Thorsten Kleinschmidt, 14. Oktober 2019
Es sollte vor allem ein Aufbruch sein, damals im Jahre 2009. Eine Weltfinanzkrise und drei Kriege – im Irak, in Afghanistan, in Georgien – hatten den Zukunftsoptimismus der Jahrtausendwende zerstieben lassen wie eine schillernde Seifenblase beim Kontakt mit dem harten Boden der Tatsachen.
Deutschland und Europa standen an einem Scheideweg:
- Würden wir uns den neuen Realitäten stellen, das Gebäude der europäischen Integration sturmfest machen, die politische und wirtschaftliche Stabilisierung der Region zwischen Atlantik und Ural, Nordkap und Sahara energisch in die eigene Hand nehmen?
- Oder würden wir uns in selbstgefälliger Nostalgie der Veränderung verweigern, darauf bestehend, dass nach dem Ende des Kalten Krieges ein gültiger Endzustand zivilisatorischer Entwicklung in Europa erreicht sei, der uns der Notwendigkeit enthebe, uns fürderhin mit so ungemütlichen Themen wie Macht, Konkurrenz und Ausbeutung zu beschäftigen?
Würden wir also ein neues, besseres Deutschland in einem neuen, besseren Europa gestalten oder lieber die Welt den Finanzmärkten, den USA und China überlassen, um uns selbst nicht die Hände schmutzig zu machen?
Der Geisteszustand von Deutschlands politischer Klasse ließ damals wenig Gutes erwarten: Sozialdemokraten arbeiteten sich an der Ära Schröder ab und träumten sich zurück in ein Willy-Brandt-Siebzigerjahre-Phantasien. Christdemokraten hatten kein anderes Projekt als das Verhindern von Veränderung, was in einer alternden Bevölkerung gut ankam. Liberale, Grüne und PDS-Linke hatten es sich in ihren ideologischen Ghettos gemütlich gemacht. Und alle miteinander hatten keinerlei realistische Vorstellung von der großen Welt jenseits der EU-Außengrenzen, geschweige denn Konzepte für eine wirkungsvolle deutsche Außenpolitik.
„Deutschland und die Welt da draußen“ - das war die Überschrift, unter der im September 2009 reichsfrei.de online ging. Das Projekt sollte Realität in Köpfe bringen, die bislang vor allem mit Idealen und Illusionen gefüllt waren. Nicht zynisch oder wertfrei, aber eben realistisch und pragmatisch sollte der Blick auf die Welt da draußen sein. Nicht wie eine Erscheinung moralisch zu bewerten sei, sollte hier interessieren, sondern was sie für Folgen haben und wie man sie praktisch beeinflussen könnte. Reichsfrei.de sollte einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass Deutschland und Europa in der unwirtlichen Ödnis zwischen einer verklärten Vergangenheit und einer gefährlichen Zukunft den richtigen Weg einschlugen.
Vom Scheideweg zum Weg in den Abgrund
Zehn Jahre später ist die Welt nicht besser geworden.
- Statt einer an Haupt und Gliedern reformierten Europäischen Union bekamen wir eine Welle antieuropäischen Populismus‘ und den Brexit.
- Statt neuer islamischer Demokratien im Maghreb und in Nahost sehen wir einen Krisenbogen vom Atlantik bis zum Hindukusch mit einer neuen Generation von Tyrannen.
- Statt einer Ausbreitung des europäischen Modells internationaler Zusammenarbeit auf die angrenzenden Weltregionen haben wir einen Rückfall in nationalistische Brusttrommelei selbst innerhalb Europas.
- Unterdessen ist Russland wieder einmal auf einem Sonderweg in Richtung Osten unterwegs, während sich die USA unter Donald Trump vor unseren Augen in einen rogue state zu verwandeln drohen. Ausgerechnet China gilt als Stabilitätsanker, entwickelt aber gleichzeitig eine neue Form des Kolonialismus, dessen Landnahmen bis nach Europa reichen.
- Gleichzeitig hat die große Völkerwanderung vom Süden in den Norden begonnen; die Politik zur Begrenzung des Klimawandels, der diese Wanderung weiter anschieben wird, macht aber keine Fortschritte mehr.
