Russland ist anders als „der Westen“ und will anders sein. Das erzählen uns große und kleine Geister westlich und östlich des Njemen seit über 250 Jahren. Die meisten Russen glauben es, und wir „Westler“ sowieso.

Russlands Präsident Dmitri Medwedjew hat diese Woche eine Rede vor beiden Kammern des russischen Parlaments gehalten, in der er ein modernes Russland beschwört. Sollten die ehrgeizigen Reformvorschläge des Präsidenten irgendwann auch nur annähernd in die Tat umgesetzt werden, dann wäre Russland – aufgepasst! – ein westliches Land.

 

Der 15. Nachfolger von Zar Nikolaus II. in der Position des Staatsoberhaupts beginnt mit der Feststellung, dass Russlands Weltmachtstatus auf eine völlig neue Grundlage gestellt werden müsse.  Nicht die Errungenschaften der Vergangenheit könnten das Wohlergehen der Nation sichern, sondern nur eine konsequente Öffnung auf die Zukunft. Es folgt ein Modernisierungsprogramm geradezu petrinischen Ausmaßes.

Dabei sind die Forderungen, Schlüsseltechnologien und Schlüsselbranchen der Wirtschaft gezielt zu fördern, Sozialleistungen zu sichern, ein attraktives Umfeld für Forschung und Entwicklung zu schaffen und das Bildungswesen zu erneuern noch relativ unspektakulär. Auch die Forderung nach Herrschaft des Rechts und Überwindung der Korruption haben wir schon oft gehört.

Schon interessanter ist die Aussage, der Staat müsse seine Wirtschaftstätigkeit aufs Notwendigste beschränken und stattdessen die Privatinitiative fördern.

Dann aber die Kulturrevolution.
Nicht die Stärkung des Staates, die Größe der Nation oder die Behauptung des Weltmachtstatus’ macht Medwedjew zum (Haupt-)Ziel der Reformen, sondern die Erhöhung der Lebensqualität für die russischen Bürger.
Schulreformen sollen einen Mentalitätswandel herbeiführen helfen; weg von Autoritätsgläubigkeit und Unselbständigkeit hin zu Kritikfähigkeit und Eigeninitiative:

„Wir selbst müssen uns ändern. Es ist unerlässlich, die weitverbreitete Vorstellung zu überwinden, nach der alle existierenden Probleme der Staat oder sonst wer lösen soll, nur nicht wir selbst an unserem jeweiligen Ort. Persönlicher Erfolg, Ermutigung von Initiative, Erhöhung des öffentlichen Diskussionsniveaus, Unduldsamkeit gegenüber Korruption müssen ein Teil unserer nationalen Kultur werden.“

Der Staat soll die Entwicklung der Zivilgesellschaft nach Kräften fördern.
Die Effektivität des Staates will der Präsident an dessen demokratischer Offenheit messen. Konkrete Vorschläge macht er für eine Stärkung des Parteienwettbewerbs und für eine Verbesserung der demokratischen Strukturen auf lokaler und regionaler Ebene.
Die Konfliktherde in Tschetschenien und Inguschetien sollen durch wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung entschärft werden.
Die Außenpolitik soll sich ganz pragmatisch am Ziel einer Verbesserung der Lebensbedingungen innerhalb Russlands orientieren – es ist keine Rede mehr von Einflusszonen oder Nahem Ausland. Dazu plädiert Medwedjew für einen neuen Multilateralismus und konkret für die Schaffung einer neuen sicherheitspolitischen Struktur in Europa, da Russland der NATO nicht beitreten werde.


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Nun haben wir -  seit Peter dem Großen – ähnliche Reformentwürfe schon oft von russischen Politikern hören können, ohne dass dies alles eins zu eins umgesetzt werden konnte. Das wird diesmal wahrscheinlich nicht anders sein.

