Warum es Unsinn ist, Beweise für Verbrechen fremder Staaten zu fordern

Thorsten Kleinschmidt, 12. April 2018


Am 4. März 2018 wurde in der englischen Kleinstadt Salisbury ein chemischer Kampfstoff  eingesetzt, um einen ehemaligen russischen Geheimdienstagenten zu ermorden. Schon kurz nach dem Anschlag machte die britische Regierung Russland für die Tat verantwortlich, dessen Vertreter ihrerseits eine Verwicklung heftig bestritten und von einer antirussischen Verschwörung sprachen.

Am 7. April 2018 fand in der syrischen Rebellen-Enklave Duma allem Anschein nach ein Giftgasangriff auf die Zivilbevölkerung statt. Sowohl die US-amerikanische als auch die französische Regierung legten sich schnell auf die Streitkräfte des Assad-Regimes als die Schuldigen fest, während das Regime und das verbündete Russland entweder die Rebellen selbst für die Tat verantwortlich machten oder die Faktizität des Angriffs überhaupt in Frage stellten.

In Deutschland und andernorts lösten die Vorfälle heftige Diskussionen aus, deren Ende nicht abzusehen ist. Viele Kommentatoren kritisieren dabei die schnelle Festlegung der britischen und amerikanischen Regierung auf einen Schuldigen und die darauffolgende schnelle Einleitung von Strafmaßnahmen. Stattdessen fordern die Kritiker zunächst eine eingehende Untersuchung und die Ermittlung von Beweisen für die Täterschaft. Ohne Beweise dürften keine Maßnahmen gegen irgendeine Seite ergriffen werden. Denn es gelte noch immer der Satz: Im Zweifel für den Angeklagten.

Haben die Kritiker recht?

Nein.

Sie verkennen im Kern den fundamentalen Unterschied zwischen der Politik im Inneren eines Staates und der Politik zwischen den Staaten.

 

 

In der internationalen Politik gibt es niemals „Beweise‟

 
Im Inneren eines Staates gibt es ein mehr oder weniger gut funktionierendes Rechtssystem mit Strafverfolgungsbehörden, Gerichten und einem Strafvollzugssystem. Findet hier ein Verbrechen statt, dann setzt sich eine komplizierte Prozedur in Gang, die nach festen Regeln funktioniert. Beweise und Indizien müssen ermittelt werden; dem Beschuldigten muss die Tat nachgewiesen werden, sonst hat er als unschuldig zu gelten; Richter dürfen wegen Befangenheit abgelehnt werden; das Gerichtsverfahren ist in der Regel öffentlich; das mögliche Strafmaß ist gesetzlich festgelegt und so weiter und so fort.

In den internationalen Beziehungen, im politischen Raum zwischen den Staaten gibt es ein solches Rechtssystem nicht! Juristen hören das oft nicht gerne, aber das Völkerrecht ist Recht zweiter Klasse. Weder ist der Prozess der Rechtsetzung streng formalisiert, noch gibt es allgemein anerkannte Gerichte, noch gibt es Strafverfolgungsbehörden in Gestalt einer Weltpolizei, noch gibt es verbindliche Strafenkataloge. Das einzige wirklich garantierte Recht ist das Recht des Stärkeren. Es mag uns nicht gefallen, aber wenn es hart auf hart kommt, ist die internationale Politik nach wie vor ein Krieg aller gegen alle.

Ein Krieg aber ist kein Gerichtsverfahren. Und deshalb sind die Forderungen nach „Beweisen‟ und „neutraler Untersuchung‟ unsinnig. In der internationalen Politik gibt es niemals „Beweise‟.  Es kann sie nicht geben, weil es keine anerkannten Prozeduren gibt, sie zu ermitteln und zu bewerten.
 


Putin in einem englischen Verhörraum?

 
Nehmen wir den Fall des Anschlags in England. Ein ordentliches Ermittlungsverfahren zur Suche nach „Beweisen‟ müsste selbstverständlich die Verdächtigen verhören. Es steht aber nicht in der Macht der britischen Polizei hohe russische Geheimdienstleute oder gar Wladimir Putin in einen südenglischen Verhörraum zu setzen. Weiter müssten britische Ermittler natürlich auf russischem Boden, in russischen Forschungsanlagen und in russischen Geheimdienstarchiven nach Hinweisen auf aktuelle russische Chemiewaffenbestände suchen können, da man sich ja auf die bloße Aussage eines Verdächtigen, er besitze keine Waffe, niemals verlassen sollte.
Die Aufforderung Russlands an die Briten, ihnen eine Probe des Kampfstoffs zur Untersuchung zu überlassen, wäre in einer ordentlichen Ermittlung absurd: Die Polizei kann dem Hauptverdächtigen niemals ihre Beweismittel überlassen – sollte dieser schuldig sein, könnte er sie manipulieren oder zur Vorbereitung seiner Verteidigung verwenden.  
Wenn die Briten oder neutrale Chemiewaffenexperten nun aufgrund ihrer eigenen Untersuchungen zu dem Schluss kämen, das verwendete Nervengift sei mit Sicherheit in Russland hergestellt worden, könnte Russland das einfach wie bisher bestreiten. Dann stünde Aussage gegen Aussage, und ein Gericht, das hier entscheiden könnte, gibt es nicht.

