Von Wellen und Strömungen – Bundeskanzler können Geschichte nicht "machen", sie können aber die Strömungen der Zeit ausnutzen. Derzeit gibt es ein Fenster für die Erneuerung der politischen Architektur des Alten Kontinents. Und Deutschland braucht dringend ein besseres Europa.
 

Auswege aus Deutschlands Dilemma in Europa

Angela Merkel möchte sich also noch einmal zur Bundeskanzlerin wählen lassen. Das wird nicht jedem gefallen. Uns schon –  aber das heißt nicht, dass wir sie auch wählen werden. Egal.

Hier auf reichsfrei.de wird nicht über Personen nachgedacht, sondern über Sachverhalte und Ideen.  Der Einfluss einzelner Menschen auf den Lauf der Welt, und handele es sich auch um Bundeskanzlerinnen, wird gemeinhin überschätzt. Es gibt Sachzwänge, an denen niemand vorbeikommt, und es gibt den Zeitgeist, dem sich niemand entziehen kann. „Unda fert nec regitur“, war das politische Motto von Merkels Vorgänger Otto von Bismarck: „Die Welle trägt, aber sie lässt sich nicht lenken.“  Was man allenfalls kann: Die Welle auswählen, auf der man reiten will.

Wir wollen uns in dieser Betrachtung ein wenig die Sachzwänge anschauen, die seit jeher das Verhältnis Deutschlands zur Außenwelt beeinflussen, und dann überlegen, welche Welle die Kanzlerin oder der Kanzler, wer immer es sei, künftig reiten sollte.
 

Deutschland: Ewig in der europäischen Zwickmühle

Deutschland – Mitteleuropa – grenzt an sämtliche Großregionen Europas und ist das Gebiet, in dem sich die Interessenssphären beinahe aller europäischen Großmächte überschneiden. Gleichzeitig ist es geographisch begünstigt: Die großen europäischen Handelsrouten gehen hier durch, es liegt zentral zu allen Absatzmärkten Europas, ist fruchtbar und hat ein mildes Klima. Früher war es auch reich an Bodenschätzen. Politisch gesprochen bedeutet dies: Das Gebiet verfügt über reichhaltige Machtressourcen. Seit dem Mittelalter ist Mitteleuropa daher immer wieder Objekt der Begierde imperialistisch veranlagter Nachbarstaaten gewesen – von den Ungarneinfällen bis zum Kalten Krieg. Umgekehrt gilt: Wenn sich Mitteleuropa selbst politisch organisiert – etwa in Gestalt eines einigen deutschen Nationalstaats – dann ist dieser Staat so ressourcenreich, dass sich bei allen benachbarten Großmächten Europas sogleich ein vages Gefühl der Bedrohung einstellt. Nichts liegt näher, als dass die Nachbarn sich schnell gegen die Macht in der Mitte zusammenschließen.

Ganz holzschnittartig stellt sich die politische Grundsituation der Deutschen und der anderen Mitteleuropäer so dar: Wenn wir politisch schwach und zersplittert sind, werden wir ganz schnell zum Spielball unterschiedlicher fremder Machtinteressen, die mit uns ihre Wettkämpfe austragen – zuletzt während des Kalten Kriegs. Wenn wir politisch stark und geeint sind, entstehen ganz schnell übermächtige antideutsche Bündnisse, denen wir auf die Dauer nicht widerstehen können – zuletzt vor dem Ersten Weltkrieg.
 

Der Ausweg: feste Integration Deutschlands plus lockere Integration Europas

Deutsche Politik steht daher seit tausend Jahren vor einer doppelten Herausforderung. Zum Einen haben Kaiser, Könige und Kanzler immer versucht, Mitteleuropa zusammenzuschließen und stark zu machen. Zum Anderen mussten sie versuchen, die Außenmächte davon abzuhalten, sich gegen ein starkes Mitteleuropa zusammenzutun. Insofern waren deutsche Einigung und europäische Integration zwei Seiten derselben Medaille. Die Wiedervereinigung machte Deutschland stark; die europäische Integration sollte verhindern, dass Franzosen, Briten, Polen, Italiener sich gegen dieses starke Deutschland verbünden.  

