Thorsten Kleinschmidt, 25. September 2018

Was die Politik in endlosen Debatten umtreibt, ist nicht wichtig. Was wichtig ist, wird nicht debattiert. Ist diese Politikergeneration einfach überfordert?


Wir kommen nicht voran in Deutschland und Europa. Es gäbe viel zu tun, aber immer wieder werden neue Säue durchs Dorf getrieben, die dann mühsam eingefangen werden müssen.  „Obergrenze‟, „Kruzifix‟, „Grenzkontrollen‟, „Maaßen‟ und kein Ende. Kein einziges dieser Themen ist wichtig gewesen. Eine Obergrenze für Asylsuchende konnte es nie geben; ob in bayerischen Behörden Kruzifixe oder Wolpertinger an die Wand genagelt werden, ist für die Gewährleistung der Religionsfreiheit unerheblich; besondere Kontrollen ausschließlich an den Grenzübergängen eines einzelnen Bundeslands waren ein Einfall aus Schilda; politisch motivierte Aussagen eines Verfassungsschutzpräsidenten interessieren außerhalb der Berliner Politblase nicht stärker als tendenziöse Meinungsäußerungen der Deutschen Weinkönigin. Und dennoch wurde über alle diese Nicht-Themen wochenlang gestritten. Warum nur?

Zeigt sich etwa jetzt schon die Agonie der Ära Merkel? Dann werden die nächsten Jahre eine einzige Qual. Die Regierung lähmt sich selbst, und das Parlament gleich mit. Natürlich wird regiert, aber die Impulse fehlen. Große Reformen, die wir brauchen, benötigen große öffentliche Unterstützung, und die setzt politische Mobilisierung voraus. Aber nichts wird derzeit mobilisiert außer der politikverdrossenen Erinnerung an die Peinlichkeiten der letzten Regierungsbildung.

Das erbärmliche taktische Hickhack, das sich weitgehend in Rhetorik zu unwichtigen Fragen erschöpft (so dass es nicht einmal unwillentlich die richtigen Debatten auslöst), verstopft die Rezeptoren der Öffentlichkeit für die wichtigen Themen. Daher findet die nötige politische Mobilisierung der Öffentlichkeit für Reformprojekte nicht statt, und deshalb kümmern alle durchaus vorhandenen Erneuerungsansätze vor sich hin, ohne irgendeine Dynamik zu entfalten, die weitere Ideen von außen, aus der Gesellschaft, in die politischen Entscheidungsprozesse hineinsaugen könnte. Und so bleibt es bei phantasielosen Minimalreformen – wenn denn überhaupt etwas vorankommt.  

 

Die Kanzlerin taucht immer wieder ab und scheint zu hoffen, dass die bewährte Strategie des Abwartens und Aussitzens sie auch diesmal alle Krisen überdauern und alle Angriffe überleben lässt. Dabei könnte sie sich täuschen, denn in der Vergangenheit durfte sie immer mit dem Wohlwollen einer großen Mehrheit der Bürger rechnen, die bereit war, ihre Unentschlossenheit im hellsten Licht zu interpretieren. Das ist „ein Stück weit vorbei‟. Der gute Wille scheint stark erodiert, und viele Menschen fragen immer lauter: Was zum Teufel macht eigentlich Angela Merkel? Wie kann sie zulassen, dass politisches Affentheater uns von den drängenden Fragen der Zeit immer wieder ablenkt?

Aber es wäre weit gefehlt, Deutschlands Auf-der-Stelle-Trippeln nur Angela Merkel anzulasten. Diese leidige Unfähigkeit, den wichtigen Dingen den gebührenden Vorrang im politischen Geschäft und in der gesellschaftlichen Debatte einzuräumen, verweist schlechthin auf einen Mangel an Qualität bei Deutschlands politischem Personal.

 

Qualitätsmängel beim politischen Personal?

 

Da gibt es Taktiker zu Hauf, aber keine Strategen; Fiddler, aber keine Staatsmänner und -frauen. Man will ihnen den Ernst und den guten Willen nicht absprechen, wenn man sie hört, aber dieser ernste Wille bezieht sich in erster Linie – nein, gar nicht einmal auf die eigene Karriere, aber auf die eigene Partei, und dabei nicht einmal in erster Linie auf deren erfolgreiches politisches Wirken, sondern auf die Verbesserung der Stimmung an der sogenannten „Basis‟.