In Syrien und in anderen Fällen liegen die Dinge ähnlich. Der russische Einmarsch in die Ostukraine und auf die Krim hat gezeigt, dass sogar ein offener militärischer Angriff nicht „bewiesen‟ werden kann, wenn der angreifende Staat nur hartnäckig und absurd genug behauptet, dass seine Soldaten „auf eigene Faust und aus privater Initiative‟ mit ihren Panzern im Nachbarland umherführen.

Es ist aufgrund der eigenen Gesetzmäßigkeiten der internationalen Beziehungen prinzipiell nicht möglich, „Beweise‟ für Verbrechen fremder Staaten zu ermitteln. Aus diesem Grund ist es falsch, die Vorlage von „Beweisen‟ zur Vorbedingung für politisches Handeln zu machen.
 


Regierungen müssen auch ohne Beweise handeln

 
Handeln müssen die Regierungen, und das ist der zweite Punkt, in dem die Kritiker falsch liegen. Bleiben wir in England. In vielen Kommentaren wird suggeriert, die britische Premierministerin müsse entweder „Beweise‟ vorlegen oder aber die Dinge auf sich beruhen lassen. Nicht nur das erste, sondern auch das zweite ist schlechterdings nicht möglich.

Die wichtigste Aufgabe einer Regierung zur Außenwelt hin ist seit eh und je die Sicherung von Leben und Wohlstand ihrer Bürger gegen Angriffe aus dem wilden Niemandsland der internationalen Beziehungen. Ein solcher Angriff ist am 4. März erfolgt; möglicherweise sind über 130 Menschen mit einem Kampfstoff in Berührung gekommen, der nach Aussage eines seiner Erfinder auch bei geringer Exposition nach wenigen Jahren den Tod herbeiführt. Und es war nicht der erste solche Angriff. Vor wenigen Jahren wurde bereits Plutonium als Gift-Waffe auf britischem Boden eingesetzt. Was kommt als nächstes? Eine kleine Nuklearexplosion in der Londoner City, weil ein unberechenbarer ostasiatischer Staat meint, ein Hühnchen mit der internationalen Finanzwelt rupfen zu müssen? Solche Fragen muss sich die britische Regierung stellen, und vor allem muss sie auf das hier implizierte Problem eine Antwort finden.
 


Sicherheitspolitik im Krisenfall: Eine Schlägerei vor Publikum

 
Wenn ein Staat angegriffen wird, schaut die ganze Welt aufmerksam zu. Die Verbündeten, weil sie nach Wegen suchen zu helfen; die Unbeteiligten, weil sie aus den Ereignissen lernen möchten; die Gegner, weil sie die Stärke oder Schwäche des angegriffenen Staates abschätzen wollen.

Die Regierung des angegriffenen Staates findet sich so unversehens und gegen ihren Willen in einer Schlägerei vor großem Publikum. Und jetzt muss sie Stärke zeigen, um andere mögliche Herausforderer abzuschrecken. Am besten funktioniert das, indem sie ihren Gegner niederschlägt. Aber auch wenn sie den Gegner gar nicht richtig erkennen kann und die Schläge vielleicht ins Leere gehen, darf sie keinesfalls zweifelnd die Fäuste sinken lassen. Sie muss Kraft und Entschlossenheit demonstrieren, grimmig Luftlöcher schlagen und dabei sogar in Kauf nehmen, aus Versehen einmal einen Unbeteiligten zu treffen. Tut sie das nicht, ermutigt sie den Gegner, noch einmal zuzuschlagen und ermuntert darüber hinaus weitere Übelgesonnene, sich am Kampf gegen sie zu beteiligen.

Mit anderen Worten: Eine Regierung muss energisch, schnell und wehrhaft handeln, wenn das Land angegriffen oder eine andere rote Linie der nationalen Sicherheit übertreten wird. Mit der Suche nach „hieb- und stichfesten Beweisen‟ darf sie sich nicht aufhalten, denn solche kann es nicht geben. Hinreichende Plausibilität oder Wahrscheinlichkeit in Bezug auf den Urheber müssen ausreichen, und was hier „hinreichend‟ ist, muss die Regierung selbst bestimmen, denn niemand sonst kann das tun.

Das schließt Besonnenheit nicht aus. Es ist aber niemals Zeichen eines kühlen Kopfes, nach einem Schlag resigniert auch die andere Wange hinzuhalten. Denn dann entsteht der Eindruck von Wehrlosigkeit, und der ermutigt andere Konkurrenten dazu, es doch auch einmal mit Drohungen oder Gewalt zu versuchen. Aber auch der besonnenste Staatenlenker kann niemals sicher sein, ob er die Lage richtig einschätzt, und ob seine Reaktionen die Ergebnisse zeitigen werden, die er erhofft.

Politisches Handeln ist immer Handeln unter Unsicherheit. Sogar und gerade in Fragen von Krieg und Frieden. Das ist beunruhigend, denn falsche Entscheidungen sind hier fatal. Gar keine Entscheidungen zu treffen, ist allerdings noch schlechter. Denn in dem Fall entscheiden nur noch die Anderen: die Menschenvergifter und Gasabwerfer.


 

Thorsten Kleinschmidt, 12. April 2018

 

 

 

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