Warum nostalgischer Defätismus Europa nicht hilft

Thorsten Kleinschmidt, 14. Februar 2019

 

Europa ist Freiwild in den Augen der großen Prädatoren in Peking, Moskau und Washington.  Der Alte Kontinent riecht nach Schwäche und Angst.

Ist dieser Einstieg zu dramatisch? Nicht, wenn man auf Deutschland schaut: Zumindest zeugt der Verlauf der neuen deutschen Diskussion über nukleare Rüstung nicht gerade von strategischer Spannkraft und politischer Courage.
 

Machtpolitik von heute trifft auf Ideen von gestern

Nach der Aufkündigung des INF-Vertrags planen die USA und Russland eine nukleare Aufrüstung, die Europa scheinbar nur die Wahl lassen würde, sich entweder der westlichen Supermacht oder – schlimmer und unwahrscheinlicher –  der östlichen Großmacht als Vasall anzudienen. Und alles, was den Europäern als Reaktion einfällt, ist die Beschwörung von vertrauensbildenden Maßnahmen und Rüstungskontrollelementen im Stile der 80er Jahre – als hätten Amerikaner und Russen irgendein Interesse, einander wechselseitig daran zu hindern, ihre Machtposition gegenüber China und gleichzeitig Europa zu stärken. Neue russische und amerikanische Mittelstreckenraketen bedeuten für beide Länder mehr Macht gegenüber China und mehr Einfluss auf Europa.

Denn darum geht es: Macht. Macht sichert Einfluss; Einfluss verschafft Sicherheit und Wirtschaftsgüter; diese wiederum die Chance auf Wohlstand. Und zwar für den, der die Macht hat; nicht für seine „Partner‟, „Freunde‟ oder „Verbündeten‟. Die nämlich bleiben abhängig vom Mächtigen: Er kann sie wohlwollend fördern, und er kann sie strafend fallen lassen – ganz wie es ihm gerade in den Kram passt.

Nichtsdestotrotz rezitieren Deutschlands Politikexperten in den Medien, in den Denkfabriken und in den Parlamenten unverdrossen ihr Mantra: „Europas Sicherheit ist – Trump hin oder her – nur durch das Bündnis mit den USA zu gewährleisten. Europa ist hilflos ohne den nuklearen Schutzschild der Amerikaner!‟ Die das sagen, verstehen sich als Realisten, aber vielleicht wäre der Ausdruck „nostalgische Defätisten‟ passender. Ihre Ideen sind Denke aus der Zeit des Kalten Kriegs, eben der Zeit, der auch die europäischen Rüstungskontrollvorschläge entstammen.  Sie ignorieren, dass die Zeiten sich geändert haben.

 

Pershing-II-Raketen in den 80erjahren
In den 80erjahren stationierten die USA Pershing-II-Raketen in Europa - als Antwort auf eine neue Generation sowjetischer Mittelstreckenraketen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die USA sind bei der nuklearen Abschreckung kein verlässlicher Verbündeter mehr

Die USA sind im Jahre 2019 nicht mehr der verlässliche Verbündete des Jahres 1989. Das liegt nicht nur am Präsidenten Donald Trump, der das Bündnis mit den Europäern nach dem kurzfristigen Nutzen bewertet, den es den USA bringt. Das liegt auch nicht nur an der Hinwendung der USA zum pazifischen Raum, die dazu führt, dass amerikanische Truppen, amerikanische Aufmerksamkeit und amerikanisches Geld aus Europa abgezogen werden. Nein, ein Weiteres kommt hinzu: Die Machtbalance in den amerikanisch-europäischen Beziehungen hat sich verändert.
 

2019 ist nicht 1989

Während des Kalten Krieges waren nicht nur die Europäer auf die USA angewiesen, sondern auch die Amerikaner brauchten den Alten Kontinent. Die USA standen in einer alle Gesellschaftsbereiche umfassenden und weltweit ausgetragenen Systemkonkurrenz mit der Sowjetunion. Europa als der Heimkontinent der Sowjets war strategisch deren schwacher Punkt. Von hier aus konnten die USA das russische Kernland militärisch und politisch in Bedrängnis bringen, ohne dass Moskau gleichermaßen Zugriff auf den Heimatkontinent der USA gehabt hätte. Oder anders formuliert: Im Kalten Krieg brauchten die USA Europa als potenzielles Schlachtfeld gegen den Staat, der nicht nur ihre Weltmacht bedrohte, sondern auch ihr Wirtschaftssystem. Das ist heute anders, denn Russland stellt keine echte Gefahr für die USA dar. Weder wollen die Russen eine andere Wirtschaftsordnung, noch haben sie auch nur im Entferntesten die Kraft, den USA die Rolle als stärkste Macht des Planeten streitig zu machen.
 