Wenn Andrea Nahles, Vorsitzende der SPD, ihre ganze politische Energie darauf verwendet, den Beamten einer nachgeordneten Behörde, und sei er Chef des Verfassungsschutzes, abzusägen, dann betreibt sie SPD-Identitätspolitik („seht Genossen, wir können die Schwarzen in die Enge treiben und sind gar nicht so machtlos, wie ihr meint‟), aber keine Politik für Land und Bürger. Es ist ja bekannt, dass die SPD die größte Selbstfindungsgruppe Deutschlands ist, aber Politik ist mehr als ewige Selbsttherapie.

Und wenn Horst Seehofer, Vorsitzender der CSU, durch Querschüsse aller Art immer wieder die Arbeit seiner eigenen Bundeskanzlerin behindert, dient er weder Deutschland, noch setzt er politische Ziele seiner Partei um. Er macht lediglich Stimmung für die eigene Basis – und für die Basis der AfD. Das ewige Bierzelt, statt einem Fortschreiten zu besseren Lösungen für  gesellschaftliche Probleme.

Dieses fruchtlose Kreisen um den eigenen Nabel ist in den Regierungsparteien überall verbreitet und keinesfalls auf Parteivorsitzende beschränkt. Wille zur Gestaltung dieser Gesellschaft und ihrer Umwelt ist kaum festzustellen. Wo öffentlich geredet wird, geht es meist nur noch um die Demonstration der eigenen Werte oder um die Empörung über die Wertvergessenheit der Anderen. Ziel ist die Pflege des Bildes, das man abgibt – in der Öffentlichkeit und im Spiegel. Ein Eiskunstlauf, bei dem die Parteifreunde und die Demoskopen die Preisrichter stellen. Wenn es aber darum geht, von den emphatisch beschworenen Werten ausgehend konkrete politische Schritte in die Zukunft zu tun, bleibt es bei belangloser Allgemeinplatzpflege.

Nirgendwo wird das so deutlich, wie bei Debatten um internationale Politik. Was unternehmen deutsche Politiker, um den für Europa hochgefährlichen Bürgerkrieg in Syrien einzudämmen? Sie empören sich über das Verhalten der Anderen (Assad-Regime, Russland, Iran, Islamisten, Amerikaner, Türken…), das immer irgendwie böse und wertvergessen ist. Und sie werfen sich in die Brust ob ihrer eigenen deutschen moralischen Überlegenheit, aus der sich glasklar die Notwendigkeit ergibt … nichts zu tun, weil ja alles irgendwie verwerflich ist. Und wenn man sie nach Lösungsansätzen fragt, bekommt man zur Antwort, man müsse halt „reden‟, Gewalt sei halt keine Lösung, die UN solle halt stärker einbezogen werden oder irgendetwas anderes müsse halt endlich getan werden, was doch längst fruchtlos versucht wurde. Außer dem Brüsten mit der eigenen moralischen Vollkommenheit kommt da nichts, absolut nichts.  Ist das die fromme Angst um das eigene Seelenheil? Oder ist es schlicht Unfähigkeit?

Es ist Unfähigkeit. So muss man es nämlich nennen, wenn die Regulation des eigenen politischen Gefühlshaushalts – oder des Gefühlshaushalts der eigenen Partei –  einem Politiker wichtiger ist, als die effektive Regelung von Konflikten und die tatsächliche Lösung von Problemen.  Es ist elementare Voraussetzung jeder guten Politik, über die bloße Artikulation von Befindlichkeiten und über rhetorische identitäre Selbstvergewisserung hinausgehen zu können. Eine Politik war nicht dann erfolgreich, wenn der Politiker oder die Angehörigen seiner Partei oder seiner Klientel sich momentan gut fühlen oder mit sich im Reinen sind. Eine Politik war erfolgreich, wenn man ein Problem in den Griff bekommen hat, ohne ein größeres neues geschaffen zu haben.

Es sollte sich auch niemand damit herausreden, bei diesem identitätsseligen Dauergequatsche ginge es um das edle Ziel, „die Leute dort abzuholen, wo sie sind‟, oder „unsere (demokratischen, konservativen, westlichen, sozialdemokratischen…) Werte‟ zu behaupten. Es ist in Wahrheit durchaus nicht so, dass Wähler anbiederndes Gerede dem entschlossenen politischen Handeln vorzögen. Und auch Werte werden nicht durch Worte verteidigt, sondern durch Taten.

