Thorsten Kleinschmidt, 25. Juli 2019


Endlich geht es voran. Nach einer Zeit der brexitgeschuldeten Lähmung kommt wieder Bewegung in die europäische Politik. Hoffentlich - zumindest ist eine neue Kommissionspräsidentin erkoren. Bevor der Karren Fahrt aufnimmt, schauen wir wie in jedem Jahr noch einmal zurück. Die EU hat das Zeug zu einem Imperium neuen Typs, einem demokratischen oder konföderalen. Richterin der Imperien ist die Geschichte: Empires rise, empires fall… Die gefallenen Imperien sind dann die Unterrichtspräparate im Lehrsaal der Ewigkeit.

Am Grunde der Moldau wandern die Steine,
es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine,
die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.

(Brecht)

 

Teil 1 - Jahrestage 2019


Vor ungefährt 3.200 Jahren ging das Großreich der Hethiter in Kleinasien unter - keiner weiß genau wie und warum. Schon in der Zeit der klassischen Antike erinnerte sich niemand mehr an das Reich Hatti - es blieben nur Steine und Inschriften, die nicht mehr zu verstehen waren. Was wird einst von Europa bleiben? (um 1180 vor Christus)

Vor 2.500 Jahren entschieden sich die Bürger von Athen in einem Referendum für Themistokles und seine Politik der Aufrüstung gegen das persische Großreich. Sein Konkurrent Aristides hatte vorgeschlagen, das für neue Kriegsschiffe benötigte Geld stattdessen unter den Bürgern zu verteilen. Die Bürger ließen sich nicht verlocken und wählten Sicherheit. Zwei Jahre später schlugen die neuen Schiffe bei Salamis die angreifende persische Flotte und bewahrten Athen die Freiheit. (482 vor Christus)

Vor 2.400 Jahren begann in Griechenland der Olynthische Krieg. Zuvor hatte der sogenannte Königsfriede eine allgemein anerkannte Friedensordnung gebracht. Dann allerdings hatte Sparta als griechische Vormacht versucht, unter Verweis auf die Friedensbestimmungen seinen potenziellen Machtkonkurrenten zu untersagen, Bündnisse untereinander zu schließen. Es kam zum Krieg: Sparta siegte, stellte die Friedensordnung, so wie es sie interpretierte, wieder her und führte ganz nebenbei in Theben einen gewaltsamen regime change herbei, als die Stadt zögerte, sich den Spartanern anzuschließen. Wir haben hier das klassische Beispiel, wie eine Großmacht das internationale System manipuliert. Man präsentiert sich als Garantiemacht der internationalen Ordnung, interpretiert diese Ordnung dann im eigenen Interesse um und denunziert schließlich Machtkonkurrenten als Feinde der Friedensordnung. Das funktioniert bis heute. (382 vor Christus)

Vor 2.350 Jahren eroberte das Heer Alexanders des Großen im Angriffskrieg gegen Persien zunächst den Libanon, dann Palästina und schließlich Ägypten. Ein Friedensangebot des persischen Großkönigs Dareios lehnte Alexander ab. Wer militärisch überlegen ist, braucht keinen Frieden. Schwache Staaten sollten sich nie darauf verlassen, dass die starken genau so ein Interesse an Frieden haben wie sie selbst. (332 vor Christus)

Vor 2.250 Jahren verteilte der römische Staat den sogenannten ager gallicus an die Plebejer, die Angehörigen der unteren Volksschichten. Der Ager Gallicus in Mittelitalien war das Stammesgebiet mit Rom verfeindeter Kelten gewesen. In einer nicht unüblichen Kombination aus Eroberungskrieg und Völkermord hatten die Römer das Volk der Senonen vernichtet. Das nun menschenleere Land gab der politischen Elite Roms die Möglichkeit, soziale Konflikte in Rom selbst zu befrieden. Statt sich um eine gerechte Ordnung im eigenen Land zu bemühen, stellte man die Unterprivilegierten zufrieden, indem man ihnen das Land von Menschen schenkte, die man zuvor eigens umgebracht oder vertrieben hatte. Diese Form der Konfliktlösung zu Lasten Dritter ist ein politischer Klassiker.  (232 vor Christus)