Unbedingt bemerkenswert aber scheint mir, dass dergleichen Anläufe, das Land nach „westlichen“ Mustern zu modernisieren, immer wieder gemacht werden. Auch die Schaffung der Sowjetunion etwa war ein gewaltiges Verwestlichungsexperiment – der Marxismus war schließlich eine zutiefst westliche Idee. Russlands Pech, dass es keine gute war.

Wie dem auch sei: Die westliche Vorstellung von Fortschritt und Modernisierung ist seit langem – seit 300 Jahren – ein integraler Bestandteil der russischen Kultur. Der Antagonismus zwischen „Russland“ und „dem Westen“ ist ganz wesentlich ein ideologisches Konstrukt des 19. Jahrhunderts. Russland ist viel „westlicher“, als die Russen selbst glauben.

Was bedeutet das für uns? Zwischen Deutschland respektive Europa und Russland gibt es viele kulturelle Anknüpfungspunkte, die eine dauerhafte politische Partnerschaft ermöglichen sollten. Ein solches Projekt erscheint grundsätzlich aussichtsreicher als etwa eine euro-mediterrane Partnerschaft. Um so erstaunlicher und bedauerlicher, dass es keine substanzielle deutsche oder europäische Antwort auf Medwedjews diplomatische Avancen gibt. Es heißt, Medwedjew sei innenpolitisch schwach; viele europäische Staaten sehen eine Annäherung Russlands skeptisch. Aber wie stark schien Gorbatschow Ende der 80er Jahre? Und auch damals waren viele Westeuropäer (und die Amerikaner) im Zweifel über die wirklichen Absichten der Sowjets. Die deutsche Außenpolitik hat damals dafür geworben, „Gorbatschow beim Wort zu nehmen“. Die Erfolge sind heute legendär.

3 Kommentare

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  • nocheinbuerger  
    "Der 15. Nachfolger von Zar Nikolaus II. in der Position des Staatsoberhaupts beginnt mit der Feststellung, dass Russlands Weltmachtstatus auf eine völlig neue Grundlage gestellt werden müsse."

    Lieber Herr oder Frau T.W.K.: Wem dienen solche Formulierungen? Dem Verständnis für Rußland und dessen Geschichte, Mentalität und Politik jedenfalls nicht. Medwedjew ist in einer Wahl von der russischen Bevölkerung mit großer Mehrheit zum russischen Präsidenten bestimmt worden. Die letzte russische Zarenfamilie, die Romanovs, wurden durch die Bolschwewiki in der Oktoberrevolution von 1917 abgesetzt und später ermordet. So what?


    "Dabei sind die Forderungen, Schlüsseltechnologien und Schlüsselbranchen der Wirtschaft gezielt zu fördern, Sozialleistungen zu sichern, ein attraktives Umfeld für Forschung und Entwicklung zu schaffen und das Bildungswesen zu erneuern noch relativ unspektakulär. Auch die Forderung nach Herrschaft des Rechts und Überwindung der Korruption haben wir schon oft gehört."
    "Dann aber die Kulturrevolution.
    Nicht die Stärkung des Staates, die Größe der Nation oder die Behauptung des Weltmachtstatus’ macht Medwedjew zum (Haupt-)Ziel der Reformen, sondern die Erhöhung der Lebensqualität für die russischen Bürger."

    Das ist keine Kulturrevolution, sondern passiert seit dem Amtsantritt von Putin seit vielen Jahren. Will man sich nicht endlich vom Bild der vergangenen Jahre lösen, das die russische Gesellschaft als einen Haufen darbender, unwissender Muschiks darstellt, die gottergeben zum großen Zaren (oder wahlweise Generalsekretär) aufschauen und sich wie Schafe dirigieren lassen? Die Realeinkommen (Lohn- und Gehaltszuwächse nominal minus Inflationsrate) ist in den letzten Jahren um ein Mehrfaches gewachsen, wenn sie natürlich noch weit vom westeuropäischen Niveau entfernt sind. Die hohen Erlöse aus dem Verkauf von Öl und Gas hat man eben nicht in Prestigeobjekte oder Hochrüstung verpulvert, sondern sie in Stabilitätsfonds angelegt, deren Höhe inzwischen nach Hunderten von Milliarden zu bemessen ist. Diese Fonds werden dazu verwendet, um die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise abzufedern, die mit Sicherheit nicht durch Rußland verschuldet wurde. Auch in das Sozial- und Gesundheitswesen wurden in den letzten Jahren hohe Summen investiert, wenn auch die Wirksamkeit der Maßnahmen durch die beiden Grundübel Korruption und bürokratische Ineffizienz abgeschwächt wird.

