Die heutigen politischen und sozialen Zustände sind im höchsten Grade ungerecht und daher mit der größten Energie zu bekämpfen.

Eisenacher Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, 1869


SPDBesitz und Lebenschancen sind in der Gesellschaft ungerecht verteilt. Das war schon immer so und liegt in der Natur der Dinge. Der Mensch nun wäre aber nicht der Mensch, wenn er mit der Natur der Dinge sich abzufinden bereit wäre. Deshalb gibt es seit 150 Jahren die SPD.

Tatsächlich korrigiert der Mensch ja unaufhörlich die rohe Natur: Die natürliche Kindersterblichkeit von über 50% haben wir auf unter 1% gedrückt, das natürliche Kriegertum des Homo sapiens sapiens haben wir im Rechtsstaat befriedet oder auf den Sportplatz gebannt. Und auch der natürlichen Ungerechtigkeit in der Verteilung von Lebenschancen haben wir seit langem den Kampf angesagt. Aus gutem Grund: Diese Ungerechtigkeit erschwert nicht nur das Lebensglück des Einzelnen, sondern kann auch Hass und Gewalt erzeugen, bis hin zu Terror, Revolution und Krieg.

Seit dem 19. Jahrhundert machte die Sozialdemokratische Partei Deutschlands wie keine andere politische Vereinigung die Bekämpfung der sozialen Ungerechtigkeit zu ihrer wichtigsten Aufgabe. Deshalb wurde sie zur Volkspartei. Diese Partei nun hat bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt nicht einmal mehr 13% der Stimmen geholt, vorläufiger Tiefpunkt eines schon lange währenden Sinkflugs. Dabei ist das Thema Soziale Gerechtigkeit so wichtig wie eh und je: Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich im letzten Vierteljahrhundert geöffnet statt geschlossen, Arbeitsverhältnisse werden prekärer statt sicherer, und statt im Alter die Früchte ihrer Arbeit genießen zu können, müssen viele Menschen sich auf ein Leben in Armut und Ohnmacht einstellen.

Was ist nur passiert mit der SPD?

Die Sozialdemokratie hat ihren inneren Kompass verloren. Von der Gegenwart überfordert, klammert sie sich an Rezepte der Vergangenheit. Nostalgisch pflegt sie ihr Selbstbild als „Arbeiterpartei“ und begreift nicht, dass eine Arbeiterpartei heute niemand mehr braucht. Sie weiß nicht, was sie für die Zukunft erstreben soll, und sehnt sich zurück in die gute alte Zeit der Siebzigerjahre. Die SPD ist die älteste Partei Deutschlands. Und in diesen Tagen wirkt sie auch so. Es ist ein Jammer.


1. Die Harz-Reformen haben der SPD die Lust auf Zukunft genommen. Sie waren richtig, aber unvollständig. Die Agenda 2010 hat in einer schwierigen Ausnahmesituation, die durch die deutsche Einheit verursacht war, die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft gesichert. Das war gut so, denn bevor man an die gerechte Verteilung von Geldern und Gütern denkt, muss man diese zuerst einmal erwirtschaften. Nach diesem ersten Schritt - Sicherung der Wertschöpfungsbasis unter zeitweiliger Inkaufnahme steigender Ungleichheit - hätte der zweite kommen müssen: Rückverteilung des neu erwirtschafteten Wohlstands durch einen nachhaltigen Umbau des Sozialstaats. Hätte die SPD das Land konsequent weiterreformiert, könnten wir heute beruhigt in die Zukunft blicken. Aber die Partei hat ihre eigenen Reformen nicht verstanden, suhlt sich in Zerknirschung und hat jeden Mut zum weiteren Umbau des Landes verloren. Sie traut sich nichts mehr zu.


2. Die SPD wird zur Klientelpartei, zur FDP für Facharbeiter. In ihrer Hilflosigkeit klammert sich die SPD an ihren Mythos als „Arbeiterpartei“ und sucht die Rückendeckung der Gewerkschaften. Ergebnis sind Projekte wie die „Rente mit 63“ - Geschenke für wohlsituierte ältere Facharbeiter, die von allen Versicherten bezahlt werden müssen, auch von jenen, denen es viel schlechter geht als der Gewerkschaftsklientel. Auch die nun diskutierte sogenannte Lebensleistungsrente hat wenig mit sozialer Gerechtigkeit zu tun, stellen die Konditionen doch sicher, dass wirklich Bedürftige von ihr nicht profitieren können. Was die SPD derzeit vertritt, ist Umverteilung in die Mitte – von oben, aber auch von unten.