Alle Kanzler seit Adenauer und zuvor schon Bismarck und Stresemann haben diese Doppelstrategie verfolgt. Schaffung eines vereinten, stabilen und effektiven Staates im mitteleuropäischen Kernraum plus feste Einbindung dieses Staates in eine zu diesem Zweck geschaffene, stabile und effektive europäische Ordnung. Oder anders formuliert: feste Integration Mitteleuropas plus lockere Integration Gesamteuropas.
 

Fehler der deutschen Außenpolitik unter Merkel

Auch Merkels Außenpolitik steht in dieser Tradition. Allerdings ist zuletzt ein Missverhältnis zwischen den beiden strategischen Polen entstanden.  In der Finanz- und Schuldenkrise hat Merkels Politik dem deutschen Staat zu einer vorher nie gekannten Machtposition in Europa verholfen – in engem Zusammenwirken mit gleichgesinnten mitteleuropäischen Nachbarn, wie Österreich oder den Niederlanden. Dieser Stärkung des mitteleuropäischen Kernraums stand aber keine Stärkung der gesamteuropäischen Integrationsordnung gegenüber. Während Deutschland immer stärker wurde, wurden die EU-Institutionen immer wirkungsloser.  Dann geschah, was zu erwarten war: Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit – der Flüchtlingskrise – bildete sich innerhalb der EU ein antideutsches Bündnis, das Merkels Projekt einer gesamteuropäischen Flüchtlingspolitik auflaufen ließ. Diese Ereignisse trugen zur Entscheidung der Briten bei, die Union zu verlassen, und nun ist der ganze Bau der EU gefährdet.  Wenn der aber zusammenbräche, stünde Deutschland wieder da, wo es 1914 stand: Allein in einer – wie hieß das noch gleich? -  „Welt von Feinden“.

Die neuen Nationalisten in Deutschland werfen Merkel vor, die Interessen Deutschlands an das Ausland „verraten“ zu haben; an Griechen und Amerikaner, an Türken und andere Muslime, an Eurokraten und an wen weiß ich noch. Das Gegenteil ist richtig. Merkels Politik hat Deutschland in Europa zu mächtig gemacht, oder genauer gesagt: Deutschland hat zuletzt das Machtoptimum überschritten, weil es zugelassen hat, dass die Europäische Union seit anderthalb Jahrzehnten immer ineffektiver geworden ist.
 

Günstige politische Strömungen im gemeinsamen europäischen Haus

So. Aber wie ist das jetzt mit den Wellen? Auch der nächste Kanzler oder die wiedergewählte Kanzlerin kann den Gang der Geschichte nicht einfach kraft ihrer Richtlinienkompetenz bestimmen. Wieder wird es darum gehen, auf einer Welle zu reiten, in der Hoffnung, irgendwann an einer idyllischen Küste anzukommen.  Schauen wir uns um: Wo sind vielversprechende Strömungen?

  1. Es gibt derzeit ein Momentum für eine Reform der Europäischen Union. Nach dem Brexit-Votum haben endlich alle begriffen: So geht es nicht weiter.
     
  2. Es ist eine gute Zeit für weitreichende Grundsatzentscheidungen. Der Problemdruck ist endlich so hoch – EU-Krise, Flüchtlinge, Russland, Trump, Populisten – dass Reformblockierer einen schweren Stand haben dürften.
     
  3. Es gibt bei vielen Menschen überall in Europa ein großes Bedürfnis nach Sicherheit – wirtschaftlich wie politisch. Wer glaubhaft Sicherheit anbieten kann, wird Gehör finden.
     
  4. Es gibt einen verbreiteten Wunsch, sich vor den Fährnissen der Globalisierung abzuschirmen und Entscheidungen im überschaubaren Rahmen der Nation, der Region, der Heimatstadt zu treffen. Der Trend geht zur Rückgewinnung von Gestaltungsmöglichkeiten, die man einst an große überregionale und übernationale Strukturen wie die EU abgetreten hatte.
     