Ebenfalls vor 2.250 Jahren starb der indische Kaiser Ashoka, der das Maurya-Reich auf den Höhepunkt seiner Macht führte und in blutigen Feldzügen den größten Teil des heutigen Indien und Pakistan vereinte. Nach getanem Eroberungswerk wurde er Pazifist, bekehrte sich zum Buddhismus und verwandelte sich in das Urbild des idealen Herrschers, das die indische Tradition bis heute bewahrt.  Das propagandistisch gut aufbereitete Nach- und Nebeneinander von Brutalität und Idealismus ist eine probate Kombination, wenn ein Politiker in die Geschichte eingehen will. Augustus, Karl der Große und Napoleon sind andere Beispiele. (232 vor Christus)

Vor 2.100 Jahren siegte im römischen Bürgerkrieg nach langen Kämpfen die Partei der Optimaten unter Lucius Cornelius Sulla. Nach dem Sieg schuf man mit den sogenannten Proskriptionen ein nie dagewesenes System des organisierten politischen Mordes. Sullas Leute veröffentlichten lange Listen mit politisch missliebigen Personen. Wer einen dieser sogenannten Proskribierten tötete, erhielt eine staatliche Belohnung. Der Besitz der Geächteten wurde versteigert - vorzugsweise unter den Anhängern des Regimes. Das alles war gesetzlich genau geregelt und funktionierte furchtbar gut. Die Erhebung des Habgier-Mordes zum Rechtsinstitut - so weit wollten spätere Diktatoren dann meistens doch nicht gehen. Aber die Idee mit den Todeslisten hat sich im Tyrannenmilieu durchgesetzt. Die Epoche der Bürgerkriege war mit Sullas Sieg noch nicht beendet. Gestützt auf ihre Machtbasen in den Provinzen, sollten in neuen Kriegen neue Männer um die Macht in Rom kämpfen. Der römische Staat hat das alles überlebt. (82 vor Christus)

Vor 1.300 Jahren erhielt der angelsächsische Mönch Wynfreth vom Papst den Auftrag zur Missionierung der Heiden nördlich der Alpen. Unter dem Namen Bonifatius zog er in den folgenden Jahrzehnten kreuz und quer durch Deutschland, predigte das Evangelium, fällte die heilige Eiche des Gottes Donar, baute in Thüringen, Franken und Bayern die Organisation der Kirche auf und wurde schließlich von heidnischen Friesen ermordet. Er hatte die Rückendeckung der politischen Eliten des Frankenreichs, die schon seit langem christlich waren. Sie erhofften von der Verbreitung des Christentums eine Stabilisierung des Staates und setzten in die neuen kirchlichen Verwaltungsstrukturen große Hoffnungen. Eine weltliche Staatsverwaltung, die den Namen verdient hätte, gab es nicht. Die sowohl von charismatischen Gläubigen als auch von Ungläubigen jeder Couleur immer wieder gescholtene Institutionenkirche schuf die Grundlage des europäischen Staates. (719)

Vor 1.100 Jahren wurde in Fritzlar Heinrich von Sachsen als erster Nicht-Franke zum König gewählt. Zum König wovon? Mit seinem Herrschaftsantritt endete das Ostfrankenreich, denn die dominante Stellung des fränkischen Adels war nun hinfällig. Eine gesamtdeutsche Identität gab es noch nicht; insofern wurde aus dem fränkischen Reich auch nicht gleich ein deutsches. Aber durch die einvernehmliche Aufhebung der fränkischen Hegemonie im Reich war die Bahn frei für die allmähliche Herausbildung einer stammesübergreifenden politischen Identität, zumindest bei den Eliten. Und damit markiert das Königtum Heinrichs I. den Beginn der deutschen Nationsbildung. Heinrich einigte sein Reich durch Verhandlung und Kompromiss, später verteidigte er es energisch mit Schwert und Lanze gegen äußere Feinde. Der Beginn der deutschen Staatlichkeit erinnert an die Aufgaben, denen sich die Führung der Europäischen Union in den nächsten Jahren gegenübersehen wird: Befriedung eines gemeinsamen Rechtsraumes durch Interessenausgleich plus Behauptung der gemeinsamen Interessen gegen äußere Konkurrenten – Einigkeit und Recht und Freiheit. Eine Jahrtausendaufgabe. (919)

