Deutschland - Allein in Europa
Deutschland - Allein in Europa
 

Eigentlich sollten wir uns mit ganz anderen Dingen befassen. Wir sollten überlegen, wie wir den Abstand zwischen Arm und Reich, zwischen Machtlos und Mächtig verringern können - in Deutschland und in Europa. Wir sollten zusehen, dass wir Ein- und Auswanderung glück-suchender und unglück-fliehender Menschen in Europa und drumherum besser handhaben und vielleicht sogar klug regulieren. Wir müssten uns darum kümmern, wie man endlich eine stabile internationale Ordnung in und um Europa errichten kann, die Frieden bewahrt und Wohlstand ermöglicht. Dazu hätten wir zuerst einmal die EU zu reformieren.

Aber es geht ja nicht. Denn die europäische Familie hat sich gründlich verkracht, und wir müssen uns derzeit mit allerlei Beziehungsproblemen herumschlagen. Die Völker im Allgemeinen und deren politische Klassen im Besonderen vertrauen einander nicht; oft vertrauen sie nicht einmal sich selbst. Und ohne ein gewisses Vertrauen lässt sich auf diesem Kontinent, auf dem Macht immer gleich die Bildung von Gegenmacht bewirkt,  nichts bewegen.

Jeder stichelt hintenrum ein wenig gegen jeden; und alle gemeinsam gegen Deutschland. Ja, Deutschland hat in diesen Monaten in Europa eine schlechte Presse, trifft oft auf Misstrauen, Sorge, Neid und Schadenfreude.
 

Europäische Vorbehalte gegen Deutschland

  • In Großbritannien sehen nicht wenige Euroskeptiker Deutschland als die dunkle Macht hinter der EU, wenn sie das auch selten offen zugeben; der Brexit hat eine versteckte, gleichwohl erkennbare antideutsche Spitze.
     
  • In Südeuropa - Italien, Spanien, Griechenland - empfinden viele Menschen die europäischen Sparauflagen im Gefolge der Eurokrise als deutsches Diktat; in diesem Zusammenhang wird gerne ein neues Reich herbeifantasiert, das Südeuropa der deutschen Wirtschaft unterwerfen wolle.
     
  • In Ostmitteleuropa - Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn - fürchten nicht wenige, Deutschland wolle mittels der EU die alten Nationen auflösen; die Regierungen steuern daher entschlossen einen nationalen bis nationalistischen Gegenkurs.
     
  • In der Türkei muss Deutschland als Watschenmann bei der nationalistischen Selbstinszenierung der Regierung herhalten.
     
  • Ähnlich ist es in Russland, wo die deutsche Flüchtlingspolitik quasi regierungsamtlich als kolossale Dummheit und Beweis für die Überlegenheit des Putinismus gefeiert wird; gleichzeitig wird der zivilisierte deutsche Umgang mit Einwandererstraftaten als Nachweis deutscher Charakterschwäche verlacht und muss als Beleg für die Überlegenheit der russischen Nation herhalten.
     
  • Und in Frankreich schließlich schieben nicht wenige Linke wie Rechte die wirtschaftliche und politische Schwäche ihres Landes der deutschen Eurorettungs- und Flüchtlingspolitik in die Schuhe.

Wir müssen verstehen, und wir müssen uns von unseren Illusionen lossagen:

Viele unserer Nachbarn und Verbündeten verabschieden sich gerade aus den Rollen, die wir ihnen in unserem Programm für das politische Welttheater zugedacht hatten.


Die Deutschen haben sich Illusionen über ihre Partner gemacht

Frankreich und Großbritannien waren in unserer Vorstellung immer die Pfeiler einer übernationalen europäischen Friedensordnung und als solche für uns Vorbilder und Orientierungsmarken. Jetzt sehen wir, wie in beiden Ländern provinzielle, nationale Kräfte immer stärker werden, die bereit sind, diese Ordnung auf dem Müllhaufen der Geschichte zu entsorgen, um sich ausgiebiger ihrem eigenen Nabel widmen zu können. Und nicht nur das - sie sehen Deutschland dabei tendenziell als Gegner.

Die Ostmitteleuropäer waren für uns die aus dem Sowjetkerker befreiten Gefangenen, die sich nach einem Europa sehnten, bei dem sie vierzig Jahre lang nicht hatten mitmachen dürfen. Jetzt verstehen wir, dass sie Europa vor allem als Stützrahmen bei der Wiederherstellung und Absicherung ihrer alten Nationalstaaten brauchen, am Bau eines zukunftsfesten europäischen Hauses aber kaum interessiert sind.

