Das nahende Jahresende gibt uns Anlass zu einem kurzen sicherheitspolitischen Jahresresümee. Wie hat sich Deutschlands Sicherheitslage in den letzten zwölf Monaten entwickelt? Orientieren wollen wir uns dabei an den 10 Zielen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, die wir bei anderer Gelegenheit einmal vorgeschlagen haben.

1. Europäische Union

Wir halten die Entwicklung der EU für den wichtigsten Sicherheitsfaktor, und gerade hier hat sich 2010 besonders viel getan. Gerade hier sind die Ergebnisse aber auch besonders schwer zu bewerten. Die Eurokrise war und ist eine massive Bedrohung für Deutschland.

Zum einen hat sich die EU 2010 zu einer Solidargemeinschaft entwickelt, die Mitgliedstaaten in wirtschaftlichen Notlagen wirksam beispringt. Davon profitierten Anfang des Jahres die Nicht-Euro-Länder Ungarn und Lettland, später die defizitären Euro-Länder Griechenland und Irland. Der Weg zu diesen Rettungsaktionen war steil und dornig, aber unter dem Strich hat die EU zu ihren Werten gestanden („Stärkung der Solidarität zwischen ihren Völkern“ heißt es im EU-Vertrag) und ihr Solidaritätsversprechen eingelöst. Die EU hat sich dadurch als Sicherheitsraum profiliert und stabilisiert. Und Deutschland als Kernakteur hat mit Hilfe der Union sozusagen sein wirtschaftliches Glacis verteidigt. 

   
Zum anderen sind die Kosten dieser Verteidigung noch nicht zu übersehen. Um die EU nachhaltig in einen wirtschaftlichen Sicherheitsraum umzubauen, ist vermutlich ein stärkerer Grad an wirtschaftspolitischer Integration vonnöten. Das bringt mit sich, dass Deutschland noch stärker und systematischer als bisher wirtschaftliche Transferleistungen abverlangt werden. Außerdem ist wieder eine gradweise Machtverlagerung von Berlin nach Brüssel zu erwarten, was nur dann unproblematisch wäre, wenn erwartet werden könnte, dass deutsche Interessen im Brüsseler Machtgefüge hinreichend wirksam vertreten werden. 
Das Ausmaß dieser Veränderungen bleibt bisher unsicher. Im Jahr 2011 werden entscheidende Weichen gestellt:
   
„Was heut müde gehet unter,
Hebt sich morgen neugeboren.
Manches bleibt in Nacht verloren –
Hüte dich, bleib wach und munter!“
(Eichendorff)
    

2. Russland – Osteuropa – Energieversorgung

Der Blick nach Osten ist zur Zeit erfreulicher als der Blick nach Westen. Russland hat 2010 deutlich den außenpolitischen Kurs geändert und versucht, der vermeintlichen Bedrohung durch „den Westen“ nun offenbar durch eine Strategie der Annäherung zu begegnen. Man unterzeichnete ein neues Abrüstungsabkommen, machte sich endlich an die Verbesserung des Verhältnisses zu Polen als schärfstem Gegner innerhalb des westlichen Lagers und ergriff weitere diplomatische Initiativen zur Schaffung einer neuen Sicherheitsordnung in Europa und zur Annäherung an die EU. Das Verhältnis zur Ukraine entspannte sich deutlich; eine Zollunion mit Weißrussland (und Kasachstan) könnte einen Beitrag zur Überwindung der spätsowjetischen Verhältnisse in Europas letzter Diktatur leisten. Und so hat denn die NATO Russland zur Teilnahme am Raketenabwehrsystem eingeladen; und auch der WTO-Beitritt Russlands steht wieder auf der Tagesordnung.
 
Zur Stabilisierung Osteuropas trug auch die Ukraine bei, deren Absage an einen NATO-Beitritt ein sicherheitspolitisches Minenfeld geräumt hat.

