Auch zu Beginn dieses Jahres wieder der Blick zurück – nicht ins Jahr 2012, sondern in fernere Tiefen der Vergangenheit, der wir alle entstammen. Wir lassen unseren Eimer in diesen dunklen Brunnen herab und wollen schauen, was wir ans Licht ziehen.
Vor 3200 Jahren wurde Ramses III. zum Pharao von Ägypten gekrönt. Mit seinem Namen verbunden ist der Abwehrkampf gegen die sogenannten Seevölker, die, aus dem barbarischen Norden kommend, die Zentren der Zivilisation bedrohten. Mit ihnen betritt der Typus des Barbaren die Bühne unseres kollektiven Gedächtnisses. (1187 vor Christus)
Vor 2700 Jahren wurde der Legende nach Gyges König von Lydien in Kleinasien. Aus kleinen Verhältnissen stammend, gelangte er an den Königshof, verschaffte sich dort Macht und Einfluss, ermordete schließlich an der Spitze einer Söldnertruppe den Herrscher, heiratete dessen Frau und machte sich selbst zum König. Dabei half ihm ein geheimnisvoller Ring, mit dessen Hilfe er sich unsichtbar machen konnte. Es ist die Urgeschichte des Putschisten. Sie ist so archetypisch, dass sie über viele hundert Jahre immer wieder neu erzählt und niedergeschrieben wurde. Auch heute zeigen uns die Nachrichten tagtäglich: Gyges ist unsterblich. Der reale Gyges fiel übrigens später im Kampf gegen die Barbaren. (687 vor Christus)
Vor 2600 Jahren wurde Jerusalem vom Heer des babylonischen Königs Nebukadnezar II. erobert und zerstört. Ein großer Teil der Bevölkerung wurde nach Mesopotamien verschleppt. Die Zerstörung des Tempels und die babylonische Gefangenschaft sind die Urkatastrophe des Judentums, deren Schockwellen sich bis heute nicht verlaufen haben. (587 vor Christus)
Vor 2400 Jahren fiel Rom unter dem Ansturm der Kelten. Am Flüsschen Allia wurde das römische Heer vernichtet, dann belagerten, eroberten und plünderten die Kelten die Stadt. Der ultimative Barbarenalptraum. „Vae Victis!“ – „Wehe den Besiegten!“ Nach dieser Erfahrung reformierten die Römer ihre Armee und unterwarfen später die halbe Welt. (387 vor Christus)
Vor 2300 Jahren errangen die Plebejer, also das einfache Volk Roms, die politische Gleichberechtigung in der römischen Republik – angeblich indem sie geschlossen die Stadt verließen und damit das Wirtschaftsleben zum Stillstand brachten. In den folgenden 23 Jahrhunderten zeigte sich, dass diese Volksrechte immer wieder verteidigt oder neu erstritten werden müssen. (287 vor Christus)
Vor 1700 Jahren wurde im Römischen Reich das sogenannte Toleranzedikt von Mailand verkündet, das allen Menschen im Reich Glaubens- und Religionsfreiheit gewährte. Davon profitierte vor allem die zuvor vielfach diskriminierte Minderheit der Christen. Als das Christentum einige Jahrzehnte später zur Mehrheitsreligion geworden war, schaffte das nun christliche Establishment die religiöse Toleranz wieder ab, machte das Christentum zur Staatsreligion und diskriminierte nun die anderen Religionen. Merke: Macht macht sündig. (313)
Vor 1250 Jahren verweigerte Baiernherzog Tassilo III. dem Frankenkönig Pippin die fällige Heeresfolge in einem Krieg gegen die Aquitanier und versuchte in der Folgezeit, die Eigenständigkeit der Baiern zu behaupten. Er wurde schließlich abgesetzt und ins Kloster gesperrt. Bayern wurde Teil des fränkisch-deutschen Staatsverbands. Wirklich. (763)
Vor 750 Jahren wurde die republikanische Verfassungsordnung San Marinos erstmals in Statuten fixiert. Die älteste Demokratie der Welt nahm Gestalt an. Ein paar Jahre später formulierte Martino da Montecucco das Credo der Sanmarinesen so: „L'uomo nasce libero, e possiede il suo, e di ciò non è tenuto ad alcuno se non al Signore nostro Gesù Cristo – Der Mensch wird frei geboren und besitzt das Seine und ist niemandem verantwortlich als unserem Herrn Jesus Christus.” (1263)