    Insgesamt aber läßt sich das Bild von den hungernden und entrechteten russischen Menschen angesichts der tatsächlichen Politik der russischen Regierung nicht halten. Man kann auch nicht mehr die Regierungszeit Boris Jelzins als Maßstab heranziehen. Die Einnahmequellen aus dem Rohstoffgeschäft standen ihm genauso wie heute Putin oder Medwedjew zur Verfügung; man fragt sich, warum es unter Jelzin ein derartiges Chaos und Elend gab.


    "Schulreformen sollen einen Mentalitätswandel herbeiführen helfen; weg von Autoritätsgläubigkeit und Unselbständigkeit hin zu Kritikfähigkeit und Eigeninitiative:

    Der Staat soll die Entwicklung der Zivilgesellschaft nach Kräften fördern.
    Die Effektivität des Staates will der Präsident an dessen demokratischer Offenheit messen. Konkrete Vorschläge macht er für eine Stärkung des Parteienwettbewerbs und für eine Verbesserung der demokratischen Strukturen auf lokaler und regionaler Ebene."

    Das alle diese Reformen aber von der Existenz einer russischen Zentralstaatlichkeit überhaupt abhängen und diese Staatlichkeit durch Putin und seine Politik erst wieder hergestellt werden mußte, sollte in dem Zusammenhang unbedingt erwähnt werden. Medwedjew wie auch Putin kann man ein aufrichtiges Interesse an der Schaffung einer Zivilgesellschaft in Rußland unterstellen. Aber die Entstehung einer solchen Zivilgesellschaft braucht Zeit, die Rußland nicht hat. Ohnehin zeigen Artikel wie dieser hier, daß das Vertrauen des Auslands in die Erfolge solcher Reformen gering sind; das gilt auch für Rußland und seine Bevölkerung, die traditionell wenig vom Staat erwartet.


    "Nun haben wir - seit Peter dem Großen – ähnliche Reformentwürfe schon oft von russischen Politikern hören können, ohne dass dies alles eins zu eins umgesetzt werden konnte. Das wird diesmal wahrscheinlich nicht anders sein."

    So oder so: Diese Reformen werden jetzt in Gang gesetzt werden. Man darf dabei allerdings nie darin verfallen, eine 1:1-Kopie des Westens zu erwarten. Solche Erwartungen, die dann naturgemäß enttäuscht werden, zeigen oft auch viel mehr die Fragwürdigkeit des eigenen Gesellschaftsmodells und desse Kritikwürdigkeit. Wer solche Luxusthemen wie die Einrichtung der Homoehe oder von Datenschutz-, Gleichstellungs- und sonstigen Beauftragten als vorrangiges Kriterium für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ansieht, wird mit Sicherheit seine Erwartungen enttäuscht sehen.


    "Die westliche Vorstellung von Fortschritt und Modernisierung ist seit langem – seit 300 Jahren – ein integraler Bestandteil der russischen Kultur. Der Antagonismus zwischen „Russland“ und „dem Westen“ ist ganz wesentlich ein ideologisches Konstrukt des 19. Jahrhunderts. Russland ist viel „westlicher“, als die Russen selbst glauben."

    Die russischen Eliten sind im Grund europäisch gesinnt; Rußland insgesamt ist als ein mehrheitlich christlich-orthodoxes Land dem Westen kulturell und gesellschftlich viel näher als Noch-Beitrittskandidaten wie die Türkei. Aber Nähe ist nicht Gleichheit.