Vor 1000 Jahren wurde Knut der Große König von Dänemark und schuf damit ein nordisches Großreich. Der Nordmännerprinz Knut hatte England mit dem Schwert erobert und erbte nun Dänemark. Er musste um den Thron kämpfen, führte Krieg und gewann. Neun Jahre später zog er mit einem Heer gegen Norwegen und erkämpfte sich auch diese Krone. Knuts Reich war so groß wie das Reich Heinrichs, aber es beruhte auf Gewalt und war für seinen Bestand auf die Kriegertugend des Herrschers angewiesen. Nach Knuts Tod fiel es wieder auseinander. Wenn Heinrichs Reich an die EU erinnert, ähnelt das Wikingerimperium Knuts dem Kaiserreich Napoleons. (1019)

Vor 850 Jahren begann die Eroberung Irlands durch den normannischen Adel Englands. Es waren Zwistigkeiten zwischen den irischen Königen, die den Engländern ermöglichten, auf der grünen Insel dauerhaft Fuß zu fassen. In einer charakteristischen Mischung aus politischer Raffinesse und politischer Naivität lotste ein irischer Fürst die Normannen nach Irland, um ihre militärische Macht gegen seine Feinde einzusetzen. Sie sind nie mehr gegangen. Es ist eine seltsame Verblendung, die die Schwachen glauben lässt, die Starken, denen sie die Wahrnehmung ihrer Interessen anvertrauen, seien uneigennütziger als sie selbst. (1169)

Vor 800 Jahren besiegte der König von Dänemark mit seinem Heer in der Schlacht von Lyndanisse die Esten. Die Esten waren Heiden – das hatte Waldemar II. den Vorwand geliefert, mit großer Heeresmacht in der Nähe des heutigen Tallinn zu landen, um das Land dem Kreuz Christi und sich selbst untertan zu machen. Im Staatensystem des christlichen Europa waren Eroberungskriege schon verpönt – wer anderen ihr Land und ihre Freiheit rauben wollte, musste sich Heiden als Opfer suchen. Und so geschah es: Estland wurde dänische Kolonie. Während der Schlacht soll der liebe Gott den Dänen eigens eine Fahne vom Himmel geworfen haben – blutrot mit einem weißen Kreuz. Dieser danebrog wurde zur Flagge der dänischen Monarchie – mit Händen zu greifendes Zeichen, dass der feudale Imperialismus der Dänenkönige den Segen des Allerhöchsten hatte. Wer ein Reich errichtet, braucht immer auch eine Rechtfertigung, denn ohne Recht hat das Reich keinen Bestand. (1219)

Ebenfalls vor 800 Jahren eroberten Kreuzfahrer nach einjähriger Belagerung die Stadt Damiette in Ägypten. Franz von Assisi, damals noch kein Heiliger, aber als charismatischer Ordensgründer der größte Star der Christenheit, hatte sich zuvor ins Heerlager der Muslime begeben, um den Sultan von der guten christlichen Sache zu überzeugen und den Kreuzzug zu einem friedlichen Ende zu bringen. Aber Reden hilft nicht, wenn die Interessengegensätze zu groß sind und die Angst vor der Niederlage zu klein ist.  Der Krieg ging weiter, die Christen nahmen die Stadt ein und mussten sie zwei Jahre später doch wieder hergeben. (1219)

