Vor 400 Jahren wurde die Fruchtbringende Gesellschaft gegründet
Thorsten Kleinschmidt, 22. August 2017
Es ist Wahlkampf in Deutschland. Zeit für eine 10-Minuten-Andacht über politische Kommunikation.
Was ist eine Nation?
Eine Nation ist eine Kommunikationsgemeinschaft, in der die Kommunikation eine solche Qualität erreicht, dass unter den Gemeinschaftsangehörigen ein Zusammengehörigkeitsgefühl eines solchen Niveaus erzeugt wird, das es ermöglicht, im großen Maßstab existenzielle Solidarität zu organisieren.
Oha. Auf den Einleitungssatz bin ich nicht stolz. Also nochmal. Merkmal der Nation ist die Bereitschaft der Menschen, einander in existenziellen Lebenssituationen kollektiv beizustehen. Die Angehörigen einer Nation garantieren einander z.B. den Lebensunterhalt durch ein gemeinsam geschaffenes Sozialsystem; sie bezahlen einander die medizinische Behandlung über eine gemeinsam finanzierte Krankenversicherung; manchmal ziehen sie sogar für- und miteinander in den Krieg. Die Solidarität also macht die Nation aus.
Damit diese geleistet wird, muss zuvor schon ein ganz bestimmtes Zusammengehörigkeitsgefühl da sein – deshalb stehen z.B. Menschen in Bayern solidarisch für Menschen in Sachsen ein, nicht aber für Menschen in Neuguinea.
Wodurch nun entsteht dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit? Durch Kommunikation einer bestimmten Intensität und Qualität. Wo Menschen über lange Zeiträume intensiv kommunizieren und interagieren, bilden sich gemeinsame Vorstellungen von Werten und Interessen aus, und die Menschen entwickeln das Gefühl, einander auf bestimmte Weise ähnlich zu sein. Wo das nicht oder in geringerem Maße geschieht, etwa weil Kommunikation durch Sprachgrenzen, geographische Entfernung oder gegensätzliche Traditionen behindert wird, entsteht ein solches Zusammengehörigkeitsgefühl nicht und in der Folge auch keine vergleichbare Bereitschaft zur Solidarität. Deshalb entwickeln sich Nationen so häufig entlang von Sprachgrenzen, innerhalb klar umgrenzter geographischer Räume oder auf der Grundlage von in der Region einzigartigen historischen Erfahrungen.
Noch vor der Solidarität schafft also die Kommunikation die Nation.
Erziehung zur zivilen Kommunikation
Was aber macht die besondere Qualität einer solchen nationsbegründenden und -erhaltenden Kommunikation aus, jenseits der bloßen Häufigkeit der einzelnen kommunikativen Akte? Kommunikation führt ja keineswegs automatisch zur Solidarität. Auch gesellschaftliche Spaltungen bis hin zum Bürgerkrieg manifestieren sich schließlich in Kommunikation.
Und damit sind wir beim heutigen Tag. Denn heute vor 400 Jahren, am 24. August 1617, wurde in Weimar die Fruchtbringende Gesellschaft gegründet, ein recht elitärer Verein von Herrschern, Politikern, Gelehrten und Schriftstellern, der gemeinhin als Sprachgesellschaft tituliert wird und doch mehr war. Die Fruchtbringende Gesellschaft hatte sich nicht weniger zum Ziel gesetzt als die Erziehung der Deutschen zu einer Form der Kommunikation, die für alle „fruchtbringend“ sein sollte. Ihre Gründer waren davon überzeugt, dass die sprachlichen Umgangsformen der Deutschen der Formung und Zivilisierung bedürften; und dass diese Zivilisierung des gesellschaftlichen Gesprächs die Voraussetzung für die Befriedung der innerdeutschen Gegensätze im Zeitalter der Glaubensspaltung sei.
Gütig, fröhlich, lustig und … erträglich
Das ist ein aktuelles Thema. Denn in einer Zeit, in der Politiker schon mal als Volksverräter beschimpft und mit dem Tode bedroht werden; in der anders denkenden Mitbürgern via Internet der Hass aufs Unflätigste ins Gesicht gekippt wird, nicht ohne die Regeln der deutschen Grammatik, Stilistik und Orthographie mit durchaus charakteristischer Verachtung zu behandeln – in einer solchen Zeit dürfen wir uns wieder wünschen, was schon im Jahr 1617 wünschenswert schien:
„Erstlich, dass sich ein jedweder in dieser Gesellschaft ehrbar, nütz- und ergötzlich bezeigen und also überall handeln solle, bei Zusammenkünften gütig, fröhlich, lustig und erträglich in Worten und Werken sein, auch wie dabei keiner dem Anderen ein ergötzlich Wort für übel aufzunehmen, also soll man sich aller groben, verdrießlichen Reden und Scherzes dabei enthalten.
Fürs Andere, dass man die hochdeutsche Sprache in ihrem rechten Wesen und Stand, ohne Einmischung fremder ausländischer Wörter aufs Möglichste und Tunlichste erhalte und sich sowohl der besten Aussprache im Reden als der reinsten Art im Schreiben und Reimdichten befleißige.“
Sprachbeherrschung und Selbstbeherrschung
Ja, auch um die Sprache geht es! Zwar steigen mit dem Grad der Sprachbeherrschung weder das politische Verständnis noch der menschliche Anstand, doch kann einen das Bemühen um die rechte sprachliche Form immerhin so weit in seiner galoppierenden Rage bremsen, dass die Vernunft die Chance hat, der durchgegangenen Pferde wieder Herr zu werden. Auch wird mitunter der Unsinn eines in Wutfantasien ausschweifenden Gedankenganges deutlich, wenn man gezwungen ist, diesen in das Korsett einer grammatischen Form mit Subjekt, Prädikat, Objekt und passenden Konjunktionen zu zwingen. Schließlich und vor allem aber ist ein bewusster Umgang mit Sprache die Voraussetzung dafür, einen Gedanken klar darlegen zu können. Und nur auf einen klaren Gedanken lässt sich sinnvoll erwidern. So kann eine Diskussion in Gang kommen, die tatsächlich – Frucht bringt.
Halten wir fest: Die Pflege der kommunikativen Umgangsformen im Allgemeinen und der Sprache im Besonderen ist eine im besten Sinne nationale Aufgabe. Sie legt die Grundlage für ein gedeihliches politisches Miteinander, das die Nation als Solidaritätsverbund zu erhalten und zu stärken geeignet ist.
Die Fruchtbringende Gesellschaft von 1617 wurde 1680 aufgelöst; sicher nicht, weil sie ihren Gründungszweck erreicht hatte. 2007 wurde sie in Köthen neu gegründet. Gerade zur rechten Zeit.
Die Internetpräsenz der Neuen Fruchtbringenden Gesellschaft
Kupferstich:
Peter Isselburg: Sitzung der "Fruchtbringenden Gesellschaft". Via Wikimedia Commons.
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