    "Die Außenpolitik soll sich ganz pragmatisch am Ziel einer Verbesserung der Lebensbedingungen innerhalb Russlands orientieren – es ist keine Rede mehr von Einflusszonen oder Nahem Ausland. Dazu plädiert Medwedjew für einen neuen Multilateralismus und konkret für die Schaffung einer neuen sicherheitspolitischen Struktur in Europa, da Russland der NATO nicht beitreten werde."

    Vor allem will Rußland seine Souveränität wahren. Es wird sich keinen amerikanisch dominierten Militärbündnissen unterordnen, und angesichts der geopolitischen Lage und der spezifischen historischen und politischen Realitäten dürfte das das Beste für das Land sein, wie auch für die europäischen Länder. Dem dient auch das Konzept des Multilateralismus. Was die Einflußzonen angeht, deren Erwähnung Rußland von westlichen Beobachtern üblicherweise mit allen Anzeichen moralischer Entrüstung vorgehalten wird: Ähnlich wie die USA den amerikanischen Kontinent als Interessenszone betrachten, welcher die eigene Außen- und Sicherheitspolitik besondere Aufmerksamkeit widmet, genauso betrachtet Rußland die benachbarten Länder, insbesondere die ehemaligen Sowjetrepubliken, als Interessens- und Sicherheitszone und widmet ihnen besonderes Augenmerk.

    Das gilt auch für Länder mit einem hohen russischen Bevölkerungsanteil, welcher aus den sowjetischen Zeiten herrührt. Bei der üblichen voreingenommenen Art der Berichterstattung in den hiesigen Medien werden dabei oft schon Äußerungen, die sich auf den Status oder die Bürgerrechte dieser Bürger im Ausland beziehen, als Zeichen von Aggressivität gedeutet. Dasselbe gilt für die Wahrung der Besitzstände, wie z.B. die Boden- oder Schürfrechte in angelagerten Regionen, wie sie üblicherweise auch von anderen Staaten beansprucht werden.
    • T.W.K.  
      Lieber (Mit)buerger,

      mir scheint, es gibt wenig Dissens zwischen uns.


      "Das ist keine Kulturrevolution, sondern passiert seit dem Amtsantritt von Putin seit vielen Jahren. Will man sich nicht endlich vom Bild der vergangenen Jahre lösen, das die russische Gesellschaft als einen Haufen darbender, unwissender Muschiks darstellt, die gottergeben zum großen Zaren (oder wahlweise Generalsekretär) aufschauen und sich wie Schafe dirigieren lassen?"

      Die Kulturrevolution sehe ich auch nicht auf der Ebene der russischen Bürger. Die Entwicklung der russischen Zivilgesellschaft bedarf sicher nicht des Anstoßes von oben - obwohl Medwedjew das anders zu sehen scheint. Bemerkenswert scheint mir nur, wenn das russische Staatsoberhaupt geradezu demonstrativ auf die gewohnte Rhetorik des "starken Staats" verzichtet, die ja gerade bei Putin imageprägend war. Russische Staatsfunktionäre, die nicht auf ihre Allmacht und Allzuständigkeit pochen, sondern ihre Bürger ermahnen: "Ihr müsst auch mal was ohne uns machen!" - Hier sehe ich schon eine gewisse kulturelle Revolution. Wobei der Begriff der "Revolution" auf dem Gebiet der Kultur ja immer nur im übertragenen Sinne gebraucht werden kann.

      "Das alle diese Reformen aber von der Existenz einer russischen Zentralstaatlichkeit überhaupt abhängen und diese Staatlichkeit durch Putin und seine Politik erst wieder hergestellt werden mußte, sollte in dem Zusammenhang unbedingt erwähnt werden."

      Einverstanden.

      "Die russischen Eliten sind im Grund europäisch gesinnt; Rußland insgesamt ist als ein mehrheitlich christlich-orthodoxes Land dem Westen kulturell und gesellschftlich viel näher als Noch-Beitrittskandidaten wie die Türkei. Aber Nähe ist nicht Gleichheit."

