Diese Woche vor 200 Jahren starben bei Leipzig innerhalb von vier Tagen 50.000 Menschen, vielleicht auch 100.000; ungezählte weitere wurden an Leib und Seele versehrt; 15 Dörfer wurden zerstört, die Stadt selbst wurde zum Schlachtfeld. Die genaue Zahl der Opfer konnte nie ermittelt werden.
Völkerschlacht wurde das epische Gemetzel benannt, bei dem vom 16. bis zum 19. Oktober 1813 um die Vormacht in Europa gekämpft wurde – von Soldaten aus Frankreich, Preußen, Österreich und Russland, aus den deutschen Mittel- und Kleinstaaten, aus Schweden, Italien und Polen, aus dem Baltikum und der Ukraine, aus Ungarn und Kroatien, aus England und Spanien. Beinahe 600.000 Kämpfer schossen und schlugen rund um die Stadt Leipzig aufeinander ein, die damals etwa 30.000 Einwohner hatte.
Napoleons Frankreich, der fortschrittlichste Staat Europas, hatte halb Europa erobert – mit der stärksten Armee der Welt und dem Versprechen von Liberté, Égalité, Fraternité. Dem hatten die adligen Eliten der absolutistischen Monarchien Europas nicht viel entgegenzusetzen gehabt; wenige Menschen in Preußen oder Österreich waren bereit, ihr Leben im Kampf für die Privilegien ihrer parasitären Führungsklasse zu opfern. Als sich dann aber zeigte, dass Napoleons Herrschsucht den Menschen im französischen Machtbereich weniger Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als Krieg, Steuern und Hungersnot brachte, wendete sich das Blatt. Nachdem Napoleon im irrwitzigen Russlandfeldzug eine halbe Million Menschen in die Katastrophe geführt hatte, war das Maß voll: Die Franzosen sollten weg – Kaiser, Besatzungstruppen, Beamte, Bündnisverpflichtungen, Kontributionen. In den deutschen Ländern und in Russland meldeten sich viele zehntausend Männer als Freiwillige zum Kampf gegen Frankreich, den nach dem Zaren nun auch der König von Preußen und der Kaiser von Österreich ausgerufen hatten. Napoleon seinerseits stellte eine neue Armee auf, in die auch Kontingente der verbliebenen Verbündeten Frankreichs eingegliedert wurden: Rheinbunddeutsche, Italiener, Polen vor allem.
Bei Leipzig kam es zur Entscheidungsschlacht. Von drei Seiten gleichzeitig angegriffen, entging Napoleons Armee nur knapp der völligen Vernichtung; ihre Reste zogen sich hastig nach Frankreich zurück oder kapitulierten in den nächsten Wochen und Monaten. In den folgenden 130 Jahren gelang es keiner ausländischen Macht mehr, mit Waffengewalt ins Innere Deutschlands vorzudringen.
Wir wollen ja immer aus der Geschichte lernen: Was also machen wir hieraus?
Einig Deutschland?
„Nie ward Deutschland bezwungen, wenn es einig war!“ So ging eine Lehre, die frühere Generationen aus dem Geschehen ziehen zu können meinten. Das überzeugt natürlich nicht, denn bei Leipzig fochten auch Deutsche gegen Deutsche. Und die Rheinländer, Westfalen, Badener oder Hessen unter französischer Herrschaft waren durchaus nicht scharf darauf, sich ausgerechnet von Preußen befreien zu lassen. „Leipzig“ war nicht nur ein deutscher Sieg, es war auch eine deutsche Niederlage.
Gemeint war mit dem Spruch von der deutschen Einigkeit auch das Verhältnis zwischen den adligen Eliten und der Masse des Volks, zwischen Baronen, Bürgern und Bauern. Freiheit von äußerer Bedrückung könne man erkämpfen, wenn man allen inneren Streit um Freiheit und Gerechtigkeit hintanstelle. Diese Form von Einigkeit durch Vergessen aller Klassengegensätze wurde hundert Jahre später wieder beschworen – beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Sagen wir so: Diese Lehre hat sich nicht bewährt. Wenn im Inneren der Nation Unfreiheit und Ungerechtigkeit walten, nützt der Sieg über den äußeren Feind nur den Reichen und Mächtigen. Zur nationalen Sinnstiftung taugt die Völkerschlacht den Deutschen nicht.
