Es ist August in Europa, und der Kontinent kocht nicht wegen heißen Wetters. Es sind nationalistische Wallungen, die heiße Blasen treiben und Gifte freisetzen, mit deren Folgen wir noch werden leben müssen, wenn die Eurokrise längst Geschichte ist.

Vorwiegend sind es Krawallmedien und profilierungsgeile Politiker aus der zweiten Reihe, die hier in aller Öffentlichkeit unappetitliche Suppen zubereiten. Aber wenn diese Köche in Aktion treten, schwant einem gleich Schlimmeres, schielen die doch bekanntlich immer auf den Beifall des großen Haufens. Und tatsächlich: Wenn man sich im Internet in die Leserkommentare eines beliebigen europäischen Nachrichtenmediums versenkt, kommt einem schnell das Kotzen. Der europäische Stammtisch entdeckt gerade den Nationalismus wieder; zumindest bricht sich hier mehr und mehr ein aggressiver Provinzialismus Bahn. (Den Alternativausdruck „Söderismus“ verkneifen wir uns.) Da ist die Rede von egoistischen, herrschsüchtigen Deutschen; von hartherzigen, geizigen Finnen; von faulen, korrupten Griechen; von eitlen, unfähigen Italienern; von gernegroßen Franzosen; von missgünstigen, provinziellen Briten etc.pp.

Allen, die so daherschwadronieren, mangelt es an, wie sollen wir es nennen, ja: an Großzügigkeit, an charakterlicher Souveränität. Oder sagen wir es deutlicher: Wir stoßen derzeit vielerorts in Europa auf ein jämmerliches Selbstmitleid.

Selbstmitleid ist eine Haltung, bei der man es sich in der Opferrolle bequem macht. An allem Übel sind die Anderen schuld. Sich selbst setzt man aufs hohe Ross der Moral, schließt die Augen sowohl vor der eigenen Verantwortung als auch vor den eigenen Handlungsmöglichkeiten. Etwas tun sollen die Anderen; selbst belässt man es beim Klagen und Schimpfen. Und wenn die Anderen tatsächlich handeln, hat man auch wieder einen schönen Grund zum Nörgeln: Selbst hätte man es besser gemacht, aber schließlich ist man nicht schuld und daher zu gar nichts verpflichtet.

Hier sind sie, die Ritter von der traurigen Gestalt:

  • der arme gutmütige und immer so tugendhafte deutsche Michel, der von den bösen, durchtriebenen, lasterhaften Anderen – ts, ts, ts – immer nur ausgebeutet wird und ganz allein alles Unglück der Welt tragen muss
    (Das war ja schon im August 1914 so; da hat er sich dann endlich mal gewehrt, gelt?)
     
  • die armen braven Griechen, die der Welt so viel gegeben haben, und zum Dank – ts, ts, ts –  von den bösen Barbaren – Persern, Osmanen, Nazis, EU-Troika –  immer nur unterjocht werden
  • die armen aufgeklärten Franzosen, die von den Angelsachsen, diesen Ausgeburten der Hölle mit ihren Finanzmärkten und Fast-Food-Restaurants, ständig daran gehindert werden, die Welt zu retten und überdies noch mit der Vormundschaft über die begriffsstutzigen Deutschen geschlagen sind
     
  • die armen zivilisierten Engländer, die unablässig heroisch kämpfen müssen, um von den ganzkörperbehaarten, tierquälenden, katholischen oder atheistischen Kontinentaleuropäern nicht in irgendwelche finsteren alleuropäischen Imperien hineingezwungen zu werden
    (Merke: Das British Empire war das einzige gute, moralische und funktionierende Reich der Menschheitsgeschichte; alle anderen waren böse und verkommen, besonders die von Katholiken oder Atheisten geführten, einschließlich der EU.)
     
  • die armen so tüchtigen (nennen Sie das Volk Ihrer Wahl), die von ihren korrupten Eliten (wahrscheinlich Außerirdischen) immer nur hinters Licht geführt und der Verachtung der Welt preisgegeben werden, damit kaltherzige, bleichhäutige Nordeuropäer (alternativ auch: verschlagene, finsteräugige Südeuropäer) sie anschließend demütigen und enteignen können 
     
  • die armen Bürger Europas, die den bösen Banken und den unfähigen, gierigen Politikern hilflos ausgeliefert sind
    (Wer gibt den Banken eigentlich in der Hoffnung auf fette Rendite das Geld? Welche Gesellschaft hat die Politiker eigentlich geprägt, anschließend gewählt oder akzeptiert? Und wer fordert eigentlich ständig fette Wahlgeschenke?)