      Wobei die Sicht der meisten Russen auf "den Westen" natürlich auch illusionär ist. Der sogenannte "Westen" als kulturgeografische und politische Einheit existiert nicht. Die kulturelle Entfernung zwischen Vancouver und einem Dorf in Sizilien ist sicher größer als die Entfernung zwischen St.Petersburg und Warschau.

      "Ähnlich wie die USA den amerikanischen Kontinent als Interessenszone betrachten, welcher die eigene Außen- und Sicherheitspolitik besondere Aufmerksamkeit widmet, genauso betrachtet Rußland die benachbarten Länder, insbesondere die ehemaligen Sowjetrepubliken, als Interessens- und Sicherheitszone und widmet ihnen besonderes Augenmerk."

      Allerdings ist eine "Interessens- und Sicherheitszone" nicht dasselbe wie eine "Einflusszone". Eine "Interessens- und Sicherheitszone" hat auch Liechtenstein. Ich meine, wir Mittelmachtsbürger dürfen schon die Stirn runzeln, wenn Politiker oder prominente Bürger von Großmächten öffentlich Einflusszonen für ihr Land reklamieren (auf Grund welchen Rechts bitte?) - und wir dürfen es dementsprechend mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen, wenn der Präsident einer Großmacht auf solch anmaßende Rhetorik verzichtet.
      • nocheinbuerger  
        "mir scheint, es gibt wenig Dissens zwischen uns."

        In der Beurteilung der Faktenlage sicherlich. Vielleicht aber in der grundsätzlichen Sicht auf Rußland und dessen Ziele und Absichten?

        "Die Kulturrevolution sehe ich auch nicht auf der Ebene der russischen Bürger. Die Entwicklung der russischen Zivilgesellschaft bedarf sicher nicht des Anstoßes von oben - obwohl Medwedjew das anders zu sehen scheint."

        In einem Staat wie Rußland kamen die grundlegenden Veränderungen fast immer von oben. Die einzige Revolution, die von unten kam, nämlich die Februar- und dann die Oktoberrevolution, haben dem Land einen jahrelangen blutigen Bürgerkrieg und eine jahrzehntelange kommunistische Diktatur mit noch mehr Opfern eingebracht.

        "Bemerkenswert scheint mir nur, wenn das russische Staatsoberhaupt geradezu demonstrativ auf die gewohnte Rhetorik des "starken Staats" verzichtet, die ja gerade bei Putin imageprägend war."

        Das war eine Reaktion auf den vollständigen Verfall der Staatsmacht und der Autorität der russischen Regierung in den Jelzin-Jahren. Die russischen Bürger, die ja grundsätzlich offen für Dinge für Demokratie und Pressefreiheit waren, mußten mit ansehen, wie statt dem Staat andere nichtstaatliche Kräfte wie die Oligarchen oder die organisierte Kriminalität die Macht übernahmen, was zu noch stärkerem Chaos und Gesetzlosigkeit führte als in all den Jahren zuvor. In einer Gesellschaft wie der russischen, die an einen starken, autoritären Staat gewohnt war, mußte das um so mehr zu einem Gefühl der Bedrohung und zum Ruf nach Rückkehr zur Autorität der Regierung führen. Das ist das, was viele Leuten im Westen, die nie unter sozialistischen Bedingungen gelebt und vor allem den Zerfall der gewohnten staatlichen Ordnung nicht durchgemacht haben, offenbar nur schwer nachvollziehen können. Macht ohne Recht ist schlimm; aber Recht ohne Macht ist nicht besser.

        Fatal daran ist, daß der russischen Bevölkerung das Chaos unter Jelzin als Demokratie verkauft wurde; viele Medien und Berichterstatter im Westen versuchen das heute noch. Da wird sehr gern verdrängt, daß es Jelzin war, der sein Parlament mit Panzern beschießen ließ und den 1. Tschetschenienkrieg begann. Hier stellt sich für den unvoreingenommenen Betrachter die Frage: Wird hier mit zweierlei Maß gemessen, weil Rußland unter Jelzin schwach und westenhörig war?