Die Aufregung um die Abhängigkeit Europas und Deutschlands von russischem Erdgas hat sich etwas gelegt; der Bau der Ostseepipeline hat begonnen. Nichtsdestotrotz sollte eine Diversifizierung der deutschen Energieversorgung ein wichtiges Ziel deutscher Politik bleiben: Ein Konflikt zwischen Russland und Weißrussland beschwor wieder die Gefahr von Lieferengpässen herauf.

 
3. Balkan

Auch auf dem Balkan gibt es erfreuliche Entwicklungen. Die Staaten auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien kamen auf dem Weg zur Aussöhnung ein gutes Stück voran. Das serbische Parlament verurteilte das Massaker von Srebrenica, auch Kroatien entschuldigte sich für seine Beteiligung am Bosnien-Krieg. Bei einem historischen Staatsbesuch beschworen die Präsidenten Serbiens und Kroatiens den Aufbau enger Beziehungen – und den Beitritt zur EU. Serbien erklärte sich zum Dialog mit Kosovo bereit.

Nach Kroatien wurde auch Montenegro offiziell als Kandidat für den Beitritt zur EU anerkannt. Der Beitrittsantrag Serbiens wird nun von der EU-Kommission geprüft. Bosnien-Herzegowina soll durch einen Membership Action Plan auf einen NATO-Beitritt vorbereitet werden.
Potenziell destabilisierend bleibt weiterhin Kosovo mit geringer Wirtschaftsdynamik, schwacher Staatlichkeit und hoher organisierter Kriminalität.
   

4. Nahost

Der Nahe Osten bleibt nach wie vor ein Unruhe- und Gefahrenherd. Versuche zur diplomatischen Lösung des Palästinakonflikts blieben so fruchtlos wie eh und je. Der Iran verfolgt trotz neuer internationaler Sanktionen weiterhin sein Atomprogramm und brachte sein erstes Atomkraftwerk ans Netz. Die Gefahr eines israelischen Militärschlags gegen iranische Atomanlagen bleibt real. Der Irak ist weit davon entfernt, ein befriedetes Land zu sein. Einziger Hoffnungsschimmer der Region ist die Türkei, die in einer großen Verfassungsrevision ihr politisches System weiter demokratisierte.
Weder Deutschland noch die EU sind im Nahen Osten ernsthaft engagiert. Das könnte sich irgendwann rächen. Die nun geplante Beteiligung am amerikanischen Raketenabwehrschild, der sich gegen eine Bedrohung aus der Region richtet, wirkt da wie ein Akt der Hilflosigkeit und Resignation.


5. Massenvernichtungswaffen

Wenig Fortschritt gab es bei der Bannung der Gefahr durch Massenvernichtungswaffen. Der Iran bastelt, wie erwähnt, trotz Sanktionen weiter an seinem Atomprogramm, und Nordkorea, das die Bombe bereits hat, agiert so bedrohlich unverantwortlich wie je. Ein Gipfel zur Atomsicherheit will innerhalb einiger Jahre alle Nuklearmaterialien vor dem Zugriff von Terroristen sichern, aber so etwas schreibt sich leicht und tut sich schwer.

Bei den etablierten Atommächten gab es mehr Greifbares. Die USA und Russland trafen ein Abkommen zur weiteren Reduzierung ihres Atomwaffenarsenals, aber jedem Land werden mehr als 1500 Sprengköpfe bleiben. Die USA verzichten in einer neuen Nukleardoktrin auf den Einsatz von Atomwaffen gegen Nichtatomwaffenstaaten, sofern diese den Atomwaffensperrvertrag unterschrieben haben, aber auch dies ist erst einmal nur geduldiges Papier.