Vor 600 Jahren begannen die Hussitenkriege. Der Kampf zwischen den meist tschechischen Anhängern des verbrannten Kirchenreformers Jan Hus und den meist deutschen Kämpfern der antihussitischen katholischen Kreuzzugsbewegung verheerte nicht nur die tschechischen Lande, sondern auch Teile Österreichs, Schlesiens und Mitteldeutschlands. Die Quellen, aus denen der Krieg sich fast zwei Jahrzehnte lang speiste, waren so divers wie die Ursachen des Großen Syrischen Kriegs, dessen Zeugen wir seit Jahren sind. Da gab es religiöse Motive (Hussiten gegen Katholiken, verschiedene hussitische Strömungen gegeneinander), nationale Motive (Tschechen gegen Deutsche), soziale Motive (niederer Adel gegen Hochadel, Landbevölkerung gegen Stadtbevölkerung), und das alles war so unauflöslich verwoben, dass es sich als enorm schwierig erwies, einen Kompromissfrieden zu erreichen. Da militärisch keine Seite die andere vernichten konnte, zog sich der Kampf über 17 lange Jahre. Schließlich näherten sich die Gemäßigten auf beiden Seiten einander an. Die Hussiten mussten aber erst die Radikalen in den eigenen Reihen militärisch besiegen, bevor endlich Frieden möglich wurde. (1419)

Vor 550 Jahren heirateten Ferdinand von Aragón und Isabella von Kastilien; eine dynastische Verbindung, die die beiden größten Königreiche der iberischen Halbinsel vereinte und so die Grundlage für den gesamtspanischen Staat legte. Auch so begründet man Imperien. Katalonien war als Land der Krone Aragón von Anfang an dabei und ist, historisch betrachtet, nicht weniger spanisch als irgendeine andere Region des Reino de España. Wenn katalanische Separatisten sich heute von Madrid trennen wollen, dann möchten sie im Grunde die spanische Nation auflösen. Ob es das wert ist? (1469)

Vor 500 Jahren griff der junge spanische Staat in die Welt aus: König Karl I. wurde als Karl V. zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gewählt. Hernán Cortés eroberte das Aztekenreich. Und Ferdinand Magellan brach im Auftrag der spanischen Krone zu seiner großen Expedition auf, die als Weltumseglung enden sollte. Kaum ein Reich der Menschheitsgeschichte wurde so schnell zum Großreich wie das spanische. In gewissem Sinne war es auch das erfolgreichste Imperium: In fast allen ehemaligen spanischen Kolonien ist Spanisch nicht nur Amts- sondern auch Volkssprache geworden; fast alle bewahren auch bis heute die katholische Religion des imperialen Kernlandes. Die kulturelle Prägung durch das britische oder französische Kolonialreich war nicht annähernd so nachhaltig. (1519)

Vor 450 Jahren schlossen sich Polen und Litauen in der Union von Lublin zu einem Bundesstaat mit gemeinsamem Parlament, gemeinsamen Gesetzen, gemeinsamer Währung und gemeinsamer Amtssprache zusammen. Beide Länder waren schon länger durch eine dynastische Personalunion verbunden: Die Könige von Polen regierten gleichzeitig als Großfürsten in Litauen. Die Staaten waren aber bislang prinzipiell selbständig gewesen. Schwere Niederlagen in einem Krieg gegen Russland führten dazu, dass die litauischen Eliten nach dauerhafter polnischer Unterstützung Umschau hielten. Der Zusammenschluss zu einem gemeinsamen starken Reich erschien als die beste Lösung. Und so sehen wir eine weitere Möglichkeit, ein Reich zu begründen: durch friedliche politische Übereinkunft aufgrund rationaler Nutzenerwägungen in einer gefährlichen internationalen Umgebung. Das erinnert wieder an die Europäische Union. (1569)

