Deutsche und Griechen beschimpfen einander, Angela Merkel ist Europas neuer Buhmann (Buhfrau?), Obama streicht einseitig die regelmäßigen Gipfeltreffen von EU und USA, der versprochene Quantensprung für die Entwicklung der EU nach dem Lissabonvertrag lässt auf sich warten, fast niemand kennt die Agenda 2020, und wer sie kennt, glaubt nicht an ihre Umsetzung.

Zeit, an Europas Größe zu erinnern. Das meint auch Alain Lamassoure, französischer Europaabgeordneter, und tut eben dies in einem klarsichtigen Beitrag für Euractiv.

Er konstatiert zunächst nüchtern den relativen Bedeutungsverlust Europas im Vergleich mit den anderen Weltregionen. Weder demographisch noch wirtschaftlich, weder militärisch noch kulturell scheint Europa noch eine führende Rolle in der Welt einzunehmen.

Wie reagieren wir Europäer darauf?

Erste Reaktion: Wir leugnen die Tatsachen und würdigen die Erfolge in anderen Weltteilen herab. Die Chinesen sind nur billig, die Inder kopieren nur, die Brasilianer verheizen nur den Regenwald, die medizinische Forschung in Südkorea respektiert ja die (von uns gesetzten) „elementaren“ ethischen Normen nicht, das asiatische Wirtschaftswachstum zerstört die natürlichen Lebensgrundlagen und die Kriegführung der Taliban beweist nur, dass sie uns militärisch nicht gewachsen sind.

Zweite Reaktion: Wir verleumden uns selbst – „Europa ist eine Nullnummer“. Und unser Niedergang geschieht uns recht, weil wir in der Vergangenheit so viel Unheil über die Welt gebracht haben: Völkermord, Sklavenhandel, Kolonialismus, Nukleartechnik, Retortenbabys. Wir sind auch schuld an den Verbrechen der Anderen, denn wir haben alles Böse der Welt erfunden: Imperialismus, Kapitalismus, Kommunismus usw. usw.  Europa ist an allem schuld.

Dritte Reaktion: Wir erklären unsere Misserfolge einfach zu Tugenden. Schwaches Wirtschaftswachstum? Das ist zukunftsweisendes umweltschonendes, nachhaltiges Wirtschaften! Und wenn der Rest der Welt da nicht mitmacht, schotten wir uns eben ab! Geschieht den Anderen ganz recht –  wenn sie sich weigern, so postmodern fortschrittlich zu sein wie wir, sollen sie sehen, wo sie bleiben.

Und dann platzt Lamassoure der Kragen: „Eh bien, non ! Aveuglement, résignation, réinvention du protectionnisme, et finalement sectarisme néo-religieux et inversion des valeurs morales : ça suffit ! Reprenons nos esprits !“

Nein und nochmals nein, also. Wirklichkeitsverleugnung, Kleinmut, absurder Moralismus und Arche-Noah-Fantasien – eine aparte Mischung aus Minderwertigkeits- und Überlegenheitskomplexen.

Europa, meint Lamassoure, sollte sich endlich wieder auf seine einmaligen Errungenschaften besinnen, die dazu angetan sind, Europa auch künftig eine wichtige Rolle in der Welt spielen zu lassen:
 
- Die Philosophie (und die Überzeugung) von der Freiheit des Menschen, einschließlich seiner Freiheit vor Gott
- Der Geist der Wissenschaft, in den Dienst der Entwicklung gestellt
- Die Anerkennung der Rechte der menschlichen Person
- Die Demokratie
- Der Rechtsstaat
- Die Soziale Marktwirtschaft
- Das Wissen darum, wie man nachhaltiges Wirtschaftswachstum erzielt
- Der Sieg über Hunger, Seuchen, Unwissenheit und Krieg
- Die friedliche Gemeinschaft unabhängiger Staaten
- Das Recht der humanitären Intervention
- Das Wissen um Chancen und Risiken der Globalisierung

All dies sind die Früchte der europäischen Weltanschauung: des europäischen Humanismus. Nichts davon ist überholt – Europa hat so viel, was es zur Entwicklung der Menschheit im 21. Jahrhundert beitragen kann. Es sollte diesen Beitrag unbedingt leisten!

„Rallumons les Lumières : là est l’inépuisable énergie pour sauver l’homme précaire de la fatuité permanente qui le fait se prendre, tantôt pour un ange, tantôt pour un démon, en oubliant la misère de sa condition mortelle – et sa grandeur.“

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Sehr französisch, dieses Pathos der Zivilisation. Aber einverstanden! Eine Gesellschaft braucht nicht nur pragmatische Durchwurstelei, sondern auch emotionalen Rückenwind, wenn ungewöhnliche Herausforderungen zu bestehen sind.

Doch letztlich wird sich unser aller europäische Zukunft nicht an wärmenden Ideen, sondern an Taten entscheiden.

„Spottet nimmer des Kinds, wenn noch das alberne
Auf dem Rosse von Holz herrlich und viel sich dünkt,
O ihr Guten! auch wir sind
Tatenarm und gedankenvoll!“

(Hölderlin, An die Deutschen)

 

Nebenbei: Ist die Liste mit den zivilisatorischen Errungenschaften Europas komplett?

 

 

 

1 Kommentar

Linear

  • carolus  
    Vielleicht sollte man ergänzen, dass Europa den Totalitarismus besiegt hat, indem es mit dem europäischen Sozialstaat die sozialen Abgründe überbrückt hat.

    Wohlgemerkt: Europa, nicht Amerika! Amerika hat einmal geholfen, den Totalitarismus niederzuschlagen, und einmal, ihn in Schach zu halten. Aber besiegt wurde der Totalitarismus in der Innenpolitik der europäischen Staaten!

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