strömend
      wieder zu dir in den vollen Adern!

Gerecht in Spendung, gönnest du jedem Glied,
  was ihm gegeben; eignest, veredelnd, dir
    das Gute zu von allen, gibst es
      allen veredelt zurück, unkundig

des eitlen Neides, weil du, so gut als reich,
  in eigner Fülle schaltend, des Heimischen
    mit Liebe pflegst, doch auch des Fremden
      pflegest mit Liebe des weiten Herzens.

Nicht würdig dein, o Mutter Teutonia,
  verkennen deiner Söhne nicht wenige
    das Eigne; auch unwürdig dein sind
      jene, die fremdes Verdienst verkennen.

Denn Herz Europens sollst du, o Deutschland, sein,
  gerecht und wahrhaft, sollst in der Rechten hoch
    die Fackel heben, die der Wahrheit
      Strahl und die Glut des Gefühls verbreitet!    

Undeutscher ist der blinde Bewunderer nicht
  des Fremden, als des Fremden Verächter; lasst
    dem Arm die Ehre, lasst dem Fuß sie,
      denn sie erwarmen an Glut des Herzens.


Friedrich Leopold zu Stolberg, 1815




Es gilt unter vielen deutschen Euroskeptikern als ausgemacht, dass die Popularität der europäischen Integration in Deutschland Folge der nationalen Demütigung von 1945 sei; geschuldet der reeducation und einem aus dieser Umerziehung  angeblich erwachsenen nationalen Selbsthass der Deutschen.

Das ist Unsinn. Die Europafreundlichkeit der gebildeten Schichten Deutschlands lässt sich  leicht bis in die Tage des Alten Reichs zurückverfolgen, also mindestens bis ins 18. Jahrhundert. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation war kein Nationalstaat; es war wirtschaftlich, kulturell und politisch nach allen Seiten offen. Sachsen hatten im Alltag mehr mit Tschechen zu tun als mit Schwaben; Kölner handelten mit Amsterdam, nicht mit München; Holsteiner machten Karriere in Kopenhagen, nicht in Berlin; und Pfälzer hatten  mehr unfreiwillige Erfahrung im Umgang mit französischen Besatzungsoffizieren als mit Beamten des Kaisers in Wien.

Das Gedicht Stolbergs wurde 1815 geschrieben; nach den Befreiungskriegen, die gemeinhin als Initialzündung des Nationalismus in Deutschland angesehen werden. Deutsches Nationalgefühl und europäisches Bewusstsein schlossen sich damals aber nicht aus, wiewohl es auch „Verächter des Fremden“ gab. Für Menschen wie Stolberg waren die Fremdenhasser „undeutsch“; die selbstbewusste Offenheit gegenüber Europa galt dagegen als nationaler deutscher Wert.

So sei es denn auch heute. Versuchen wir doch einmal, uns als „Herz Europens“ zu fühlen. Pflegen wir des Heimischen wie des Fremden mit Liebe des weiten Herzens.

Wenigstens bis zur nächsten Fußball-EM.


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