Heute vor 500 Jahren, am 29. September 1513, erreichte Vasco Núñez de Balboa als erster Europäer den Pazifik.

Balboa, Spross einer verarmten spanischen Adelsfamilie, war  als einfacher Matrose auf einem der ersten Schiffe in die gerade entdeckte Neue Welt gelangt. Er versuchte sich im heutigen Haiti als Bauer, scheiterte und floh vor seinen Gläubigern weiter ins Unbekannte – als blinder Passagier auf einem Entdeckerschiff. Der Kapitän hätte ihn beinah am nächsten Strand ausgesetzt; Balboa aber gelang es, die Mannschaft auf seine Seite zu ziehen, und so wurde er selbst zum Expeditionsleiter ausgerufen. Als Meuterer war er nun zum Erfolg verdammt, wenn er der Bestrafung entgehen wollte.

An der Küste des heutigen Kolumbien gründete er nach heftigen Kämpfen gegen die ansässigen Indianer eine Siedlung – die erste dauerhafte europäische Siedlung auf dem amerikanischen Festland. Von dort aus unternahm er mit seinen Leuten Raubzüge ins Binnenland – immer auf der Suche nach Gold und anderen Reichtümern fiel er bedenkenlos über seine indianischen Nachbarn her. Ohne großen Erfolg allerdings. Und als er schließlich Nachricht erhielt, dass er wegen Meuterei zur Rechenschaft gezogen werden sollte, wusste er, dass er nun etwas wirklich Großes vollbringen musste.

Indianer hatten ihm von einem großen Meer im Westen erzählt, jenseits dessen ein Land sagenhaften Reichtums liegen sollte. Da machte er sich mit 190 Freiwilligen auf den Weg – mitten hinein in die Urwälder Panamas. Es war ein Marsch durch die Hölle; eine Hölle, die Balboa sich selbst redlich verdient hatte: Immer wieder wurde die Expedition von erbitterten Indios angegriffen; Meter für Meter musste man sich den Weg durch den Dschungel freischlagen; das mörderische Klima brachte die Männer bis an den Rand der völligen Erschöpfung und darüber hinaus. Mehr als die Hälfte der Expeditionsteilnehmer kamen um. Aber nach dreieinhalb Wochen unter dem grünen Dach des Dschungels sah Balboa von einem Berg aus die See, und am 29. September 1513 watete er in die Wellen des Pazifischen Ozeans, in der einen Hand sein Schwert, in der anderen die Fahne der Jungfrau Maria. Dann nahm er das Meer für die spanische Krone in Besitz. Er nannte es „Mar del Sur“ - „Südsee“.

Was für eine Geschichte.

Schon bald folgten andere Europäer der Richtung, die Balboas Schwert ihnen gewiesen hatte. 1520 umfuhren die Schiffe Magellans Südamerika und durchquerten den Ozean von Ost nach West. 1532 nutzte Pizarro den Pazifik als Anmarschweg beim Angriff auf das Inkareich. Holländer, Engländer, Franzosen, Portugiesen, später Russen und Deutsche befuhren den Ozean und besetzten oder eroberten die meisten Länder der pazifischen Region. Aber die Dinge bleiben nicht so, wie sie sind.

Ruinöse innereuropäische Kriege im 19. und 20. Jahrhundert zwangen die Europäer dazu, sich wieder auf ihre atlantische Heimatregion zu konzentrieren; die Kolonialreiche brachen zusammen. Die Zerstörungswucht dieser Kriege war ein Ergebnis der wirtschaftlichen, politischen, sozialen Dynamik des europäischen Kontinents; derselben Dynamik, die zuvor die Welt und den Pazifik unter europäische Herrschaft gebracht hatte. Der Niedergang Europas war der Preis für die vorangegangene Dominanz Europas im Atlantischen Zeitalter.

Die rasante und überaus erfolgreiche wirtschaftliche Aufholjagd der Länder Ostasiens stellt nun sicher, dass es eine wie auch immer geartete europäische Hegemonie im pazifischen Raum nicht mehr geben wird. Die von einigen in Großbritannien oder Frankreich herbeifantasierte „Rückkehr Europas“ in den Pazifik an der Seite der USA ist ein eitler Traum – sofern dabei an Flottenverbände und Protektorate gedacht wird. Sieht man dagegen auf Wirtschaftsunternehmen, auf Migrantenströme, auf kulturelle Anziehungskraft, dann hat Europa die Region nie verlassen. Der große Aufschwung im gar nicht mehr fernen Osten wird auch Europa beflügeln, wenn wir uns nicht gar zu dumm anstellen.

Wer nun das Heraufziehen eines Pazifischen Zeitalters beschwört und gleichzeitig vom Niedergang Europas orakelt, der sollte überlegen, ob nicht umgekehrt ein Schuh daraus wird: Die Verlagerung wirtschaftlicher und politischer Dynamik in andere Weltregionen bietet Europa erstmals seit Jahrhunderten die Chance, seine Ressourcen auf die wirtschaftliche, kulturelle, soziale Entwicklung zu konzentrieren, statt sie wie bisher in immer neuen Machtwettbewerben zu verpulvern. Russland und die USA wurden im Schatten europäischer Weltmächte zu Supermächten. Es könnte Europa sehr gut tun, im Schatten pazifischer Weltmächte zu leben. Die Europäer müssen allerdings darauf achten, dass pazifische Rivalitäten auch auf den pazifischen Raum beschränkt bleiben. Vielleicht ist das die große sicherheitspolitische Herausforderung des pazifischen Zeitalters für den Alten Kontinent.

Das Schwert, das Vasco Núñez de Balboa vor 500 Jahren dem Mar del Sur entgegenstreckte, brauchen wir wohl noch – wir sollten es am Gestade des Océano Atlántico aufpflanzen. Denn die Dinge bleiben nicht so, wie sie sind.





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