Die Partei versteht nicht, dass die „kleinen Leute", für die sie doch einstehen möchte, längst nicht mehr in der klassischen Arbeiterschaft zu finden sind, die mittlerweile den Aufstieg in die Mittelschicht geschafft hat. „Unten" - da sind heute kleine Selbständige, Ein-Personen-Unternehmen mit 60-Stunden-Woche und 900€ netto; alleinerziehende Mütter,  Leih- und Hilfsarbeiter mit gebrochenen Erwerbsbiographien und null Zukunftssicherheit, Einwanderer ohne Arbeitserlaubnis und die wieder wachsende Zahl von Armutsrentnern. Für diese Menschen muss sich interessieren, wer über soziale Gerechtigkeit spricht. Eine Facharbeiterpartei dagegen ist so überflüssig wie eine eine Beamtenpartei.


3. Die SPD hat sich daran gewöhnt, Systempartei zu sein. Die älteren Herrschaften, aus denen die Partei größtenteils besteht, können sich Maßnahmen außerhalb der hergebrachten Strukturen des Sozialstaats, an denen die Sozialdemokraten hundert Jahre lang mitgebaut haben, nur schwer vorstellen. Diese Strukturen stoßen aber heute an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Rentensystem, Gesundheitssystem, staatliche Sozialleistungen - die Pfeiler der sozialen Sicherheit sind in ihrer jetzigen Form nicht mehr zukunftssicher. Wir brauchen eher über kurz als über lang einen kompletten Umbau des Sozialstaats. Aber die alte Tante SPD hängt am Alten und übertüncht die Risse im Gebäude ein ums andere Mal liebevoll mit roter Farbe. Pläne für  einen Neubau oder zumindest eine Generalsanierung des Sozialsystems findet man heute bei den Grünen oder bei der Linken. Basis-Rente für alle? Steuerfinanziertes Gesundheitssystem? Negative Einkommensteuer? Bedingungsloses Grundeinkommen? „Kennen wir nicht, brauchen wir nicht, klappt sowieso nicht."


Diese geistige Vergreisung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ist ein sehr beunruhigendes Schauspiel. Denn wir brauchen die SPD!

Wer, wenn nicht die Sozialdemokraten, kann die überfälligen Reformen in Deutschland anschieben? Die Linke, mit ihrem Ressentiment gegen die bürgerliche Demokratie und ihrer provinziellen Blindheit für außenpolitische Zusammenhänge? Die Grünen, mit ihrem Unverständnis für nichtakademische Lebenswelten? Die Union, der eine Angela Merkel schon viel zu progressiv ist? Nein, ohne die SPD wird es nicht gehen.

Also, liebe Sozialdemokraten, besinnt euch: Ihr seid in Deutschland DIE Reformpartei schlechthin. Ihr habt euch in den letzten 150 Jahren immer wieder neu erfunden; wart subversive Umstürzler, staatstragende Patrioten, antifaschistische Untergrundkämpfer, reformistische Nationalmarxisten, linksliberale Volkspartei und unter Schröder sogar Wirtschaftspartei. Ihr schafft es auch jetzt, aber dazu müsst ihr eurem Herzen einen Stoß geben.

Bitte versucht nicht länger, eine „Arbeiterpartei“ zu sein! Eine solche wird nicht mehr gebraucht.  Hört auf, euch für die Schröder'schen Reformen selbst zu verachten! Die Reformen waren richtig, ihr habt nur zu früh mit dem Reformieren aufgehört. Die Agenda 2010 hat in einem zusammenbrechenden System ein paar Notreparaturen umgesetzt und dadurch wichtige Zeit gewonnen. Jetzt muss das Sozialsystem generalsaniert oder völlig neu aufgebaut werden.

Das könnte euer Thema für die nächsten 25 Jahre sein – es ist unser aller Thema: Wie bauen wir ein nachhaltig funktionierendes Sozialsystem, das unter den Bedingungen der Globalisierung, der alternden Gesellschaft, aber auch der neuen Einwanderungsschübe einen Zustand gewährleistet, der von einer breiten Bevölkerungsmehrheit als „sozial gerecht“ empfunden wird? Uns stehen epochale Reformen bevor, in ihrer Tragweite vergleichbar mit Bismarcks Begründung des Sozialstaats im 19. Jahrhundert. Dafür seid ihr die richtige Partei. Eigentlich.

 

 

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