Vor 350 Jahren trat der letzte Hansetag zusammen. Im Mittelalter als Handels-, Schutz- und Trutzbündnis der großen Handelsstädte des Nord- und Ostseeraums entstanden, war die Hanse zeitweise die politische Vormacht in Nordeuropa gewesen. Die Städte hatten Kriege geführt und imperiale Politik betrieben – immer nach Maßgabe wirtschaftlicher Interessen. Anders als die Städte der Schweiz oder Norditaliens hatte man aber nie nach territorialem Besitz gestrebt. Als sich die Monarchien Nordeuropas und Norddeutschlands konsolidierten, reichten die begrenzten Machtressourcen der vielen verstreuten Städte nicht mehr aus, um sich gegen Konkurrenten wie die Königreiche Dänemark und Schweden behaupten zu können. Die Hanse ging aber nicht unter, sie schlief ein. In dem Maße wie die Organisation die Wirtschafts- und Sicherheitsbedürfnisse ihrer Mitgliedsstädte nicht mehr befriedigen konnte, orientierten sich die Stadtrepubliken allmählich um und suchten den Schutz adeliger Landesherren, dann den Rückhalt der entstehenden Nationalstaaten. Irgendwann war „Hansestadt‟ nur noch ein nostalgisches Attribut ohne politische Bedeutung. Bündnisse, anders als Staaten, können sich einfach überleben. Soweit ist die NATO noch nicht. (1669)

Vor 300 Jahren vereinigte der Kaiser die Grafschaften Vaduz und Schellenberg zum neuen Fürstentum Liechtenstein. Daraus wurde kein Imperium, aber eine ganz kleine Nation. Herzlichen Glückwunsch zum 300. Geburtstag! (1719)

Vor 200 Jahren schaffte der Bundestag – das war damals die Gesandten-Versammlung des Deutschen Bundes – in Deutschland die Meinungsfreiheit ab. In den sogenannten Karlsbader Beschlüssen führten die deutschen Länder die Pressezensur ein, verboten die Burschenschaften und erlaubten die Entlassung von politisch unliebsamen Professoren. In den absolutistisch verfassten Staaten des 18. Jahrhunderts hatte es noch keine systematische Verfolgung von Regimekritikern gegeben.  Die Französische Revolution aber hatte zu einer allseitigen Radikalisierung geführt. Demokraten fingen an, von der Republik zu träumen – in Frankreich war der König gar hingerichtet worden. Unter dem Druck des napoleonischen Imperialismus hatte es in Deutschland eine Art Abwehrbündnis der monarchischen und der demokratisch gesonnenen Kräfte gegeben. Nun war Napoleon besiegt, und die Rufe nach deutscher Einheit und Demokratie wurden immer lauter. In den Karlsbader Beschlüssen schlugen die Reaktionäre zurück. Demokratische Aktivisten konnten – als „Demagogen“ denunziert – von nun an im Gefängnis landen. Aber wenn man den Deckel auf einen Kessel kochenden Wassers presst, wird der Druck irgendwann zu groß. 29 Jahre hat es gedauert, dann sprengte die Revolution von 1848 die Fesseln der verhassten Knebelgesetze. (1819)

Vor 100 Jahren war die europäische Welt aus den Fugen. Der Erste Weltkrieg war gerade zu Ende gegangen, aber der Friede war nicht gekommen.

In Deutschland herrschte Bürgerkrieg. Viele Arbeiter und linke Aktivisten waren mit dem Verlauf der Revolution, die 1918 den Kaiser gestürzt hatte, nicht zufrieden. Sie wollten mehr: eine sozialistische Räterepublik, die sie für eine Staatsform hielten, in der die Arbeiter das Sagen hätten. Gegen diesen Minderheitstraum schickte eine große Koalition aller anderen politischen Kräfte Soldaten ins Feld. Mehrere Tausend Menschen starben während des Spartakusaufstands und der Märzkämpfe in Berlin, später dann beim Kampf gegen die bayerische Räterepublik in München. Unabhängig von diesen Ereignissen kämpften in Oberschlesien polnische Separatisten für den Anschluss der Region an Polen.