Die Erweiterung des von den USA geplanten Raketenabwehrschirms auf die europäischen NATO-Staaten und Russland eröffnet die Perspektive, dass kleinere Arsenale an Atomraketen vielleicht ihren Wert verlieren. Insofern entspricht das Abwehrsystem dem Interesse der Nichtatommacht Deutschland, die durch eine Teilnahme möglicherweise verhindern kann, dass ihr sicherheitspolitisches Gewicht gegenüber Staaten wie Israel, Iran oder Pakistan abnimmt.
Andererseits kann der Abwehrschirm auch die militärische Hypermacht der großen Atommächte USA und Russland verewigen, was durchaus nicht im deutschen Interesse liegt. Er könnte sogar ein neues atomares Wettrüsten auslösen – ein Alptraum.
Deutschland muss sich an der Ausgestaltung des Systems beteiligen und dabei verhindern, dass dieses massiv deutsche Interessen schädigt. Eine schwierige Aufgabe.
   

6. Wirtschaftsinteressen

Deutsche Wirtschaftsinteressen waren 2010 massiv bedroht: durch die Ausläufer der Weltfinanzkrise und vor allem durch die Krise des Euroraums. Dazu haben wir oben schon einiges gesagt.

Zu ergänzen ist, dass Deutschland ungekannt heftigen Pressionsversuchen seitens wichtiger Partnerländer in Europa und Übersee ausgesetzt war, die auf Kernelemente des deutschen Wirtschaftsmodells abzielten: die Export- und Wettbewerbsorientierung; die Ablehnung großangelegter staatlicher Konjunkturpolitik und die Verpflichtung auf relativ solides Haushalten. Diese Versuche, Druck auf Deutschland auszuüben, scheiterten, weil es den Versuchern letztlich an Machtmitteln gegenüber Deutschland gebrach. Für die Zukunft ist ein solcher Ausgang nicht gesichert: Bei einer – auch von Deutschland gewollten – Vertiefung der europäischen Wirtschaftsintegration werden innereuropäischen Kritikern und Konkurrenten möglicherweise andere Hebel zur Verfügung stehen, um ihre Interessen auf Kosten deutscher durchzusetzen. Es wird auf die Ausgestaltung ankommen.
  

7. Islamistischer Terrorismus

Die Gefahr des islamistischen Terrorismus bleibt so vage wie real. In Schweden und Dänemark scheiterten groß angelegte Anschlagsversuche; in Pakistan wurden deutsche islamistische Kämpfer getötet; ein vermutlich in Belgien geplanter Anschlag wurde durch Festnahmen in Deutschland und Belgien verhindert. Und immer wieder mehr oder weniger ominöse Hinweise auf weitere geplante Terrorakte. Was soll man aus all dem machen? Solange unklar bleibt, ob die Terroristen so unlustig/unfähig oder die Abwehrmaßnahmen so gut sind, ist die echte Bedrohung schwer zu ermessen.

Sehr konkret dagegen ist der Krieg in Afghanistan, der ja ursprünglich mit dem Kampf gegen den Terrorismus begründet wurde. Die deutsche Kriegsbeteiligung nahm 2010 eine neue Qualität an: Erstmals wurde der Krieg von der deutschen Politik und Öffentlichkeit de facto als Krieg anerkannt, was eine Anpassung der Bundeswehrpräsenz an die Einsatzrealitäten möglich machte. Das schlug sich in verstärkter Bewaffnung und einer neuen Strategie nieder. Ob wir damit einem wie auch immer gearteten Erfolg näher gerückt sind, ist schwer zu beurteilen. Die Lage im Land ist nach wie vor schwierig, eine wesentliche Schwächung des Gegners ist nicht zu erkennen. Ein Abzug aus Afghanistan ist jetzt ins Auge gefasst – Ziellinie ist 2014.  Sofern die afghanischen Sicherheitskräfte dann die Lage alleine im Griff haben. Das nächste Jahr sollte Hinweise darauf liefern, ob diese Erwartung realistisch ist.