Russland sahen wir als den Gegner, der zum Partner wurde, und mit dem wir gemeinsam Schwerter zu Pflugscharen schmieden würden. Jetzt begreifen wir, dass Russland sich niemals vom militärischen Großmachtdenken verabschiedet hat. Seine Eliten sind in erster Linie an Macht und Kontrolle interessiert; Wohlstand und Zusammenarbeit sind ihnen nachrangig; sie respektieren die Stärke, nicht das Recht.

Die Türkei war für uns die Brücke zum Orient; ein westliches islamisches Land, nach dessen Muster irgendwann der schwelende Konflikt zwischen der westlichen Zivilisation und der islamischen Welt würde ausgeräumt werden können. Jetzt sehen wir, dass eine gewaltige Kluft besteht zwischen unseren Werten und der politischen Kultur der Türkei. Und alle unsere Konzepte für den Nahen Osten sind Makulatur.

Vielleicht haben wir uns auch im außereuropäischen Partner USA getäuscht. Wir waren uns immer darüber im Klaren, dass die Amerikaner ein imperiales Selbstverständnis haben, glaubten aber gleichzeitig, dass die imperiale Macht Amerikas quasi per Naturgesetz immer zu unserem Vorteil wirken müsste. Würde das auch unter einem Präsidenten wie Donald Trump so bleiben, der für einen populistischen Nationalismus steht? Unwahrscheinlich.


Wie auch immer: Wir waren in der Vergangenheit zu blauäugig und finden uns einsamer wieder, als uns lieb sein kann.

Die Risse im Verhältnis zu vielen unserer Partner sind keine Kleinigkeit. Sie beeinträchtigen auch die Funktionstüchtigkeit unserer beiden wichtigsten Bündnisse und damit die Stabilität unseres Kontinents.

 

EU und NATO: Deutschlands Sicherheitsraum in Gefahr

Die EU ist Deutschlands Lebens-, Wirtschafts- und Sicherheitsraum. Sie ist deutsche Staatsräson, bedarf aber dringend einer grundlegenden Reform. Die wird ohne gemeinsame Vertrauensbasis nicht zu schaffen sein. Ohne Reform aber droht der Zerfall der Union. Darüber hinaus sehen viele britische Euroskeptiker die EU auch nach einem Austritt des Vereinigten Königreichs als Bedrohung und Konkurrentin. Es ist nicht auszuschließen, dass Großbritannien auch nach dem Brexit versuchen wird, der Union gezielt zu schaden; etwa durch Unterstützung euroskeptischer Kräfte und Politiken in einzelnen Ländern der Union oder durch Instrumentalisierung der NATO gegen eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Auch Russland hat erwiesenermaßen kein Interesse an einer starken EU und dürfte weiter versuchen, über populistische Bewegungen Einfluss auf innereuropäische Politik zu nehmen. Das niederländische Referendum gegen das EU-Abkommen mit der Ukraine zeigt, wohin die Reise gehen könnte.

Die NATO erfüllt für Deutschland eine zweifache Funktion. Erstens balanciert sie für Deutschland Russland militärisch aus. Zweitens verhindert sie antideutsche Bündnisse, indem sie Deutschlands Macht einhegt und Deutschlands Nachbarn beruhigt  – durch die Präsenz der USA, durch die fortwährende allseitige Kooperation und durch Deutschlands militärische Unselbständigkeit, die sich das Land dank der Rückendeckung durch die NATO leisten kann.

Gleichzeitig hat die NATO für Deutschland drei Nachteile. Zum einen bringt sie die nationalen Interessen der USA in Europa zum Tragen, die nicht immer mit deutschen Interessen zusammenstimmen, man denke nur an die amerikanische Nahost- und Russlandpolitik. Zum anderen besteht in der NATO die Notwendigkeit, die USA bei der Stange zu halten; zu diesem Zweck engagiert sich das Bündnis ab und an in fernen Konflikten, die für deutsche Interessen eigentlich unerheblich sind. Drittens schließlich behindert die NATO die außen- und sicherheitspolitische Ertüchtigung der EU.