        "Russische Staatsfunktionäre, die nicht auf ihre Allmacht und Allzuständigkeit pochen, sondern ihre Bürger ermahnen: "Ihr müsst auch mal was ohne uns machen!" - Hier sehe ich schon eine gewisse kulturelle Revolution."

        Ich fürchte, da sind wohl die Erfahrungen aus sowjetischen Zeiten prägend. Wenn das autoritäre Vorgehen russischer Politiker beklagt wird, gerät immer wieder in Vergessenheit, daß die mit viel existentielleren Fragen und mit anderen "Bübchen" zu tun haben als die einheimischen Politiker, die in einigermaßen geordneten Verhältnissen agieren. Deswegen wurde das Wort "Demokrat" in den 90er Jahren unter Jelzin zum Schimpfwort. Die spitzfingrige Art und Weise, mit der man sich heute über das Vorgehen von Putin und der russischen Politiker mokiert, abstrahiert meist von den konkreten Verhältnissen. Für die reale Beurteilung dieser Maßnahmen ist sie jedenfalls vollkommen unangemessen.

        "Wobei der Begriff der "Revolution" auf dem Gebiet der Kultur ja immer nur im übertragenen Sinne gebraucht werden kann."

        Reform wäre angebrachter. Aber so neu ist das alles ja nicht. So mißlungen die "demokratische" Umgestaltung unter Jelzin auch war: Es fanden Veränderungen in der russischen Gesellschaft und im Staatswesen statt, die weg vom bisherigen kommunistisch-autoritären Staat hin zu einer bürgerlichen Gesellschaft gingen. Diese Veränderungen wurden auch von Putin nicht angetastet; ihm ging es, wie geschildert, eher darum, die Autorität der Regierung und des Staates generell wiederherzustellen. Allerdings machte er das klugerweise nicht mehr in Form einer formalen Übernahme des westlichen Modells, das seine Untauglichkeit für die russischen Verhältnisse anschaulich bewiesen hatte.

        "Wobei die Sicht der meisten Russen auf "den Westen" natürlich auch illusionär ist. Der sogenannte "Westen" als kulturgeografische und politische Einheit existiert nicht. Die kulturelle Entfernung zwischen Vancouver und einem Dorf in Sizilien ist sicher größer als die Entfernung zwischen St.Petersburg und Warschau."

        Das gilt allerdings und gerade auch für Rußland, das sich auch heute noch aus über 100 Ethnien zusammensetzt und sich über 11 Zeitzonen erstreckt. Bei aller Betonung der patriarchalischen Ordnung im Zarenreich und der russisch-orthodoxen Frömmigkeit der Bevölkerung in der Vergangenheit muß man beachten, daß Rußland immer ein multiethnischer Staat war mit den unterschiedlichsten nationalen wie ethnischen Konflikten zwischen den Landesteilen und Völkerschaften.

        Durch alle Verschiedenartigkeit gibt es aber doch das Gemeinsame und Verbindende sowohl des Westens als auch Rußlands. Der Westen, und hier ist Europa als die "Mutter" der westlichen Zivilisation gemeint, ist trotz der unterschiedlichsten Bestandteile eine Gemeinschaft von Nationen, die sich durch gemeinsame Werte, eine gemeinsame Geschichte, eine gemeinsame Kultur und nicht zuletzt eine gemeinsame Religion, dem Christentum, verbunden fühlen, aus der diese Kultur entspringt. Rußland selbst hatte immer die Zwiespältigkeit, daß es territorial zu einem Drittel europäisch und zu zwei Dritteln asiatisch ist. Die Hauptmasse seiner Bevölkerung lebt aber im europäischen Teil und besteht zum größten Teil aus christlich-orthodoxen Russen; die Elite Rußlands war und ist zum übergroßen Teil russisch. Nach der Loslösung der zentralasiatischen Sowjetrepubliken besteht die Bevölkerung der RF zu 80 % aus ethnischen Russen; die Abtrennung des "asiatischen Hängebauchs", wie von Slawophilen wie Solchenizyn seit vielen Jahren gefordert, hat sich mit der Auflösung der SU automatisch mit vollzogen.