Deutschlands Versagen
Die deutsche Politik hat all diesen Entwicklungen bislang wenig entgegenzusetzen gehabt. Sie war oft eher Teil des Problems als Teil der Lösung.
- In der Eurokrise drängte Deutschland kompromisslos aufs Sparen und trieb einen Keil durch die EU; die deutsche Politik in der Flüchtlingskrise vertiefte diese Spaltung.
- Auf den arabischen Frühling reagierte Deutschland passiv und phantasielos; das Abgleiten der Region ins Chaos nahm man phlegmatisch hin; das Gerede von neuer deutscher Verantwortung entpuppte sich als … Gerede.
- In der Ukraine-Krise reagierte man spät und zunächst ungeschickt; dann beschränkte man sich auf Schadensbegrenzung.
- Im Verhältnis zu Russland verkannte man das eigentliche Problem: die Angst der Russen vor den Amerikanern. Ein militärischer Abschied der USA aus Europa hätte wie kaum etwas sonst das Verhältnis zu Russland entspannen können. Eine Neuausrichtung der europäischen Sicherheitspolitik in Richtung auf eine komplette militärische Unabhängigkeit von den USA hatte Deutschland aber immer verschleppt, und das ewige deutsche Bekenntnis zur längst fälligen Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO war eben nur ewige deutsche Schönsprecherei geblieben.
Chancen, die Dinge zum Besseren zu wenden, wären da gewesen.
Deutschland hätte energisch eine konsensuale Reform der EU anstreben können; eine militärische Emanzipation von den USA; eine kooperative und integrative Politik gegenüber Russland, zumindest vor der Ukraine-Krise, die hätte vermieden werden können; eine konzertierte Politik Europas, der USA, Russlands und Chinas gegenüber den Krisenherden in der islamischen Welt; konsequentes Voranschreiten beim Klimaschutz. Erfolge wären nicht garantiert gewesen, aber wer hätte versuchen können, den Zeitläuften eine Wendung zu geben, wenn nicht das stärkste Land der Europäischen Union?
Allein die deutsche Politik hatte nicht die Kraft; dachte kurzfristig von Wahl zu Wahl; hatte Angst vor der eigenen Courage; war gefangen in alten außenpolitischen Routinen („Zurückhaltung“, „Transatlantische Ausrichtung“, „Förderung der deutschen Exportwirtschaft“, „historische Verantwortung“); druckste vor dem Wahlvolk herum, statt Visionen zu entwickeln.
Verbunden ist das alles mit der Kanzlerin Angela Merkel, die eine gute Krisenmanagerin war, aber keine Zukunftskonzepte hatte. Kein einziges außenpolitisches Problem Deutschlands und Europas haben die drei Regierungen Merkels gelöst, durch ihr ungeschicktes Verhalten in der Flüchtlingskrise aber gleich zwei geschaffen: das Populismus-Problem und den Brexit.
Stagnation nicht mit Resignation beantworten
Reichsfrei.de hat versucht dagegenzuhalten. Am Anfang war da das Gefühl, den Rückenwind der Geschichte zu spüren – einiges schien in die richtige Richtung zu laufen. Dann wurde der Gegenwind immer stärker. Zuletzt musste der Autor dieser Texte gegen die eigene Resignation ankämpfen. Die Zeitabstände zwischen den Einträgen wurde in den letzten beiden Jahren immer größer, denn wie oft kann man Stagnation, Einfallslosigkeit und Unbeweglichkeit kritisieren, ohne sich ständig zu wiederholen?
Rückenwind, Gegenwind, wie auch immer: Das Wetter muss man ertragen, wie es kommt, und reichsfrei.de nimmt einen neuen Anlauf. Wieder steht Europa am Scheideweg, und Angela Merkel tritt bald ab. Rutscht die Welt in eine Rauferei der Nationen und Imperien ab, wie in der Ära vor 1914? Oder gelingt es, die Lage zu stabilisieren? Was muss geschehen? Reichsfrei will auf diese Frage weiter Antworten suchen – mit Ernst und Eifer, mit neuen Ideen und alten Idealen.
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