„...Im Namen des Föderalismus, der ihnen als ein Allheilmittel erscheint, wollen die Eliten Europa „neu starten“, indem sie den Völkern auch die Reste von Souveränität nehmen. Aber die Völker widersetzen sich. Es ist eine Sackgasse. Die Völker streben nicht danach zu verschmelzen, nicht danach, um ihre demokratischen Macht gebracht zu werden; sie wünschen, dass Europa ihre Interessen in der multipolaren Rauferei verteidigen möge, und dafür wird bislang nicht genügend getan.“

Hubert Védrine in einem Interview des russischen Fachmagazins „Россия в глобальной политике“  („Rossíja w globálnoi polítike“)


Da hat er recht. Ja, man müsste genau definieren, wer oder was diese Subjekte der „Völker“ und der „Eliten“ sind, man sollte die Verteilung von Meinungen und politischen Werten genauer untersuchen, man könnte erörtern, ob und von wem widersprüchliche Meinungen so auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden dürfen. Aber unser persönlicher, unbeweisbarer Eindruck ist: Védrine hat recht, zumindest was die „Völker“ angeht.

Der Begriff „Europa“ hat keine Strahlkraft, die auch nur im Entferntesten an das heranreichen würde, was wir mit den Namen „Italien“, „Frankreich“, „Deutschland“ verbinden, und was den gemeinschaftlichen Wunsch nach einer politischen und kulturellen „Verschmelzung“ erregen könnte.

Umso weniger annehmbar scheint die Anmutung, um dieses „Europas“ willen die in langen geschichtlichen Kämpfen mühsam eingerichteten demokratischen Kontrollsysteme der Nationalstaaten durch eine Brüsseler Kommissars- und Komitee-Herrschaft aushebeln zu lassen; oder auch durch ein Direktorium von Staats- und Regierungschefs.

Damit soll nicht gesagt sein, dass es nicht gute Gründe geben könnte, in Krisenzeiten kulturelle und politische Grundsatzdebatten zugunsten der Notwendigkeiten des Tages aufzuschieben. Allein „die Völker“, für die seltsamerweise jede Krise völlig unerwartet kommt,  entwickeln das Interesse am Grundsätzlichen immer zur Unzeit, das heißt: zu spät. Über das Für und Wider einer europäischen Fiskalunion hätten wir vor 15 Jahren sprechen sollen; jetzt zwingt Not, wo es an Einsicht fehlte.

Wie auch immer. Nun lehnen aber ja „die Völker“ Europa nicht rundheraus ab, wenn wir Védrine weiter folgen wollen, und auch hier hat er recht. Nein, sie erhoffen auch etwas von Europa; nämlich Schutz vor den Fährnissen der Globalisierung. Die schwindende Macht der europäischen Nationalstaaten ist nicht mehr dazu angetan, uns ein Gefühl der Sicherheit gegenüber profitgierigen Weltkonzernen, vernunftlosen Finanzmärkten, alten und neuen Großmächten zu vermitteln.

Wie wäre es, wenn wir diesmal die Grundsatzdebatte zur rechten Zeit führten, und Integration auf den Feldern suchten, wo Europa in den Augen der Völker tatsächlich etwas leisten soll?

   
Fangen wir mal an: Warum gibt es keine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik, die diesen Namen verdient? Was muss getan werden, um eine solche zu entwickeln?

Warum gibt es keine gemeinsamen europäischen Streitkräfte? Warum gibt es nicht einmal Ansätze, die sich eine militärische Integration ernsthaft als Ziel setzen? Warum verlaufen hier seit zwei Jahrzehnten alle Anstrengungen im Sand? Wie lässt sich das ändern? Kann man die allerorten laufenden Reformprozesse in den nationalen Streitkräften so verzahnen, dass ein großes Ganzes entsteht? Schließlich werden die Streitkräfte sowieso alle umgebaut.

Wie soll die Weltwirtschaft organisiert, wie reguliert sein? Wie erhöht man die Schlagkraft der europäischen Wirtschafts- und Umweltdiplomatie?

Natürlich, es gibt innerhalb Europas auf politischem wie militärischem Gebiet sehr unterschiedliche strategische Kulturen. Aber warum finden nicht wenigstens die Staaten zusammen, die zusammen an einem Seil in die gleiche Richtung ziehen wollen? Es entstünden dann vielleicht vier oder fünf Integrationszentren; ein Europa verschiedener Geschwindigkeiten. Aber das haben wir ohnehin, und sind nicht fünf verschiedene Geschwindigkeiten besser zu koordinieren als 27 verschiedene Geschwindigkeiten, wenn man da von Geschwindigkeit überhaupt sprechen mag? Derzeit beschreiten Frankreich und Großbritannien bilateral den Pfad sicherheitspolitischer und militärischer Zusammenarbeit; das Eingreifen in Libyen ist eine Frucht dieser Bemühungen. Wenn man den interventionistischen Ansatz dieser alten See- und Kolonialmächte nicht teilt, warum gibt es keine alternativ ausgerichteten Integrationsanstrengungen etwa in Mitteleuropa?

Es sind dies Debatten, die nicht zuerst von Politikern zu führen sind. Die sind, mit Verlaub, die Frösche im Sumpf des überkommenen politischen Gefüges. Wenn wir uns nicht von vermeintlichen politischen Sachzwängen nötigen lassen wollen, müssen wir uns mit den Sachen beschäftigen, bevor sie uns zwingen.

Also bevor Wirtschaftspolitik in Europa von chinesischen Investoren, russischen Gasbaronen oder amerikanischen Finanzjongleuren bestimmt wird; bevor große Industriemächte in Übersee beschließen, den Klimawandel einfach auszusitzen; bevor Gesellschaften südlich und östlich von Europa ihre Bürgerkriege zu uns exportieren; bevor atomar bewaffnete Potentaten im Nahen und Mittleren Osten durch militärische Abenteuer an Europas Grenzen von innenpolitischen Problemen abzulenken versuchen; bevor irgendein anderer Weltuntergang absehbar ist...

Wie gesagt: Krisen kommen immer so unerwartet.

 
   

 

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