Die USA brauchen Europa nicht mehr  

Das aber bedeutet: Es steht den USA heute frei, ob sie sich russischen Ambitionen in den Weg stellen wollen oder nicht. Der Kalte Krieg war für die USA ein „War of Necessity‟. Ein neuer Krieg gegen Russland, egal ob kalt oder warm, wäre für die USA ein „War of Choice‟. Das potenzielle Schlachtfeld Europa ist nicht mehr vonnöten. Anders also als 1989 brauchen die USA Europa heute nicht mehr.

Warum also sollten die Vereinigten Staaten von Amerika im Jahre 2019 einen großen, einen nuklearen Krieg gegen Russland –  ein für sie ungefährliches Land – riskieren, um ein paar nervige Verbündete zweifelhaften Werts zu beschützen?

Weil man sich in den transatlantischen Thinktanks und auf den politischen Empfängen in Washington immer so nett unterhalten hat?

Das ist die Frage, die sich all die Experten stellen und beantworten müssen, die auch weiterhin glauben, bei der Absicherung Europas auf die USA nicht verzichten zu können.

Die Antwort wird nicht beruhigend ausfallen.
 

Glaubhafte Abschreckung müssen die Europäer selbst organisieren

Aus all dem folgt: Der Rückgriff auf die Rezepte des Kalten Krieges hilft Europa heute nicht mehr. Die Amerikaner werden für die Europäer keinen Atomkrieg mehr riskieren; der nukleare Schutzschild der USA hat seine Glaubwürdigkeit jetzt schon verloren. Eine Stationierung neuer amerikanischer Nuklearwaffen in Europa würde daran nichts ändern, denn auch wenn sich mit diesen Raketen ein Atomkrieg theoretisch auf Europa begrenzen ließe (was ja gemäß der Theorie die Motivation der Amerikaner erhöhen soll, den Europäern im Krisenfall beizuspringen): Das Risiko einer interkontinentalen nuklearen Eskalation wäre trotzdem immer gegeben, und warum sollten die USA das heute noch eingehen? Der Haupteffekt neuer amerikanischer Atomwaffen in Europa wäre eine Spaltung der Europäischen Union in amerikanische Klientenstaaten einerseits und europäische Souveränisten andererseits.

Wenn Europa auf neue russische Atomwaffen durch Abschreckung reagieren möchte, dann kann das nur mit europäischen Atomwaffen geschehen. Je früher jedenfalls sich Deutsche und andere Europäer von der Idee eines amerikanischen nuklearen Schutzschildes verabschieden, desto mehr Zeit haben wir, nach Alternativen zu suchen. Das defätistische Mantra von der „Unverzichtbarkeit der USA für Europa‟ wirkt als politisches Denkverbot, das uns teuer zu stehen kommen könnte.

Soviel zur reinen Logik von Macht und Schrecken. Wie eine Ertüchtigung der Europäer in der Praxis vonstatten gehen könnte, ist eine andere, schwierige, jedoch nicht unbeantwortbare Frage. Aber bevor wir beginnen, neue Ideen zu entwickeln, müssen wir erst einmal die Untauglichkeit der alten erkannt haben.

Demnächst mehr.

 

Zum Thema der habituellen geistigen Abhängigkeit europäischer Außenpolitiker von der Politik der USA hier ein zehn Jahre alter Beitrag, tatsächlich einer der ersten Texte auf reichsfrei.de :
Europa und die amerikanische Illusion

Manche Dinge ändern sich nur sehr langsam.

 


Bild:
Frank Trevino; Department of Defense; American Forces Information Service; 
Defense Visual Information Center: Several Pershing II missiles are prepared 
for launching at Fort Bliss McGregor Range, 12/01/1987. 
[Public domain], via Wikimedia Commons.

 

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