2012 hat begonnen, und angesichts der Flut von Jahresrückblicken fühlten wir uns nicht gedrängt, zum hundertsten Mal den Verlauf von Arabischem Frühling oder Eurokrise widerzukäuen. Stattdessen möchten wir heute etwas weiter zurückschauen und uns anhand runder Jahrestage ein wenig durch die Geschichte unseres Reichskreises hangeln. Wir drehen uns also um und blicken durch unser Zeitenglas...

Vor 2300 Jahren wurde die legendäre Bibliothek von Alexandria gegründet – ein ägyptischer Frühling ganz anderer Art. Sie ist das Urbild aller Tempel der Gelehrsamkeit und steht für jene Hochschätzung des Wissens und Lernens, die für den europäisch-mediterranen Kulturkreis typisch wurde. Im Jahre 288 vor Christus begann unser Weg in die Wissensgesellschaft.

Vor 2000 Jahren wurde Caligula geboren, der später als römischer Kaiser zum Archetypen des wahnsinnigen Gewaltherrschers wurde. Sein Motto „oderint, dum metuant“ – „sollen sie mich hassen, solange sie mich nur fürchten“ – scheint so verblüffend einleuchtend, dass selbst der tumbeste Schlagetot und Menschenschinder es verstehen kann. Und von denen hatten wir in den letzten zwei Jahrtausenden viele. (12)

Vor 1700 Jahren siegte Kaiser Konstantin der Große in der Schlacht an der Milvischen Brücke im Zeichen des Kreuzes über seine Gegner. Die noble Idee des Christentums wurde zur politischen Ideologie. Seither wissen wir, dass auch eine pazifistische, apolitische Lehre ohne weiteres zur Rechtfertigung von Krieg und Machtanspruch umgebogen werden kann. Die Religionen sind gut, die Menschen nicht. (312)

Vor 1100 Jahren wurde Otto der Große geboren, vor 1050 Jahren wurde er zum Kaiser gekrönt. Seine Herrschaft befestigte das junge deutsche Staatswesen und gleichzeitig das übernationale Heilige Römische Reich, das damals noch nicht deutscher Nation war. Das deutsche Staatswesen ist heute eine Bundesrepublik, der ideelle Nachfolger des Reichs nennt sich Europäische Union. (912 und 962)

  
Vor 500 Jahren versuchten die Mitteleuropäer sich an einer Reform des zersplitternden Heiligen Römischen Reichs und teilten es in zehn Reichskreise ein. Der Versuch, das Reich durch Dezentralisierung und Regionalisierung zu stärken, scheiterte letztlich: Gut hundert Jahre später gingen die Reichskreise im Dreißigjährigen Krieg aufeinander los, und die Reichseinheit zerfiel vollends. 2012 steht die Europäische Union vor der gleichen Frage: Zentralisierung oder Regionalisierung? (1512)

Vor 300 Jahren wurde der Preußenkönig Friedrich der Große geboren. Er führte Kriege und philosophische Diskussionen, machte Preußen zur Großmacht und zur Quelle kultureller Inspiration. Für Deutschland wurde er zur patriotischen Identifikationsfigur. Der preußische Staat ist verschwunden, der Traum einer Verbindung von Zivilisation und Macht war in Deutschland lange geächtet, wird heute aber von manchen wieder geträumt. (1712)

Vor 200 Jahren folgten 200.000 deutsche Soldaten dem französischen Kaiser Napoleon in den Feldzug gegen Russland. Nur wenige kamen wieder zurück. Die Katastrophe von Napoleons Grande Armée ist eine der größten Katastrophen auch der deutschen Militärgeschichte. Die deutschen Staaten ließen sich von der damaligen westlichen Führungsmacht, ihrem wohlwollenden Hegemon, in ein militärisches Abenteuer ziehen, bei dem sie weder auf die politischen noch die militärischen Entscheidungen irgendeinen nennenswerten Einfluss hatten. So etwas soll auch heute noch vorkommen. (1812)

Vor 150 Jahren hielt Preußens Ministerpräsident Otto von Bismarck vor dem Abgeordnetenhaus die Rede, in der er behauptete, die großen Fragen der Zeit würden nur „durch Eisen und Blut“ entschieden. Zwei Jahre später führte er Preußen in den Krieg gegen Dänemark, vier Jahre später zog er gegen Österreich und Süddeutschland, acht Jahre später ging es gegen Frankreich. Die preußischen Siege in allen drei Waffengängen führten zur Gründung des modernen deutschen Nationalstaats 1871. Sie führten auch zu der Überschätzung des Militärischen im Allgemeinen und des deutschen Militärs im Besonderen, aufgrund deren Deutschland sich auf zwei katastrophale Weltkriege einließ. (1862)

Vor 100 Jahren begann der Erste Balkankrieg und damit der Reigen der europäischen Katastrophen, der erst in den Neunzigerjahren mit neuen Balkankriegen seinen Abschluss fand. (1912)

Vor 50 Jahren schließlich konnte das geteilte Deutschland nur ohnmächtig zusehen, wie die Sowjetunion und die USA während der Kubakrise die Welt beinahe in einen Atomkrieg zogen. Was uns zeigen könnte, dass Ohnmacht genauso wenig wie Übermacht ein erstrebenswerter Zustand ist. (1962)

    
Stoff genug zu lernen, wie uns scheint. Lernen wir aus der Vergangenheit? Was lernen wir?  Und was wird eine künftige Generation aus den Ereignissen des Jahres 2012 lernen wollen?

    


 

Noch keine Kommentare

Kommentar schreiben

Die angegebene E-Mail-Adresse wird nicht dargestellt, sondern nur für eventuelle Benachrichtigungen verwendet.

Um maschinelle und automatische Übertragung von Spamkommentaren zu verhindern, bitte die Zeichenfolge im dargestellten Bild in der Eingabemaske eintragen. Nur wenn die Zeichenfolge richtig eingegeben wurde, kann der Kommentar angenommen werden. Bitte beachten Sie, dass Ihr Browser Cookies unterstützen muss, um dieses Verfahren anzuwenden.
CAPTCHA

Standard-Text Smilies wie :-) und ;-) werden zu Bildern konvertiert.
BBCode-Formatierung erlaubt