In diesen Tagen vor 350 Jahren, am 20. Januar 1663, trat der später so genannte Immerwährende Reichstag in Regensburg zusammen. Damit hatte Deutschland erstmals ein ständig tagendes Parlament. Zuvor waren Reichstage nur fallweise vom Kaiser einberufen worden, wenn aus dessen Sicht wichtige Fragen anstanden – etwa wenn er Truppen oder Geld brauchte. Nun aber wurde die Versammlung auf Dauer gestellt.
Der Reichstag war die Vertretung der Stände des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation, d.h. die Vertretung der deutschen Länder und Ländchen. Damit war der Reichstag der älteste Vorgänger des heutigen Bundesrats.
Nicht alle selbständigen Territorien des Reichs hatten allerdings Sitz und Stimme. Ausgeschlossen waren die winzigen Gebietchen der Reichsritter und die noch kleineren unabhängigen Reichsdörfer. Aber auch ohne diese war immer noch eine bunte Vielfalt von Ländern vertreten: 1792 saßen im Reichstag 8 Kurfürsten, 77 weitere geistliche Fürsten, 158 weitere weltliche Fürsten und 51 freie Reichsstädte. Da gab es Erzbischöfe, Bischöfe, Äbte, Prälaten, Könige, Herzöge, Fürsten, Grafen, Markgrafen, Landgrafen... Die Stimmen der Reichsstände waren nicht gleichwertig; viele der kleinen Fürstentümer teilten sich ihre Stimme mit anderen Kleinterritorien – so verfügten etwa die 24 schwäbischen Grafen zusammen nur über eine einzige Stimme, über deren Abgabe sie sich vor der Hauptabstimmung untereinander einig werden mussten.
Die Beschlussfassung im Reichstag war kompliziert und langwierig. Die Stände stimmten zunächst getrennt nach Kurfürsten, sonstigen Fürsten und Reichsstädten ab. Anschließend mussten die unterschiedlichen Voten in einem Kompromissverfahren angeglichen werden.
Prinzipiell wurde mit Mehrheit entschieden. Aus dem Dreißigjährigen Krieg hatte man aber die Lehre gezogen, dass in Religionsfragen immer der Kompromiss zwischen den Konfessionen gesucht werden sollte. Wann immer es um Glaubens- und Kirchenangelegenheiten ging, wurde der Reichstag daher nach Katholiken und Protestanten getrennt. Nur wenn beide Corpora zustimmten, galt ein Beschluss als gefasst. Auf diese Weise gelang es dem Reichstag, die Religionsfrage in Deutschland dauerhaft politisch zu entschärfen.
Der Reichstag konnte über alle Angelegenheiten entscheiden, die das Reich als Ganzes angingen. Er erklärte zum Beispiel den Krieg und stellte Truppen auf, regelte das Geld- und Münzwesen, schuf wirtschaftspolitische Rahmengesetze, reformierte die Justiz und wurde sogar sozialpolitisch aktiv.
Initiativen zu Gesetzen oder Beschlüssen gingen in der Regel vom Kaiser aus. Aber auch einzelne Reichsstände und sogar Privatleute konnten Themen zur Beratung vorschlagen.
Die Beschlüsse des Reichstags mussten vom Kaiser ratifiziert werden. Das Staatsoberhaupt hatte so gleichsam das letzte Wort, war aber nichtsdestotrotz auf den Reichstag angewiesen, wenn es aktiv Reichspolitik betreiben wollte. Die Stände mussten nämlich das Geld für diese Politik aufbringen, und das bedeutete nicht nur, dass sie die Steuern im Parlament bewilligen mussten – nein: sie sammelten das Geld auch ein. Anders als in zentralistischen Staaten wie Frankreich hatte der Kaiser keine landesweite Exekutivverwaltung, die etwa Steuern hätte eintreiben können. Dazu war er völlig auf die Länder angewiesen. Das Staatsoberhaupt hatte also allen Grund, die Länderversammlung, den Reichstag, pfleglich und respektvoll zu behandeln. Umgekehrt bedurfte auch der Reichstag immer der Mitwirkung des Kaisers, wenn er politisch etwas bewegen wollte. Der Monarch konnte nicht abgesetzt werden und war außerdem selbst Fürst eines mächtigen Territoriums; im Falle der Habsburger Kaiser war das Österreich mit all seinen Nebenlanden.