Unterdessen musste die deutsche Regierung den Versailler Vertrag unterzeichnen. Mit seinen Bestimmungen zu Reparationen, Gebietsabtretungen und Demilitarisierung, mit seiner Festschreibung einer angeblich alleinigen deutschen Kriegsschuld verwandelte er Deutschland aus einer politischen und wirtschaftlichen Großmacht in ein politisches und wirtschaftliches Notstandsgebiet. Ein Friedensvertrag, der den nächsten Krieg vorbereitete.

Sechs Wochen später wurde die Weimarer Verfassung verabschiedet, die erste volldemokratische Verfassung für ganz Deutschland, die tatsächlich in Kraft trat. Sie war die Erfüllung aller liberalen demokratischen Träume, die in Deutschland seit den Tagen der Französischen Revolution geträumt worden waren – eigentlich. Aber dieses deutsche Grundgesetz, diese endlich errungene deutsche Republik war kontaminiert durch die elenden Umstände der Zeit. Nicht Bürgerstolz und Bürgerwürde assoziierten die Menschen mit der Demokratie, sondern Niederlage und Not; keinen Aufbruch, sondern ein Ende.
So ging 1919 das Kaiserreich unter, ohne dass etwas Neues sichtbar geworden wäre, auf das die Menschen ihre Hoffnungen und Sehnsüchte hätten richten mögen. Das Trauma des Reichsverlustes konnten später die Nazis ausnutzen. Phantomschmerzen nach dem Ende einer Großmachtstellung sind übrigens nichts Außergewöhnliches. Der Brexit ist eine psychologische Spätfolge des Empire-Verlustes der Briten.

Noch mehr Reiche gingen 1919 zu Grunde oder formierten sich neu. Das ehemalige Zarenreich zerlegte sich in einem brutalen Bürgerkrieg; das wiedererstandene Polen eroberte die alten Ostgebiete der polnisch-litauischen Union zurück; auf dem Gebiet der zerfallenden Donaumonarchie führten Ungarn und Rumänien Krieg um Siebenbürgen, während gleichzeitig tschechische Truppen die Selbstbestimmungsbestrebungen der Sudetendeutschen unterdrückten. In Irland begann der Unabhängigkeitskrieg gegen die Briten, und auch die Ägypter erhoben sich in einer Revolution gegen das britische Empire.

Die Erschütterung des Großen Kriegs hatte die Fundamente der europäischen Reiche auf Dauer beschädigt. Keines der großen Kolonialimperien sollte das Zwanzigste Jahrhundert überdauern. (1919)


Nach dem Katastrophenjahr 1919 noch ein erfreuliches Datum.

Vor 50 Jahren betrat der erste Mensch den Mond. Den vergangenheitsfixierten Deutschen leuchtet das oft nicht ein, aber die Raumfahrt ist die Zukunft der Menschheit. Ohne die Nutzbarmachung des erdnahen Weltalls werden wir die Probleme auf unserem Heimatplaneten langfristig nicht in den Griff bekommen. (1969)
 

So weit der diesjährige Galopp durch vier Jahrtausende berichteter Menschheitsgeschichte. Empires rise, empires fall. Und nun?
Teil II – Die EU: Alte Herausforderungen für ein Imperium neuen Typs
 

  

Noch keine Kommentare

Kommentar schreiben

Die angegebene E-Mail-Adresse wird nicht dargestellt, sondern nur für eventuelle Benachrichtigungen verwendet.

Um maschinelle und automatische Übertragung von Spamkommentaren zu verhindern, bitte die Zeichenfolge im dargestellten Bild in der Eingabemaske eintragen. Nur wenn die Zeichenfolge richtig eingegeben wurde, kann der Kommentar angenommen werden. Bitte beachten Sie, dass Ihr Browser Cookies unterstützen muss, um dieses Verfahren anzuwenden.
CAPTCHA

Standard-Text Smilies wie :-) und ;-) werden zu Bildern konvertiert.
BBCode-Formatierung erlaubt