8. Reduzierung des wirtschaftlichen Gefälles innerhalb der EU sowie zwischen Europa und seinen Nachbarregionen

Wirtschaftliche Entwicklung stabilisiert eine Gesellschaft und verringert den Migrationsdruck auf Länder wie Deutschland. Die Eurokrise ist leider dazu angetan, das Gefälle zwischen Deutschland und Teilen der europäischen Peripherie noch zu verstärken. Auf der anderen Seite ist Deutschlands großer Nachbar Polen, eines der wichtigsten Herkunftsländer von Arbeitsmigranten, ausgesprochen gut durch die Weltfinanzkrise gekommen – besser als Deutschland.

Überhaupt hat sich die Finanzkrise auf viele Anrainerstaaten Europas in Afrika und Asien nicht so stark ausgewirkt wie auf die Europäer selbst.  Und viele Beobachter wollen die Krise als Menetekel verstanden wissen, das das Ende der wirtschaftlichen Vormacht Europas und Nordamerikas und den Aufstieg der Schwellenländer in anderen Weltregionen ankündige.

Wir glauben weder an böse noch an gute Vorzeichen, sondern warten ab, was die Zukunft uns bringen wird – oder besser: was wir der Zukunft bringen.


9. Erhöhung von Deutschlands kulturellem Prestige und seiner Anziehungskraft auf Besucher und qualifizierte Einwanderer

Kulturelles Prestige schlägt sich längerfristig in wirtschaftlichem und politischem Einfluss nieder. Es zieht klassische Arbeitsmigranten, aber auch Künstler, Wissenschaftler, Studierende, Journalisten und natürlich Touristen ins Land, die Deutschland unmittelbar Impulse geben oder aber später als eine Art deutscher Lobby im Ausland wirken können.

Diese Wirkung auf Menschen im Ausland ist allerdings schwer dingfest zu machen. Einige internationale Umfragen legten in der ersten Jahreshälfte die Vermutung nahe, dass Deutschland von außen sehr positiv gesehen wird, aber der Wert solcher Umfragen ist begrenzt.

Die Tatsache jedenfalls, dass das Interesse am Erlernen der deutschen Sprache im Ausland in den letzten Jahren zurückgegangen ist, spricht nicht für eine breite kulturelle Ausstrahlung der deutschsprachigen Welt. Aber hier gibt es wohl auch einen Teufelskreis: Ohne Sprachkenntnisse gibt es keinen echten Zugang zur deutschen Kultur, und ohne eine Vorstellung von der Vielfalt und Reichhaltigkeit dieser Kultur gibt es kein Interesse an der deutschen Sprache. Anders gesagt: Das Interesse an deutscher Sprache, Kultur, Wirtschaft, Politik kommt nicht von selbst. Die Weltstellung des Englischen ist ja letztlich das Ergebnis langjähriger politischer, wirtschaftlicher und militärischer Dominanz zunächst Englands, dann der USA.

Ein Problem, dessen Lösung natürlich nicht allein Aufgabe der deutschen Außenpolitik sein kann.


10. Internationale ökologische Ordnung – Klimapolitik

Das Weltklima wurde auch im Jahr 2010 nicht gerettet. Nach dem Desaster von Kopenhagen im Vorjahr verständigte sich der Klimagipfel in Cancún nach langer Vorbereitung und mühsamen Verhandlungen auf Minimalziele. Zumindest wollen jetzt alle Staaten ausdrücklich den weltweiten Temperaturanstieg begrenzen – auf zwei Grad.

Ist das ein Erfolg? Die wirklich unangenehmen Fragen werden 2011 erneut zu verhandeln sein, wenn es um das Nachfolgeabkommen für das Kyoto-Protokoll geht.

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Was bleibt unterm Strich? Deutschlands Umfeld ist voller sicherheitspolitischer Baustellen – wie schon seit tausend Jahren. Das Finis Germaniae ist nicht zu befürchten.

 

 

 

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