Modernität ohne Fremdherrschaft
Unsere Frage bleibt also noch unbeantwortet: Was machen wir aus dieser Geschichte? Vielleicht ergibt sie diesen Sinn:
Ein politisch, gesellschaftlich und militärisch fortschrittlicher Staat greift seine politisch, gesellschaftlich und militärisch rückständigen Nachbarn an und zwingt sie in ein Vasallenverhältnis. Er wirbt mit seinem freiheitlichen Gesellschaftsmodell und erregt bei den Besiegten viel Interesse und einige Sympathie. Dann aber beginnt er, die unterworfenen Staaten auszubeuten, um seine imperiale Politik fortsetzen zu können.
Die Eliten der rückständigen Staaten beginnen unter dem Druck der Verhältnisse mit einem ehrgeizigen Modernisierungsprogramm und versprechen ihren Bürgern mehr Freiheit. Ihre Verheißung lautet: Modernität ohne Fremdherrschaft. Der fortschrittliche Unterdrücker verliert die Fortschrittlichkeit als Alleinstellungsmerkmal und erscheint jetzt nur noch als Unterdrücker. Bei nächster Gelegenheit wird sein Imperium von den zahlenmäßig weit überlegenen Unterdrückten zerschlagen.
Diese Geschichte hat sich oft wiederholt – es ist auch die Geschichte von Aufstieg und Fall der europäischen Kolonialmächte. Und die Maxime „Modernität ohne Fremdherrschaft“ beseelt auch die Bemühungen von Nationen, die sich dem Zugriff des amerikanischen Imperiums entziehen wollten und wollen – von Vietnam bis zum Iran.
Auch Menschen, die dem Fortschritt zugewandt sind; Menschen, die sich Demokratie, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit wünschen, haben darüber hinaus ein vages Bewusstsein nationaler Interessen. Sie verstehen, dass es untunlich ist, ihren hergebrachten Staatsverband, so fehlerbehaftet er auch sei, auf Gedeih und Verderb einem selbsternannten Befreier auszuliefern. Denn kein Befreier widersteht der Versuchung, einen „Lohn“ für sich zu fordern – Handelsprivilegien, Rohstoffe, Materiallieferungen, Heeresfolge, Stationierungsrechte oder politische Gefügigkeit. Auch die Befreiung ist eine Form der Unterwerfung und kann von den Zwangsbefreiten als Demütigung empfunden werden. Menschen wollen frei sein – und sie wollen das Gefühl haben, sich selbst befreit zu haben.
Lehren: Von Grenzen und Hausaufgaben
So hält die Geschichte der Leipziger Schlacht und der Befreiungskriege zwei Lehren bereit.
- Eine Lehre für wohlwollende Hegemone:
Kennt eure Grenzen! Und wenn ihr schon meint, fremde Nationen gewaltsam mit Zivilisation beglücken zu müssen – was keine vielversprechende Idee ist – dann bürdet ihnen anschließend nicht die Kosten eures Imperiums auf. Wenn ihr nicht bereit seid, diese Kosten alleine zu tragen, lasst euren Ehrgeiz fahren.
- Und eine Lehre für mögliche Opfer wohlwollender und anderer Hegemone:
Macht eure Hausaufgaben! Integriert breite Bevölkerungsschichten ins politische und wirtschaftliche Leben. Seid offen für neue Entwicklungen. Misstraut den schönen Worten großer Mächte. Und haltet Krieg für möglich – seid gewappnet.
Deutschland übrigens sollte sich beide Lehren hinter die Ohren schreiben. So findet sich in der Leipziger Schlacht vielleicht doch noch nationaler Sinn.
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Lektüren:
Robert Naumann: Die Völkerschlacht bei Leipzig: Nebst Nachrichten von Zeitgenossen u. Augenzeugen über dieselbe. Leipzig 1863.
Kirstin Anne Schäfer: Die Völkerschlacht. In: Etienne François / Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bde. 5. Auflage. München 2009. Bd. II. S. 187-201.
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Gemälde: Ernst Wilhelm Straßberger: Erstürmung des Dorfes Probstheida in der Völkerschlacht bei Leipzig am 18. Oktober 1813
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