So kontrollierten sich Kaiser und Reichstag gegenseitig. Die zeitgenössische Staatsrechtslehre betrachtete beide gemeinsam als Träger der Souveränität. Zum Ausdruck kam dies in der stehenden Formel „Kaiser und Reich“.
Die durch den Reichstag verkörperte Verfassung des alten deutschen Reichs vollbrachte nach dem Dreißigjährigen Krieg zwei bedeutende Leistungen. Sie verhinderte zum Einen die Entstehung eines absolutistischen Zentralismus – nie gelang es einer Region Deutschlands, sich zum Hegemon über alle anderen aufzuschwingen. Zum Anderen etablierte sie ein lange Zeit funktionierendes System kollektiver Sicherheit, in dem die zahlreichen Konflikte zwischen den äußerst verschiedenartigen deutschen Territorien, die sich kurz zuvor bis aufs Blut bekämpft hatten, in der Kompromissmaschine der Institutionen erstaunlich friedlich geregelt werden konnten.
Die komplizierte Verschränkung der Institutionen und Machtverhältnisse in einem Mehrebenensystem, die vorstehend noch stark vereinfacht beschrieben ist, erinnert in manchem an die Europäische Union. Und leider krankte die Verfassung des Alten Reichs auch an ähnlichen Übeln wie das Europa der Gegenwart. Sie war kompliziert, unübersichtlich und für Außenstehende schwer verständlich. Entscheidungsprozesse waren langwierig und Beschlüsse wurden oft nur unvollkommen umgesetzt. So war die eigentliche politische Dynamik nicht auf der Ebene des Reiches, sondern auf der der Länder anzutreffen. Ehrgeizige Landespolitiker wie Friedrich II. von Preußen waren am großen Ganzen nicht interessiert und nutzten die Schwächen der Reichsverfassung skrupellos zur Beförderung ihrer Landesinteressen aus – eine naive öffentliche Meinung hatten sie dabei oft auf ihrer Seite. Die Verfassung des Reiches wurde mit Kavalleriestiefeln getreten, alle Reformansätze wurden abgeblockt. Gegenüber den mächtigsten Landesfürsten hatte das Reich wenig Handhabe. Wenn man sich dann dazu aufraffte, die Reichsordnung gegen gewaltbereite Verfassungsbrecher zu verteidigen, verbündeten diese sich mit ausländischen Mächten und verstrickten ganz Deutschland in einen großen Krieg.
Und so fiel das Verfassungsgebäude des Reichs schließlich Anfang des 19. Jahrhunderts zusammen, als Napoleon mit stählernem Handschuh gegen die Tür hämmerte. Die Verächter des Reichs und die preußisch gesinnte deutsche Nationalgeschichtsschreibung zogen daraus selbstgerecht den Schluss, dass Konzept und Ausführung dieses Gebäudes von Grund auf verfehlt waren. Was sie geflissentlich verschwiegen: Der Bau wäre wohl kaum so leicht gefallen, hätten gedankenlose oder übelwollende Bewohner nicht zuvor von innen tragende Balken zur eigenen Verwendung herausgebrochen. Keine politische Ordnung aber kann überleben ohne den Willen der Menschen, sie zu erhalten.
Aber manchmal ist die Geschichte gerecht. Im August 1806 löste der letzte Kaiser Franz II. auf französischen Druck das Reich auf – im Oktober 1806 wurde das Preußen, das auf Kosten des Reichs groß geworden war, von französischen Armeen in Stücke geschlagen.
Wie dem auch sei: 350 Jahre Parlament – fast ohne Unterbrechungen. Nach dem Ende von Reich und Reichstag 1806 wurde schon 1815 mit der Bundesversammlung in Frankfurt an die Tradition des Reichstags angeknüpft. 1866 wurde die Bundesversammlung durch den Bundesrat des Norddeutschen Bundes abgelöst, ab 1871 war dies der Bundesrat im zweiten Kaiserreich. In der Weimarer Republik wurde der Bundesrat 1919 durch den Reichsrat ersetzt. Dieser wurde 1934 von den Nazis aufgelöst. Mit dem Grundgesetz wurde 1949 die Länderkammer als Bundesrat neu eingesetzt. Eine Länderkammer der DDR gab es nur von 1949-1958.
Die Ländervertretungen in der deutschen Parlamentsgeschichte
1663-1806 Reichstag (Regensburg)
1815-1866 Bundesversammlung (Frankfurt)
1866-1919 Bundesrat (Berlin)
1919-1934 Reichsrat (Berlin)
seit 1949 Bundesrat (Bonn, dann Berlin)
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