  5. Gleichzeitig erfahren die europäischen Nationalstaaten aber gerade auch wieder ihre Ohnmacht gegenüber großen Bedrohungen. Es gibt ein steigendes Bewusstsein für die Notwendigkeit von Zusammenarbeit.

Wer diese Strömungen nutzen kann, der kann weit kommen. Welchen Kurs sollte der Kapitän des deutschen Staatsschiffs also steuern?


Deutschlands künftiger Kurs in Europa

Der nächste Kanzler, die nächste Kanzlerin sollte sich die grundsätzliche Reform der Europäischen Union auf die Fahnen schreiben. Ausdrückliches Ziel der Reform sollte sein, die Sicherheit der Europäer gegen die Gefahren der Globalisierung zu gewährleisten – wirtschaftlich, politisch und militärisch.  Der Weg zu diesem Ziel sollte über eine radikale Neuverteilung der politischen Kompetenzen zwischen Union und Nationen führen. Die Union sollte das Ziel einer immer weiter gehenden Annäherung und Vereinheitlichung der nationalen Rechts-, Politik- und Kulturräume völlig aufgeben, daher in ihren Zuständigkeiten stark beschränkt und sorgsam eingehegt werden. Umgekehrt sollten die Nationen bei den Politikbereichen, die das Verhältnis Europas nach außen bestimmen,  ihre Kompetenzen nur noch gemeinsam ausüben; vor allem bei Außenpolitik, Verteidigung, Grenzschutz, Antiterrorkampf.

Das wäre die grobe Richtung. Sicher gäbe es hier viele Riffe zu umsteuern, aber um die könnte man sich kümmern, wenn es an der Zeit ist.

Nun besteht die Gefahr, dass die Anderen in Europa gleich wieder misstrauisch werden, wenn Deutschland die Admiralsflagge hisst und den Kurs vorgeben will. Deshalb muss Deutschland sich bei der europäischen Zukunftsdiskussion für eine Reform der Strukturen stark machen, aber aufhören, Inhalte vorgeben zu wollen. Das bedeutet, dass Strukturen auch in einer Weise wirken können, die unseren Interessen nicht direkt entspricht. Da das so ist, sollten wir zusehen, dass diese Strukturen nicht den Kern unseres innerstaatlichen Lebens betreffen, sondern nur dessen äußere Absicherung. Auch das spricht für eine sorgfältige Neugewichtung der Kompetenzen in der Europäischen Union.
 

Deutschland muss sagen, was es vorhat

Ganz wichtig für den künftigen Kapitän wird es sein, Vertrauen in Deutschland und Europa zu gewinnen. Dazu muss er von Anfang an klar sagen, was er will – was Deutschland will.  Etwa so:

„Deutschland will keinen europäischen Superstaat, strebt ihn nicht an und würde ihn nicht akzeptieren. Nicht heute, nicht morgen, nicht übermorgen. Wir glauben, dass die Demokratie vor allem im Haus der über lange Zeit gewachsenen Nation ihre Heimat hat.

Deutschland will aber eine europäische Konföderation – eine Staatengemeinschaft, die den Kontinent nach außen absichert und nach innen für alle Länder Stabilität und Wohlstand gewährleistet. Es will diese Konföderation unbedingt, da Isolation für Deutschland verhängnisvoll wäre. Für solch eine Konföderation wollen wir werben und wollen wir uns einsetzen.

Bei der Gestaltung der neuen Strukturen dieser Konföderation sind wir für alle Vorschläge offen, solange sicher gestellt ist, dass es eine klare Kompetenzabgrenzung gibt, die nicht durchbrochen werden kann.

Im Rahmen der begrenzten Kompetenz der Konföderation wird Deutschland weder Sonder- noch Vetorechte fordern, sondern Beschlüsse der Gemeinschaft loyal mittragen und unterstützen, als wären es die eigenen.

Deutschland will Europa, denn Deutschland will Sicherheit für alle und sich selbst.“

 

Dann würde sich zeigen, wie viel Lust auf Zukunft auf unserem alten Kontinent noch vorhanden ist.

 

 

 

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