Letzten Monat haben wir kritisiert, dass die Debatte um die Ausgestaltung einer europäischen Sicherheitspolitik um ein idealisiertes strategisches Konzept kreist, das wir als ozeanisch-interventionistisch charakterisiert haben und das einseitig auf den historischen Erfahrungen der atlantischen Mächte Großbritannien, USA und Frankreich beruht. „Projektion“ heißt das Zauberwort dieser Denkschule – durch massive politische, wirtschaftliche oder gar militärische Intervention sollen westliche politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen an benachbarte oder auch ferne Gestade „projiziert“ werden. Wir haben zu zeigen versucht, dass dies der historischen Erfahrung und der Interessenlage kontinentaleuropäischer Staaten nicht entspricht.

Heute versuchen wir uns an einer Skizze der Prioritäten deutscher Sicherheitspolitik, so wie wir sie sehen und uns wünschen. Sie soll der Situation Deutschlands als einer regional-kontinentalen Macht mit weltweiten Wirtschaftsinteressen Rechnung tragen; eine Schnittmenge mit den Zielen der Atlantiker gibt es gleichwohl. Die Reihenfolge gibt eine ungefähre Gewichtung an.



Vorrangige Ziele deutscher Sicherheitspolitik

1. Überführung der EU in eine funktionsfähige, nachhaltig stabile Struktur, die den spezifischen deutschen Interessen entspricht

  • Verhinderung eines Zerfalls der europäischen Politikgemeinschaft und der Bildung antideutscher Allianzen; Zeitgewinn für eine zukunftsweisende Reform der europäischen Konföderation
  • Verhinderung einer sozialen und politischen Destabilisierung Südeuropas
  • Hinwirken auf eine Struktur, die folgende deutsche Interessen gewährleistet:
  1. Bündelung der Ressourcen ganz Europas zur machtvollen Vertretung gesamteuropäischer Interessen in der Welt
  2. Schaffung eines funktionsfähigen Binnenmarktes
  3. strikte Kompetenzabgrenzung zwischen EU und Nationalstaaten mit Verhinderung eines automatischen Zugriffs europäischer Institutionen auf deutsche wirtschaftliche Ressourcen und mit Behauptung kulturpolitischer Souveränität
  4. konsequente Demokratisierung europäischer Institutionen, so dass die genuin europäischen Politikfelder keine Spielwiese nationalstaatlicher Eliten bleiben
  5. institutionelle Stabilität in einer nachhaltigen Struktur

2. Sicherung der deutschen Energieversorgung und Stabilisierung Osteuropas durch Einbindung Russlands in eine Struktur wechselseitiger Abhängigkeit

3. Erschließung alternativer Energiequellen und Gewinn alternativer Rohstofflieferanten zur Vermeidung einseitiger Abhängigkeiten

4. Dauerhafte Befriedung des Balkans durch kulturelle und wirtschaftliche Europäisierung plus militärische Absicherung

5. Stabilisierung Nordafrikas und des Nahen Ostens mit Stoßrichtung auf allmähliche Demokratisierung und wirtschaftliche Entwicklung der Region
  • politische und wirtschaftliche Stabilisierung der Transformationsstaaten
  • Einhegung der konfessionell aufgeladenen Konflikte in der islamischen Welt

6. Erzielung von Fortschritten im Kampf gegen die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen einerseits, ihre Oligopolisierung andererseits

7. Einhegung islamistischen Terrorismus einerseits, rechtsextremen Terrorismus andererseits mit geheimdienstlichen und polizeilichen Mitteln

8. Sicherung der Interessen deutscher Unternehmen, deutscher Arbeitnehmer und deutscher Verbraucher in der Weltwirtschaft mit politischen, diplomatischen und geheimdienstlichen Mitteln

9. Erzielung von Fortschritten bei der Errichtung einer internationalen ökologischen Ordnung, die vor allem die schädlichen Einwirkungen auf das Weltklima zu begrenzen in der Lage ist

10. Sicherung der Interessen deutscher Bürger und Unternehmen gegen Angriffe über den virtuellen Raum auf ihre wirtschaftlichen Ressourcen und ihre informationelle Selbstbestimmung – Sicherung sowohl gegen grenzüberschreitende Kriminalität als auch gegen fremdstaatliche Anschläge auf in Deutschland verbürgte Rechte


In dieser Auflistung kommen die NATO, das Bündnis mit den USA und die Vereinten Nationen nicht vor. Wir betrachten diese traditionellen Orientierungspunkte deutscher Sicherheitspolitik nicht als Ziele an sich, sondern als Mittel zu anderen Zwecken. Eine Stärkung der NATO und des Bündnisses mit den USA birgt u.E. immer die Gefahr, die zentrale Aufgabe deutscher Sicherheitspolitik, die Transformation der EU, zu behindern. Die Hoffnung auf eine echte Reform der UN haben wir aufgegeben – auf absehbare Zeit wird der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wohl ein Vehikel zur Verteidigung der Machtpositionen der fünf Veto-Mächte bleiben; ein lahmes Vehikel obendrein.






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