Ferdinand Brod: Der MittelstandDeutschland ist eine Mittelstandsgesellschaft. Die Mittelschicht, wie wir heute meist sagen, nachdem Unternehmerverbände den Begriff „Mittelstand“ gekapert haben; die Mittelschicht also bestimmt unsere gesellschaftlichen Ideale. Werte wie Fleiß und Tüchtigkeit, Bildung und Bürgersinn, Sicherheit und Solidarität, Wohlstand und Selbstbestimmung entstammen weder der Welt der Oberen Zehntausend noch den Milieus der ungelernten Arbeit. In diesen Werten haben sich die Deutschen über die letzten zwei Jahrhunderte nach und nach gefunden. Nicht Bismarck, sondern der Mittelstand hat die Nation geeinigt.

Am Tag der deutschen Einheit ein frühes Lob des Mittelstandes aus dem Munde von Adolph Kolping, einem der Wegbereiter der Katholischen Soziallehre und damit des Sozialstaatsgedankens, der heuer vor 150 Jahren starb.

Im Juni 1858 hielt Kolping eine Ansprache zur Jubiläumsfeier des katholischen Gesellen-Vereins in München:

„... Der Verein gilt dem Handwerksstande, die Sorge, die wir ihm antun, ist die Sorge um den Mittelstand, und ob es ihm gut gehe oder nicht, ist keine so leichte und oberflächliche Sache als Manche glauben. Besehn wir uns, meine Freunde! den Mittelstand nur etwas genauer, gehen wir einmal durch die Stadt, oder nehmen wir auf unserm Zimmer das Adressbuch zur Hand, zählen wir einmal die Leute, sondieren wir ein wenig die Stände, und wir werden merken, dass weitaus der größte Teil arbeitet und arbeiten muss, dass dieser Teil die Stadt so recht eigentlich bevölkert. Wenn ihr sie auch nicht täglich auf der Straße seht, so füllen sie doch die Häuser, die Werkstätten, und sie halten sichtbarlich das Getrieb des bürgerlichen Lebens im Gang. Sie also bilden die große breite Unterlage des Volkes, sind eigentlich Volk im engern Sinne des Wortes. - Wozu mag Gott der Herr, der sicherlich in der Welt die Stände geordnet hat, jedem Menschen – vergesst nicht meine jungen Freunde! - seinen Posten angewiesen hat, denn wo jeder steht, ist wahrlich nicht seine freie Wahl allein, sondern offenbar eine Fügung von Gott – wozu mag er den Mittelstand bestimmt haben?

   So lange ich mich mit Handwerksleuten befasse, und das ist so ziemlich die ganze Zeit meines Lebens; so lange ich mich nur um sie gekümmert habe, ist es mir immer klarer geworden, dass der Mittelstand in den Städten eine außerordentlich wichtige Aufgabe habe, im Einzelnen und im Ganzen. 

Ihm ist zunächst so recht eigentlich das Wort des Herrn Eigentum geworden: „Du sollst im Schweiße deines Angesichtes dein Brot verdienen.“ Ich meine in den Städten ist ihm die Mühe des Lebens dadurch anheimgegeben. Was hat Gott der Herr für den sauern Schweiß dem Menschen wieder als eine Wohltat an die Hand gegeben? Ich will's mit ein paar Worten sagen und überlasse es Euerm Nachdenken, ob ich nicht dabei den rechten Fleck getroffen. Weil die Leute arbeiten, weil sie zu nutzlosen Spekulationen nicht Zeit und Gelegenheit haben, weil die Theorie der Schule sie nicht leicht abführen kann, sondern mit seinen einfachen Wahrheiten, - wenn Wahrheiten von Jugend an genährt wurden, - so recht eigentlich der Katechismus ihr Lebenseigentum geworden ist, der nur täglich in Ausübung kommen soll: darum ist in der arbeitenden Bürgerschaft, wenn sie gesund ist, der sogenannte gesunde Menschenverstand daheim, darum ist der mittlere arbeitende Bürgerstand der Bewahrer der guten Sitte, des christlichen Hausbrauches, der häuslichen Ehre, der Tüchtigkeit des Charakters. Solch ein rechter Bürger ist auf seinem Fleck, (versteht sich für seine Bildungsstufe,) auch ein ganzer Mann. Ihn umkreist zwar nur ein kleiner Wirkzirkel, aber weil ihm die Kräfte dazu so reich gegeben sind, so füllt er ihn auch aus, und darum, weil in diesem Stande die gesunden fünf Sinne, der gesunde Menschenverstand, die einfache Wahrheit Fleisch und Blut annehmen muss, darum ist er auch der Wahrer der Stärke, darum ein Bollwerk gegen die Zerstörung von Unten, gegen die bittere Armut, der er tröstend zunächst steht.

Meine Herren! Wir können so christlich wohltätig sein in den höheren Ständen als wir wollen, wir können gar nicht so viel tun, als der Mittelstand wirklich tut und tun kann, nicht mit Geld, aber mit persönlichen Opfern. Wie leicht ist der wahre Mittelstand zum Wohltun geneigt mit kleiner Gabe, aber mit rechtem Herzen! - Ich sage das nicht zum Vorwurf für die höheren Stände; diese sind anders gestellt, haben andere Aufgaben in der Welt, sie sind nicht so nahe gerückt den Armen. - Aber der Mittelstand ist ihnen zunächst gesetzt, er muss helfen die klaffende Wunde reinigen und heilen, und nach oben hin, wenn von dort schlechte Beispiele kommen, soll der Bürgerstand fest sein, sie nicht in sein Haus dringen lassen, und den verführerischen Lehren von Außen sein Ohr verschließen.