Die Liste ließe sich verlängern.

Nicht alle in Europa suhlen sich so im Selbstmitleid, Gott sei Dank! Aber die es tun, stehen einer Bewältigung der gewaltigen europäischen Probleme im Weg. Sie zerstören ohnehin schon zerrüttetes Vertrauen zwischen den Gesellschaften, ohne das in Europa gar nichts geht. Und sie nötigen auch besonnene Politiker zu der Sache schädlichen nationalpopulistischen Rücksichten, da selbst fähige Staatsmänner und -frauen in solchem Klima Gefahr laufen, ihre parlamentarischen Mehrheiten an nationalistische Glücksritter zu verlieren.

Das alles soll nicht besagen, dass es zwischen den nationalen Gesellschaften in Europa keine Interessenskonflikte gäbe. Die gibt es, und sie sind sogar groß. Wir meinen auch nicht, dass sich die alleuropäische Krise durch ein bisschen positives Denken beheben ließe.

Wir möchten lediglich in aller Nüchternheit behaupten, dass Selbstmitleid nicht der Weg ist, sich die Zukunft zu erobern oder eine neue Welt zu bauen. Ja natürlich, die Welt ist kein Paradies, Menschen handeln nach ihren Interessen, und die sind unterschiedlich. Na und? Bei wem wollen wir uns beschweren?

Griechen und Italiener, Deutsche und Finnen, Briten und Franzosen – sie alle suchen nach einem Weg, möglichst ungeschoren durch die Krise zu kommen, und sind erleichtert, wenn an ihrer statt andere ihre Haare lassen müssen. Das ist völlig normal und kein Grund zur Klage.

Zumal Menschen, die sich nicht gewohnheitsmäßig selbst leid tun, im Grunde wissen, dass die Wünsche anderer Europäer völlig verständlich und teilweise berechtigt sind. Nachdenkende Griechen wissen, dass Griechen die griechische Krise verschuldet haben und dass es nicht zuvörderst Aufgabe der Finnen ist, griechische Probleme zu lösen. Intelligente Deutsche wissen, dass Deutsche Europa jahrzehntelang als Schicksals- und Solidargemeinschaft beschworen haben, und wundern sich nicht, wenn Südeuropäer sie jetzt beim Wort nehmen.

Das Gegenteil von Selbstmitleid ist Ehrlichkeit mit sich selbst. Alle europäischen Länder gemeinsam sind in die Krise gestolpert. In keinem europäischen Land haben Bürger und Politiker im Vorfeld das getan, was sie zur Verhinderung der Krise hätten tun können. In allen europäischen Ländern denken die Menschen jetzt zuvörderst an sich selbst, ist ihnen das Hemd näher als der Rock. Ja aber die Griechen? – Haben eine lange Reihe gefährlicher Fehler begangen, sind aber weder böse noch unfähig zu lernen; nur so egoistisch wie alle anderen. Und die Deutschen? – Haben im idealistischen Überschwang und aus provinzieller Gleichgültigkeit die Probleme in Europa völlig unterschätzt, sind aber weder Imperialisten noch gefühllose Eisklötze; nur eben auch so egoistisch wie alle anderen. In Maßen aber ist Egoismus kein Hindernis fürs Zusammenleben; sonst wären ja auch die Nationalstaaten längst zerfallen.

Was wünschen wir uns? Liebe Wuteuropäer aller Nationen! Wenn Sie das nächste Mal nationales Selbstmitleid heiß in sich aufsteigen fühlen: Schauen Sie in den Spiegel, und machen Sie sich klar, wie lächerlich gerade Sie in der Rolle als beleidigte Leberwurst wirken. Gehen Sie dann an Ihre Arbeit, engagieren Sie sich in Ihrer Gesellschaft, und wählen Sie die richtigen Politiker. Eine Krise wie diese wird nicht durch Heulen und Zähneknirschen gelöst, und schon gar nicht durch hysterisches Schwadronieren.

Wir alle sind heute Teil des Problems – wir alle können morgen Teil der Lösung sein. Nur ernsthaft daran arbeiten müssen wir schon.

 
  

 

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