Auch wir waren im Urlaub und haben in Feriengesprächen und –lektüren unseren Horizont zu erweitern gesucht. Befund Nummer eins: Auch andernorts ist die Eurokrise wichtigstes politisches Thema – na gut, das ist nichts Neues.
Interessant und nur scheinbar banal ist aber Befund Nummer zwei: In Ländern wie Frankreich und Italien sind nicht nur politische und wirtschaftliche Eliten, sondern auch ganz normale Bürger viel öfter bereit, Griechenland weiterhin zu unterstützen, als das in Deutschland der Fall ist. Die charakteristische Mischung aus Wut, Wehleidigkeit und Verachtung, die sich in Deutschland ganz oft zeigt, sobald das Gespräch auf das Thema Griechenland kommt, scheint in Frankreich und Italien weitgehend unbekannt zu sein. Dort ist die Sicht eher: „Die Griechen sind in Not, wenn auch nicht unverschuldet. – Wir könnten ihnen helfen, obwohl wir das nicht bräuchten. – Also helfen wir ihnen. – Punktum!“ In Deutschland hieße das wohl: „Die Griechen sind in Not. – Sie sind selber schuld. – Geschieht ihnen recht. – Ist nicht unser Problem.“
Woher rühren diese Unterschiede?
Nein, nein, Franzosen und Italiener wollen die Griechen nicht mit deutschem Geld retten. Gemessen an der jeweiligen Wirtschaftskraft sind Frankreich und Italien genauso an den Euro-Rettungsschirmen und –paketen beteiligt wie Deutschland – eine Tatsache, die übrigens so mancher in Deutschland immer noch nicht begriffen hat. Da insbesondere Italien sehr mit seiner eigenen Verschuldung zu kämpfen hat, setzen sich die Italiener bei der ganzen Retterei ja sogar noch weitaus höheren Risiken aus als die Deutschen – Italien kann es sich noch viel weniger als Deutschland leisten, riesige Summen in Griechenland zu versenken. Dennoch wollen viele Italiener Griechenland weiter unterstützen. Warum? Und warum wollen so viele Deutsche das nicht?
Annäherungen
Wann immer man in Deutschland über Griechenland diskutiert, stets steht explizit oder unausgesprochen der eine Satz im Raum: „Sie sind doch selbst schuld.“ Diese moralische Bewertung finden wir etwa in Frankreich kaum. Für die Deutschen dagegen scheint es im Fall Griechenlands sehr stark um Schuld und Sühne zu gehen; so stark, dass wir uns oft des Verdachts nicht erwehren können, dass hier vielleicht eine alte religiöse Prägung des protestantisch erzogenen Nordeuropas durchschlägt: Unglück ist die Folge von Sünde; wenn es dir schlecht geht, bist du selber schuld; einem Gefallenen umstandslos zu helfen, heißt, Gott ins Handwerk zu pfuschen. Erst einmal muss der Sünder im Staube kriechen und seine Missetaten büßen; dann muss Gott ihm vergeben; und dann erst können wir ihm vielleicht helfen, wenn er sich als geläuterter Mensch erweist. Uns fällt auf, dass auch der Umgang mit Arbeitslosen in Deutschland oft diesem Muster folgt („Wer arbeitslos ist, ist selbst schuld!“). Katholisch geprägte Länder schreiten da vielleicht etwas schneller von der Züchtigung zur Vergebung fort. Könnten solche alten kulturellen Prägungen eine Rolle spielen?
Aber da ist noch etwas anderes.
Solidarische Gefühle bedürfen der Wechselseitigkeit. Menschen fühlen sich nur mit anderen solidarisch, wenn sie glauben: „Wenn wir in Not wären, würden die uns auch helfen.“ Und hier liegt der Hase im Pfeffer. Seit tausend Jahren glauben die Deutschen, von Angehörigen anderer Nationen nicht gemocht zu werden. Dieser Glaube ist ein Wahn, wie heutzutage in internationalen Meinungsumfragen immer wieder gezeigt wird. Er ist aber in Deutschland nicht auszurotten und längst zu einem Teil des nationalen Selbstverständnisses geworden, sozusagen als Selbstmissverständnis. Und so begegnet man in deutschen Diskussionen immer wieder der verstiegenen Behauptung: „Die Anderen wollen nur unser Geld.“ Die grantelnde Brummigkeit und missvergnügte Wehleidigkeit dieses Satzes ergeben nur einen Sinn, wenn man das Unausgesprochene ergänzt: „Die Anderen mögen uns nicht; sie verachten und verrufen uns; jetzt tun sie uns schön, aber sie wollen nur unser Geld.“ So entspringt einem Minderwertigkeitskomplex ein permanentes Sich-ausgenutzt-Fühlen, das Wut, Wehleidigkeit und Verachtung nach sich zieht. Solidarische Gefühle können da nur schwer aufkommen.
Muss man noch extra sagen, dass die Anderen nicht nur unser Geld wollen? Sie wollen unter anderem politische Führung und politische Berechenbarkeit, Sicherheit und Schutz, Respekt und Verständnis, Handel und Geschäfte, Bildung und Berufung, Beethoven und Brecht, Berlin und Neuschwanstein, Bier und Bratwurst, Mercedes, Fußball und Weihnachtsmärkte. Kurz: Zusammenleben und Zusammenarbeit in Europa. Und was wollen wir? Für das Geld, das wir in vergangenen Jahrzehnten in das europäische Projekt gesteckt haben, haben wir jedenfalls sehr viel bekommen: nämlich ebenfalls Sicherheit und Respekt, Handel und Geschäfte – und enorm viel Einfluss.
Wir meinen: Etwas mehr solidarisches Gefühl stünde uns in Deutschland gut zu Gesicht. Der griechische (oder spanische oder...) Normalbürger verdient keine Züchtigung mit dem puritanischen Rohrstock, und niemand nutzt die Deutschen aus. Damit ist noch nichts darüber gesagt, wie wir der Eurokrise am besten begegnen. Um die Rosskur wird zumindest Griechenland wohl nicht herumkommen. Aber wenn die deutsche Öffentlichkeit – und die deutsche Politik – den Griechen mit Mitgefühl und Verständnis statt mit Entrüstung und Rechthaberei begegnen könnten, wäre doch etwas gewonnen. Ein großer Teil der internationalen Beziehungen ist Psychologie – und die Art und Weise, wie wir der heutigen Krise begegnen, wird das politische Klima in Europa auf Jahrzehnte bestimmen.
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