Wenn der Bürgerstand diese Aufgabe von Gott in den Händen hat und hält, o dann, meine Freunde! bin ich sicher, dann steht die Stadt und das Land lang gut, und dann fürchtet doch um des Himmels Willen nichts von der Zukunft. Glaubt nur ja nicht, dass solange der Bürgerstand seine wahre Aufgabe des Betens und Arbeitens erfüllt, die Armut uns drücken werde, solange gebetet wird und gearbeitet, ist noch nie das Brot ausgegangen. Nur dann, wenn man nur arbeitet und nicht betet, dann zerbröckelt das Brot in der Hand und nährt nicht mehr den Mann; denn beim Beten und Arbeiten ist Gottes Segen. Aber wenn man Fabriken baut, Sonn- und Werktage durcheinander wirft, den Leuten den Katechismus aus der Hand reißt, dann klagt nicht, wenn Not und Armut als Fluch in die Welt kommt. Wenn der Mittelstand betet und arbeitet, Genügsamkeit und Zufriedenheit in seinen Gliedern, auf seinem eigenen Herde thronet, dann fürchtet auch nichts von falschen Lehrern unserer Zeit, von den Hirngespinsten solcher, die die Welt umkehren möchten. Meine Freunde! Hat der Bürgerstand Treue und Glauben im Herzen, dann reden jene sich zu Tode; denn die schwätzen, tun nichts, und an dem gesunden, kräftigen Sinn der Bürgerschaft sollen sich die Wellen der Revolution brechen, und wenn sie sich nicht daran brechen, so ist das Unglück unaufhaltsam da! (…)

Meine Freunde! So soll es sein, das ist die Aufgabe der Bürgerschaft, des arbeitenden Standes, der nicht arbeiten soll, um hiedurch bloß zu leben!“


Also schon im Jahre 1858 war zu sehen:

  • Der Mittelstand schafft den Wohlstand der Gesellschaft und teilt seinen Wohlstand mit den Armen, was die „höheren Stände“ in diesem Maße nicht tun.

  • Er bewahrt das Werte-Fundament der Gesellschaft und wehrt mit gesundem Menschenverstand verderbliche Ideologien ab, gleich, ob sie von unten kommen (Umsturz und Revolution) oder von oben („schlechte Beispiele“ und „verführerische Lehren“).


Das ist auch heute noch so. Über Jahrzehnte und Jahrhunderte näherten sich die Wertvorstellungen von Adel und Klerus einerseits, Bauern und Arbeitern andererseits immer mehr den Lebensidealen dieser goldenen gesellschaftlichen Mitte an. So konnte allmählich ein „Modell Deutschland“ entstehen, in dem heute weder Klassenkampfideen noch regionale Sonderkulturen eine nennenswerte Rolle spielen.

Die Zukunft dieses Modells ist durch wieder wachsende Ungleichheiten bedroht: der Ungleichheit zwischen globalisierten Wirtschaftseliten und der sesshaften Mehrheit der Bevölkerung; der Ungleichheit zwischen materiell Abgesicherten und vom Absturz Bedrohten; der Ungleichheit zwischen Einheimischen und Einwanderern.

Andererseits ist es gerade die Anziehungskraft dieses Mittelstandsdeutschlands, die Menschen aus anderen Weltregionen zu uns kommen lässt; des Deutschlands, das für Wohlstand, Sicherheit und Solidarität, für Selbstbestimmung, Bürgersinn und Bildung, für Tüchtigkeit und Tatendrang steht. Und während oben Wirtschaftsbosse und solche, die es gerne wären, sich geistig aus dem Mittelstand verabschieden, träumen unten Einwanderer davon, diesem Mittelstand zuzugehören.

Zugespitzt könnte man sagen: Das Versprechen „Mittelstand für Alle!“ ist Deutschlands nationale Idee. Geht es der Mittelschicht schlecht, ist es mit der deutschen Einheit nicht mehr weit her – dann zerfällt das Land in Klassen, in Regionen, in Milieus und in Volksgruppen.



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Adolph Kolping übrigens wäre sicher eine eigene Würdigung wert. Er steht für einen fortschrittlichen, volksnahen Katholizismus, der Deutschland viel stärker geprägt hat, als Protestanten und Atheisten so denken.

Adolph Kolping: Ansprache an die versammelten Präsides der bayerischen Gesellenvereine, sowie an die Gönner und Freunde derselben, und auch an alle Gesellen, gehalten am Sonntag den 13. Juni 1858 im Saale des Bürger-Vereines. In: Festrede des hochwürdigsten Abtes bei St. Bonifazius H.H. Bonifaz Haneberg O.S.B. und zwei Ansprachen des Gründers der katholischen Gesellen-Vereine in Deutschland H.H. Adolph Kolping, Domvikar in Köln, gehalten bei Gelegenheit der Stiftungs-Jahresfeier des katholischen Gesellen-Vereines in München am 13. und 14. Juni 1858. München o.J. (1858) S. 23-26.
(Text bei der Bayerischen Staatsbibliothek)

Bild: Ferdinand Brod: Der Mittelstand. 1925. (Wikimedia Commons.)


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