Aber woher kommt diese Unfähigkeit, sich dem Ernst irgendeiner Lage entschlossen zu stellen, statt ins Moralisieren, Therapieren und Schwadronieren zu verfallen?

 

Euphorische Verantwortungslosigkeit als Merkmal einer Generation

 

Kann es ein Generationenphänomen sein? Das Stigma einer Alterskohorte von westdeutschen Politikern, die in Wohlstand und Sicherheit aufwuchsen, und das in einer Ära, in der die wichtigen Entscheidungen – über staatliche Einheit, das Wirtschaftssystem, Krieg und Frieden –  nicht in der Hand deutscher Politiker lagen ? Das Problem einer oder zweier Generationen von Politikern, die in einer Haltung euphorischer Verantwortungslosigkeit sozialisiert wurden?

Die Einen haben sich so herrlich frei und wichtig gefühlt unter Willy Brandt - während die Stabilität von Wirtschaft und internationalem System durch die USA garantiert wurden. Die Anderen empfanden so herzerhebend groß und patriotisch, als Helmut Kohl die deutsche Einheit herbeiführte - während die USA und die Sowjetunion das Ende des Kalten Krieges und die gefährliche Übergangsphase danach managten, und alle Risiken und Nebenwirkungen der deutschen Einheit den Ostdeutschen aufgebürdet wurden.  Kann es sein, dass aus dieser Sozialisation ganz tief im Innern die Haltung erwachsen ist, Handeln – Bewegen, Ändern – sei nicht so wichtig wie das richtige Fühlen und Bekennen? Weil Handeln ja auch unschön sein und dann moralischen Tadel auf sich ziehen kann, man mit den schönen Gefühlen und herzerhebenden Werten aber immer auf der sicheren Seite ist? Veranwortliches Handeln will geübt sein, und es bedarf dazu eines illusionslosen Blickes auf die Wirklichkeit, der im geschützten Raum der alten Bundesrepublik nicht leicht zu lernen war.

 

Probleme ernster nehmen als Befindlichkeiten

 

Ist das zu viel Küchenpsychologie? Wie auch immer. Ich würde gerne von Politikern regiert, die sich nicht deshalb um bezahlbaren Wohnraum für alle kümmern, weil das „sozialdemokratischen Werten‟ entspricht, sondern weil das existenziell wichtig für uns alle ist. Die sich nicht deshalb um eine Kontrolle von Flüchtlingsströmen bemühen, weil das „die Wählerinnen und Wähler erwarten‟, sondern weil es um Menschenleben und um die Stabilität unserer Gesellschaft geht. Die sich nicht deshalb für den Syrienkrieg interessieren, weil er die Gelegenheit zu hochtrabenden Solidaritätsbekundungen und Wertebekenntnissen bietet, sondern weil ein solcher Flächenbrand sich in die Herzen unserer Städte ausbreiten kann.

Anders gesagt: Ich möchte von Politikern regiert werden, die die Probleme ernster nehmen als die Befindlichkeiten ihrer Partei oder die Ängste ihrer ängstlichsten Wähler. Denn wer Probleme ernst nimmt, bekommt sie meistens auch in den Griff.

Wer dagegen seine Partei als gemeinschaftliche Kuschelecke betrachtet, die er mit immer neuen Wertediskursen,  politischen Bekenntnissen, Feel-good-Statements und symbolischen Querulantereien ausdekorieren muss, der sollte sein politisches Engagement besser auf die Teilnahme an Parteitagen oder ähnlichen politischen Gottesdiensten beschränken. Dort kann er oder sie sich an endlosen Identitätsdiskursen das Herz erwärmen. Und richtet keinen Schaden an.

Aber vielleicht brauchen wir wirklich jüngere Politiker.

Bis dahin bleibt uns der Trost, dass deutsche Politiker früher auch nicht immer für ihre zupackende Art berühmt waren. Wie Heinrich Heine 1844 konstatierte:

Franzosen und Russen gehört das Land,
das Meer gehört den Briten,
wir aber besitzen im Luftreich des Traums
die Herrschaft unbestritten.

Bis heute.

 

Thorsten Kleinschmidt, 25. September 2018

 

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