Ein dauernder, offener oder latenter Konflikt zwischen Großbritannien einerseits, der EU und Deutschland andererseits würde die Funktionstüchtigkeit der NATO bedrohen. Beide Seiten könnten versucht sein, das Bündnis als Geisel zu nehmen und Vorteile auf anderen Gebieten durch eine Blockadepolitik in der Allianz zu erzwingen. Ganz allgemein gilt: Zwischenstaatliche Konflikte, die durch einen Verfall der EU entstehen könnten, würden zweifelsohne auch in den Gremien der NATO ausgefochten werden. Ohne irgendeine Form der europäischen Integration könnte auch die NATO in ihrer heutigen Form nicht überleben. Umgekehrt gilt das nicht! Ohne die NATO würde sich vermutlich über kurz oder lang die EU zu einem Sicherheitsbündnis entwickeln. Wir sollten deshalb in Deutschland nie vergessen, dass die europäische Integration für uns im Zweifelsfall wichtiger ist als die NATO.

Das alles sind keine schönen Aussichten.

Deutschland sollte daher im politischen Alltag tun, was es realistischerweise tun kann, um verlorengegangenes Vertrauen wiederherzustellen. Dabei gilt es aber von den Realitäten des Lebens auszugehen und sich von idealistischem Wunschdenken zu verabschieden.
 

Deutschlands außenpolitische Agenda

  1. Deutschland muss versuchen, die EU zusammen- und funktionstüchtig zu halten, sie mittelfristig zu verbessern und zu stärken (mehr dazu hier). Dazu muss Deutschland sich viel stärker als zuletzt auf die Abstimmung mit Frankreich und - neu -  Polen konzentrieren, so mühsam das auch sein mag. Gleichzeitig muss deutsche Politik sich immer wieder demonstrativ für die Interessen kleiner und mittlerer Staaten in die Bresche werfen, auch für Griechenland, auch für Ungarn.
     
  2. Sollten Großbritannien oder die USA versuchen, die Reform und die Weiterentwicklung der EU zu einem im Inneren demokratischen und nach außen starken Staatenbund zu behindern, sollte Deutschland sich notfalls - aber nur dann - in der NATO energisch querlegen. Davon abgesehen muss Deutschland versuchen, möglichst viel Zusammenarbeit mit den Briten zu retten. Sonst erklären die Insulaner mit ihrer Lust am herzerwärmenden Feindbild uns irgendwann zu Erben Napoleons, Hitlers und Jean-Claude Junckers und nehmen uns wieder in die Reihen ihrer Lieblingsgegner auf.
     
  3. Gegenüber Russland und der Türkei sollte Deutschland kühle Interessenpolitik betreiben, wobei das deutsche Hauptinteresse in der Sicherung und Weiterentwicklung der Europäischen Union besteht. Eine Partnerschaft mit diesen beiden Ländern ist wie der biblische Rohrstock: Er ist in schwierigem Gelände durchaus hilfreich, aber wer sich zu stark auf ihn stützt, dem dringt er durch die Hand.
     
  4. Vor allem aber sollte Deutschland Selbstertüchtigung betreiben. Deutschland braucht eine außenpolitisch informierte und kompetente Öffentlichkeit, damit deutsche Regierungen vernünftige Politik betreiben können und sich nicht mehr in albernen PR- und Alibi-Aktionen verzetteln müssen. Die deutsche Gesellschaft braucht seelische Widerstandsfähigkeit und selbstbewusste Gelassenheit, damit nicht jeder hergelaufene russische Propagandaschreiber, jeder schlecht toupierte amerikanische Präsidentschaftskandidat, jeder messerschwingende Asylrechtsmissbraucher oder jedes neue Trüppchen syrischer Flüchtlinge das Land in Aufregung versetzen kann. Deutschland braucht bessere Geheimdienste und unabhängige strategische Aufklärung. Und Deutschland braucht größere, bessere Streitkräfte – denn Deutschland wird das Rückgrat jeder europäischen Außen- und Verteidigungspolitik sein müssen, die den Namen verdient.
     

Das Leben ist nicht leicht.

 

 


Lektüre zum Thema:
Josef Janning / Almut Möller: Leading from the Centre: Germany's New Role in Europe. ecfr.eu .

Ach ja, und der biblische Rohrstock:
"Siehe, verlässest du dich auf diesen zerstoßenen Rohrstab, auf Ägypten, welcher, so sich jemand darauf lehnt, wird er ihm die Hand durchbohren? Also ist Pharao, der König in Ägypten, allen, die sich auf ihn verlassen."
(2.Könige, Kapitel 18, Vers 21) Auch das ist lesenswert; Kriegspolitik im 8. Jahrhundert vor Christus.

 

Karte:Richie Wiki-vr [Public domain], via Wikimedia Commons

 

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