Vor 500 Jahren wurde im Auftrag des spanischen Königs das Requerimiento verfasst, eine ultimative Kapitulations- und Unterwerfungsaufforderung an die Völker Amerikas. Tenor: Entweder ihr werdet sofort Christen, erkennt den Papst an und unterwerft euch dem spanischen König, oder wir fallen über euch her, versklaven euch oder bringen euch gleich alle um – ihr habt die freie Wahl und seid selber schuld, wenn ihr euch falsch entscheidet. Eine einzigartige Mischung aus himmelschreiender Heuchelei, Arroganz, Habsucht, Machtgier und schierer Mordlust. Auch das ist europäische Tradition. (1513)
Vor 350 Jahren wurde der Immerwährende Reichstag in Regensburg begründet, das erste permanent tagende alldeutsche Parlament. Der Reichstag war die Vertretung der Territorien des Reichs und damit der direkte Vorläufer des heutigen Bundesrats. In engem Zusammenwirken mit dem Kaiser bestimmte er die Politik des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation, stellte immer wieder Konsens zwischen den zahllosen deutschen Ländern her und hielt das Staatsoberhaupt von Gottes Gnaden an der kurzen Leine. Sein Erbe beeinflusst den deutschen Parlamentarismus bis heute. (1663)
Vor 250 Jahren ging der Siebenjährige Krieg zu Ende. Nachdem sich Preußen, Österreicher und ihre jeweiligen Verbündeten jahrelang wechselseitig erschossen, erschlagen und im Übrigen völlig ruiniert hatten, hatte man nichts anderes erreicht, als dass die politische Einheit des deutschen Reichs nun vollends perdu war. Dafür hatten Franzosen, Engländer und Russen in Deutschland stark an Einfluss gewonnen. Den Nachruhm des Preußenkönigs Friedrich (des „Großen“), der allein an diesem Desaster schuld war, focht das alles nicht an. Schade: Als Kriegsverbrecher und Totengräber des deutschen Reichs hätte sich der Alte Fritz sein Scherflein Verachtung wohl verdient gehabt. (1763)
Vor 200 Jahren begannen die Befreiungskriege: Die deutschen Staaten erhoben sich gegen die imperiale Herrschaft Napoleons und trieben die französischen Armeen nach schweren Kämpfen aus dem Land. Die Deutschen gewannen Freiheit von äußerer Bedrückung, verloren aber gleichzeitig viele Bürgerfreiheiten, die die Soldaten des revolutionären Frankreich ihnen gebracht hatten. Der Sieg beförderte den deutschen Nationalismus, aber auch die Sehnsucht nach einer gesamtdeutschen Demokratie. Eine schwierige Geschichte. (1813)
Vor 150 Jahren gründete Ferdinand Lassalle den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, eine der beiden Vorgängervereinigungen der SPD. Damit fand die ausgebeutete Arbeiterschicht erstmals Stimme und bald auch Gehör in der deutschen Politik.
Auch zwei andere wichtige Markzeichen der Industrialisierung wurden in diesem Jahr gegründet: Die Unternehmen Hoechst in Höchst und Bayer in Barmen. (1863)
Vor 100 Jahren endete der Erste Balkankrieg, dem gleich darauf der Zweite Balkankrieg folgte. Europa wollte es noch nicht wahrhaben, aber der Kontinent schlitterte auf die Katastrophe zu. Das Staatensystem und die europäischen Gesellschaften waren instabil, eine regionale Explosion konnte eine Kettenreaktion auslösen, und die Lunte brannte längst. (1913)
Vor 50 Jahren wurde der Elysée-Vertrag unterzeichnet, der die deutsch-französische Aussöhnung besiegelte und Grundlage für das Bündnis beider Staaten ist. Die Befriedung des Verhältnisses zwischen Deutschland und Frankreich hatte und hat epochale Bedeutung für Europa, was Teile der politischen Klasse und Teile der Öffentlichkeit in Deutschland nie richtig begriffen haben. (1963)
Stoff zu lernen bietet diese Geschichte, bieten diese Geschichten allemal. Beunruhigend bleibt, dass die politische Entwicklung unserer Welt, wie sie aus diesen Schlaglichtern erhellt, sich als ewiges Auf und Ab zeigt – es gibt keine Fortschritte, auf die nicht Rückschläge folgen. Trotzdem will uns scheinen, dass die Welt von heute dem Menschen und seinen Bedürfnissen mehr entspricht als die Welt zur Zeit des Ramses, mit dem wir diese Erinnerungen begonnen haben.
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