        Je größer die Gemeinsamkeiten, desto besser die Möglichkeiten zur Verständigung. Was in den kommunistischen Zeiten verdrängt wurde, gewinnt heute zunehmend an Bedeutung, nämlich daß die Russen als politisch wie kulturell dominierende Bevölkerungsgruppe Christen sind. Eine Rückwendung der Bevölkerung zum orthodoxen Glauben ist eindeutig zu beobachten, und diese Frömmigkeit scheint aufrichtig zu sein.

        "Allerdings ist eine "Interessens- und Sicherheitszone" nicht dasselbe wie eine "Einflusszone". Eine "Interessens- und Sicherheitszone" hat auch Liechtenstein. Ich meine, wir Mittelmachtsbürger dürfen schon die Stirn runzeln, wenn Politiker oder prominente Bürger von Großmächten öffentlich Einflusszonen für ihr Land reklamieren (auf Grund welchen Rechts bitte?)"

        Tun das die USA nicht auch mit ihren Nachbarn, wenn vielleicht auch rhetorisch etwas geschickter verpackt? Hier wäre zu fragen, ob solche Dinge wie Interessens-, Sicherheits- und Einflußzonen überhaupt sauber voneinander zu trennen sind.

        " - und wir dürfen es dementsprechend mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen, wenn der Präsident einer Großmacht auf solch anmaßende Rhetorik verzichtet."

        Hier zu meiner eingangs gemachten Bemerkung: Wird bei der Beurteilung der Rhetorik russischer und amerikanischer Politiker nicht mit zweierlei Maß gemessen, das aus der unterschiedlichen Sichtweise auf diese Mächte rührt? Wenn ein amerikanischer Präsident von der Größe und der Macht seiner Nation schwärmt und seinen Stolz darauf bekundet, gilt er hier im Westen als Patriot; tut ein russischer Präsident ähnliches, gilt er als Nationalist und antiwestlicher Rhetoriker. Könnte es sein, daß sich in beiden Fällen das Gleiche hinter diesen Äußerungen verbirgt, nämlich die innere Verbundenheit zum eigenen Land?

        Auch dürfen Sie nicht vergessen, daß sich ein Land wie das multiethnische Rußland mit seinen zahlreichen Völkerschaften, seiner Ausdehnung und seinen unendlich langen Grenzen nicht wie ein Zwergstaat wie z.B. Liechtenstein regieren läßt. "Rußland ist groß, und der Zar ist weit" ist ein gängiges Sprichwort. Es war immer das Problem aller russischen Herrscher und Regierungen, die eigene Autorität in allen Landesteilen durchzusetzen und zu behaupten.

        Bei einer nachlassenden Autorität der Zentralregierung aber beginnen automatisch die zentrifugalen Kräfte an der Peripherie des Landes zu wirken; der Zerfall der SU und der weitere Zerfall der ehemaligen Sowjetrepubliken im Kaukasus in sich bekriegende Teile zeigen das sehr anschaulich.

        So konnte es sich Rußland z.B. politisch gar nicht leisten, nach dem Überfall Georgiens auf Südossetien nicht militärisch zu reagieren. Im Bewußtsein, daß alle Separatisten des Landes die Reaktionen der Regierung genau beobachten würden, mußte Rußland den Angriff auf diesen Landesteil, in dem russische Friedenstruppen stationiert waren und die Bevölkerung größtenteils russische Pässe hatte, mit Gewalt zurückschlagen. Eine Schwäche in dieser Beziehung hätte sofort die separatistischen Kräfte in Tschetschenien, Dagestan und den anderen Landesteilen ermutigt, ihrerseits gegen die zentralstaatliche Autorität der russischen Föderation vorzugehen.

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